Lyme-Neuroborreliose
Englisch: Lyme neuroborreliosis
Definition
Als Lyme-Neuroborreliose, kurz LNB, bezeichnet man die Beteiligung des Nervensystems im Rahmen einer Infektion mit Spirochäten aus dem Borrelia-burgdorferi-sensu-lato-Komplex.
siehe auch: Lyme-Borreliose (Übersichtsartikel)
Epidemiologie
Die Lyme-Neuroborreliose ist in Europa die häufigste bakterielle Entzündung des Nervensystems. Die jährliche Inzidenz liegt bei etwa 3–12 Fällen pro 100.000 Einwohner, mit den höchsten Raten in Süddeutschland, Österreich, der Schweiz und Skandinavien.[1][2]
Etwa 5–15 % aller Patienten mit Lyme-Borreliose entwickeln eine neurologische Manifestation.[3] Typisch sind zwei Altersgipfel: Kinder im Schulalter und Erwachsene zwischen 50 und 70 Jahren. Bei Kindern überwiegen Frühformen mit Fazialisparese und lymphozytärer Meningitis. Erwachsene zeigen meist Meningo-Polyradikulitiden (Bannwarth-Syndrom), die oft mit einer Fazialisparese kombiniert sind, und entwickeln im Vergleich häufiger späte ZNS-Formen wie Enzephalomyelitis oder Myelitis.
Erreger
Die Lyme-Neuroborreliose wird durch Spirochäten aus dem Borrelia-burgdorferi-sensu-lato-Komplex verursacht. Dieser umfasst mehrere humanpathogene Arten, die regional unterschiedlich verbreitet sind. In Europa sind vor allem Borrelia garinii (gilt am stärksten neurotrop) und Borrelia afzelii (eher kutane Manifestation) von Bedeutung.
Pathogenese
Nach einem Zeckenstich gelangen die Borrelien über die Haut in den Blutkreislauf und verbreiten sich hämatogen im Organismus. Die Neuroinvasion erfolgt laut Studien vermutlich über zwei Wege:
- einerseits durch hämatogene Dissemination mit anschließender Penetration der Blut-Liquor-Schranke
- andererseits entlang peripherer Nervenfasern über die Nervenwurzeln
Innerhalb des ZNS binden die Spirochäten an Endothelzellen, Astrozyten und Neurone und lösen eine lokale Immunaktivierung aus.[4] Im Liquor und Nervengewebe zeigt sich eine lymphozytäre Entzündung mit dominanter Beteiligung von CD4⁺- und CD8⁺-T-Zellen sowie Plasmazellen. Die Immunantwort führt zu einer intrathekalen Antikörperproduktion und zur Freisetzung proinflammatorischer Zytokine, insbesondere CXCL13, das als Marker der B-Zell-Aktivierung gilt.[5]
Die persistierende Immunaktivierung kann bei unzureichender Eradikation zu einer persistierenden Entzündungsreaktion führen, die v.a. Meningen, Spinalwurzeln und Hirnnerven betrifft und für die typischen klinischen Manifestationen verantwortlich ist.
Klinisches Bild
Die Lyme-Neuroborreliose kann sowohl das periphere als auch das zentrale Nervensystem betreffen. Man unterscheidet eine frühe und späte Form.
Frühe Neuroborreliose
Sie tritt Wochen bis wenige Monate nach der Infektion auf und macht den größten Teil der Fälle aus.
- Meningo-Polyradikulitis (Bannwarth-Syndrom): typisch sind brennende oder stechende radikuläre Schmerzen, die nachts zunehmen, häufig kombiniert mit sensomotorischen Ausfällen und einer Fazialisparese
- Lymphozytäre Meningitis: besonders bei Kindern; mit Kopfschmerzen, Nackensteife und Liquorpleozytose ohne ausgeprägte neurologische Herdsymptomatik
- Kraniale Neuritiden: vor allem Fazialisparesen, ein- oder beidseitig; auch andere Hirnnerven (Nervus abducens, Nervus vestibulocochlearis) können betroffen sein
Späte Neuroborreliose
Sie entwickelt sich Monate bis Jahre nach der Primärinfektion und ist heute selten.
- Enzephalomyelitis: subakuter Verlauf mit Ataxie, spastischer Parese, kognitiver Verlangsamung oder psychiatrischen Symptomen
- Myelitis: segmentale Paresen, sensible Ausfälle und Blasenstörungen; MRT-Untersuchung kann längerstreckige ausgedehnte Läsionen zeigen
- Chronische Meningitis: persistierende Kopfschmerzen und Nackensteife über Monate, oft mit leichter Liquorpleozytose
Zerebrovaskuläre Manifestation
Sehr selten (< 1 %) kann eine borrelien-assoziierte zerebrale Vaskulitis auftreten. Sie beruht auf einer entzündlichen Gefäßbeteiligung kleiner bis mittelgroßer Arterien. Besonders häufig betroffen sind das vertebrobasiläre Stromgebiet, Hirnstamm und Kleinhirn, wo sich in der MRT multiterritoriale ischämische Läsionen und Zeichen einer vaskulitischen Kontrastmittelaufnahme der Gefäßwand finden. Klinisch treten rezidivierende Schlaganfälle unklarer Genese auf, oft begleitet von Kopfschmerzen, kognitiven Defiziten oder Gangstörungen.
