Hämolytische Anämie
Englisch: h(a)emolytic an(a)emia
Definition
Die hämolytische Anämie ist eine Form der Blutarmut (Anämie), die durch einen erhöhten bzw. vorzeitigen Zerfall von Erythrozyten (Hämolyse) bedingt ist.
ICD-10-Codes
- D55.- Anämie durch Enzymdefekte
- D56.- Thalassämie
- D57.- Sichelzellkrankheiten
- D58.- Sonstige hereditäre hämolytische Anämien
- D59.- Erworbene hämolytische Anämien
- P55.- Hämolytische Krankheit beim Fetus und Neugeborenen
- P58.- Neugeborenenikterus durch sonstige gesteigerte Hämolyse
Klassifikation
Hämolytische Anämien lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen. Die gängige Einteilung der hämolytischen Anämien unterscheidet nach dem Zeitpunkt des Auftretens zwischen angeborenen und erworbenen hämolytischen Anämien.
Weiterhin kann man hämolytische Anämien nach ihrer Ursache einteilen. Dabei unterscheidet man, ob die Hämolyse durch Defekte der Erythrozyten selbst ("korpuskuläre hämolytische Anämie") oder durch äußere Faktoren ("extrakorpuskuläre hämolytische Anämie") entsteht. Die beiden Klassifikationen werden in der folgenden Tabelle zusammengeführt:
Pathophysiologie
Die normale Überlebenszeit von Erythrozyten beträgt rund 120 Tage. Dabei erfolgt 85 % des physiologischen Abbaus der Erythrozyten extravaskulär im retikulohistiozytären System (RHS), insbesondere in der Milz. Bei zunehmender pathologischer Hämolyse werden die Erythrozyten jedoch auch in Leber und Knochenmark abgebaut. Wenn die Kapazität des RHS überschritten wird oder bei sehr rascher Hämolyse kommt es auch intravaskulär zu einem Erythrozytenzerfall. Entsprechend unterscheidet man
- Extravasale Hämolyse: Abbau im RHS bzw. in der Milz. Beispielsweise bei korpuskulären hämolytischen Anämien (Thalassämie, Sichelzellanämie, Sphärozytose, Elliptozytose) oder Lebererkrankungen
- Intravasale Hämolyse: Abbau im Gefäßsystem. Beispielsweise bei mechanischer Zerstörung, mikroangiopathischer hämolytischer Anämie, Sepsis, PNH, Glukose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel, Fehltransfusionen, toxischer Schädigung, paroxysmaler Kältehämoglobinurie
Medikamentös induzierte Immunhämolysen können sowohl intravasal als auch extravasal auftreten.
Bei intravasaler Hämolyse wird das freiwerdende Hämoglobin an Haptoglobin gebunden. Wenn die Bindungskapazität von Haptoglobin erschöpft ist, tritt freies Hämoglobin im Plasma auf, welches zu Hämatin umgewandelt und mittels Hämopexin zum RHS transportiert wird. Freies Hämoglobin im Blut reduziert die Verfügbarkeit von NO mit nachfolgender Dysregulation der glatten Muskulatur.
Verlauf
Je nach Geschwindigkeit des Hämoglobinabfalls unterscheidet sich der Zustand des Patienten. Dies erklärt das breite Spektrum zwischen subklinischen Verläufen und lebensbedrohlichen Notfällen.
Chronische Hämolyse
Eine chronische Hämolyse zeigt sich als kompensierte Hämolyse oder als hämolytische Anämie. Bei der kompensierten Hämolyse entsteht aufgrund der reaktiv gesteigerten Erythropoese keine Anämie. Reichen die Kompensationsmechanismen nicht mehr aus, entsteht eine hyperregeneratorische Anämie. Typische Symptome der chronischen Hämolyse sind:
- Allgemeine Anämiesymptome: Abgeschlagenheit, Leistungsminderung, Müdigkeit, Kopfschmerz, Belastungsdyspnoe, Tachykardie, Schwindel
- Ikterus
- Splenomegalie (außer bei Sichelzellkrankheit)
- Hepatomegalie in einigen Fällen
- Thromboseneigung
- Pigment-Gallensteine
- Selten und insbesondere bei der Thalassämie kann die Überaktivität des Knochenmarks zu Skelettveränderungen führen (z.B. Facies thalassaemica)
Passagere aplastische Krise
Eine Parvovirus-B19-Infektion kann bei chronischer Hämolyse durch Befall roter Vorläuferzellen zu passageren aplastischen Krisen führen. Dieser Verlust der Kompensationsfähigkeit des Knochenmarks kann auch bei anderen akuten Infektionen, in der Schwangerschaft, bei Folsäuremangel oder bei Niereninsuffizienz mit inadäquater EPO-Produktion auftreten.