Diagnostik
Die Basisdiagnostik ist im Übersichtsartikel beschrieben (siehe: Lyme-Borreliose).
Für die Neuroborreliose-spezifische Diagnosestellung gelten die Kriterien der European Federation of Neurological Societies, die auch in der deutschen Leitlinie Anwendung finden.[6]
| Kategorie | Kriterien |
|---|---|
| Mögliche Neuroborreliose | Typisches neurologisches Krankheitsbild (z.B. Fazialisparese, Meningo-Polyradikulitis, Myelitis), kein Hinweis auf andere Ursache |
| Wahrscheinliche Neuroborreliose | Typisches klinisches Bild und lymphozytäre Pleozytose und Nachweis borrelienspezifischer Antikörper im Serum |
| Definitive Neuroborreliose | Typisches klinisches Bild und entzündlicher Liquor und intrathekale borrelienspezifische Antikörperproduktion (AI ≥ 1,5) oder direkter Erregernachweis (PCR, Kultur) |
Differenzialdiagnosen
Die Symptome der Neuroborreliose sind unspezifisch und können verschiedenen anderen neurologischen Erkrankungen ähneln. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen richten sich nach der jeweiligen Manifestationsform.
| Manifestationsform | Differenzialdiagnosen |
|---|---|
| Fazialisparese | |
| Meningo-Polyradikulitis | |
| Lymphozytäre Meningitis |
|
| Myelitis |
|
| Enzephalitis |
|
| Zerebrovaskuläre Form |
|
Therapie
Die Behandlung zielt auf die Eradikation der Borrelien im Nervensystem ab. Glukokortikoide oder andere Immunsuppressiva werden nicht empfohlen.
| Verlaufsform | Wirkstoff/Dosierung | Dauer |
|---|---|---|
| Frühe Formen (z. B. Fazialisparese, Meningo-Polyradikulitis) | Doxycyclin 200 mg/Tag p.o. oder Ceftriaxon 2 g/Tag i.v. | 14 Tage |
| Späte oder schwere Formen (z. B. Myelitis, Enzephalitis) | Ceftriaxon 2 g/Tag i.v. oder Cefotaxim 3×2 g i.v. oder Penicillin G 4×5 Mio. IE i.v. | 14–21 Tage |
| Kinder | Doxycyclin 4 mg/kg (≤ 200 mg/Tag) oder Ceftriaxon 50–80 mg/kg (≤ 2 g/Tag) | 14 Tage |
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Eine Therapieverlängerung über 21 Tage hinaus ist nicht sinnvoll. Serologische Verlaufskontrollen sind ungeeignet. Eine erneute Antibiotikagabe ist nur bei gesichertem Therapieversagen zu erwägen.
Prognose
Die Prognose ist bei frühzeitiger Therapie sehr gut. Die Symptome bilden sich meist innerhalb weniger Wochen zurück. Neurologische Residuen können jedoch über Monate bestehen. Rezidive sind selten.
Persistierende Beschwerden nach abgeschlossener Behandlung (Post-Lyme-Syndrom) beruhen nach aktueller Datenlage nicht auf einer aktiven Infektion, sondern auf funktionellen oder immunologischen Mechanismen.
Leitlinie
- S3-Leitlinie Neuroborreliose. Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, Stand 2024
Quellen
- ↑ Enkelmann J et al. Incidence of notified Lyme borreliosis in Germany, 2013–2017. Scientific Reports 2018
- ↑ Dahl V et al. Lyme neuroborreliosis epidemiology in Sweden, 2010–2014. Euro Surveillance 2019
- ↑ Radzišauskienė D et al. Clinical and epidemiological features of Lyme neuroborreliosis in adults and factors associated with polyradiculitis, facial palsy and encephalitis or myelitis. Scientific Reports 2023
- ↑ Ford L, Tufts D M. Lyme neuroborreliosis: mechanisms of Borrelia burgdorferi infection of the nervous system. Brain Sciences. 2021
- ↑ Rupprecht TA et al. Diagnostic value of cerebrospinal fluid CXCL13 for acute Lyme neuroborreliosis: a systematic review and meta-analysis. Clinical Microbiology and Infection. 2018
- ↑ Mygland A et al. EFNS guidelines on the diagnosis and management of European Lyme neuroborreliosis. European Journal of Neurology 2010