Hämolytische Krise
Eine hämolytische Krise ist eine Notfallsituation. Sie kann spontan (z.B. durch einen Transfusionszwischenfall) oder als Exazerbation einer chronischen Hämolyse entstehen. Sie manifestiert sich mit:
- Fieber, Schüttelfrost
- schnellem Hb-Abfall mit Ikterus und Hyperbilirubinämie
- Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen
- Hämoglobinurie (bräunlicher Urin) mit dem Risiko eines akuten Nierenversagens
Freies Hämoglobin im Blut führt zu Dysphagie, abdominellen Beschwerden, erektiler Dysfunktion, pulmonaler Hypertonie und Thromboseneigung.
Eisenhaushalt
Der erhöhte Erythrozytenumsatz hat Einfluss auf den Eisenhaushalt. Zwar wird das Eisen von abgebauten Erythrozyten im normalen Stoffwechsel effizient wiederverwertet, jedoch kann bei chronischer intravasaler Hämolyse die persistierende Hämoglobinurie zum Eisenverlust führen. Bei chronischer extravaskulärer Hämolyse kann es umgekehrt zur Eisenüberladung kommen, insbesondere wenn wiederholte Bluttransfusionen notwendig sind. Diese Hämosiderose (sekundäre Hämochromatose) führt unter anderem zur Leberzirrhose und zur Herzinsuffizienz.
Diagnose
Anämie
Hämolytische Anämien zeigen neben einem Abfall der Hämoglobin-Konzentration meist normwertige MCH- und MCV-Werte, weshalb sie zu den normochromen normozytären Anämien gezählt werden. Eine Ausnahme stellt die Thalassämie dar, die sich meist als mikrozytäre hypochrome Anämie manifestiert. Auch kommt es mitunter zur Ausbildung einer makrozytären Anämie. Typischerweise sind die Anämieparameter bei einer hämolytischen Anämie wie folgt verändert:
- Serumeisen ↑
- Ferritin ↑
- Transferrin normal oder ↓
- Transferrinsättigung normal oder ↑
Erythrozytenmorphologie
Die Erythrozytenmorphologie bei hämolytischer Anämie kann sehr variabel sein. Sichelzellen zeigen eine Sichelzellkrankheit an, Fragmentozyten entstehen z.B. infolge intravasaler Hämolyse oder mechanischer Schädigung. Weitere Formvarianten sind unter anderem Sphärozyten. Bei einigen hämolytischen Anämien können auch Heinz-Körper vorkommen.
Hämolyseparameter
Typische Hämolysezeichen sind:
- Haptoglobin ↓
- LDH und HBDH ↑
- AST
- Serumeisen ↑
- indirektes Bilirubin ↑ und Urobilinogenurie
- Zeichen einer reaktiv erhöhten Erythropoese (bei intaktem Knochenmark):
- Retikulozytose (daher Erhöhung von MCV und MCH)
- RPI > 3 (hyperregeneratorische Anämie)
- G-E-Index im Knochenmark verschiebt sich zugunsten der Erythropoese
Bei hämolytischer Krise und/oder intravasaler Hämolyse ist der Abfall von Haptoglobin der empfindlichste Parameter. Bei artifizieller Hämolyse durch falsche Abnahmetechnik bleibt der Haptoglobinwert im Normbereich. Da es ein Akute-Phase-Protein ist, kann es bei Infektionen, Entzündungen und Tumoren erhöht sein kann. Eine angeborene Verminderung von Haptoglobin kann selten aufgrund einer kongenitalen Hypo- oder Ahaptoglobinämie auftreten. Eine Verminderung von Hämopexin beginnt erst, sobald Haptoglobin unter die Messbarkeitsgrenze abgefallen ist.
Bei einem Hämoglobingehalt des Serums von 500 mg/l ist dieses gelbrötlich gefärbt. Weiterhin färbt sich bei intravasaler Hämolyse der Urin bräunlich (Hämoglobinurie).
Ursachenabklärung
Die ätiologische Einordnung der hämolytischen Anämie ist zwingend notwendig und erfolgt beispielsweise mittels Coombs-Test oder Bestimmung von Kälteagglutininen.
Goldstandard
Als Goldstandard gilt die nuklearmedizinische Bestimmung der verkürzten Erythrozytenüberlebenszeit mit 51Cr-Na-Chromat-markierten Erythrozyten. Diese Methode ist jedoch keine Routinediagnostik und daher nur in wenigen Zentren verfügbar.
Differenzialdiagnostik
Anämie
Eine hämolytische Anämie muss vom myelodysplastischen Syndrom sowie von megaloblastären und aplastischen Anämien abgegrenzt werden.
Ikterus
Bei einer Hämolyse wird der entstehende Ikterus auch als prähepatisch bezeichnet. Differenzialdiagnostisch kommen intrahepatische (Parenchymikterus) und posthepatische Formen (Verschlussikterus) in Frage. Zur ersten Einschätzung dient der LDH/AST-Quotient:
- LDH/AST > 12: Hämolyse
- LDH/AST < 12: Leber- oder Gallenwegserkrankung
Außerdem beträgt das Gesamtbilirubin bei reiner Hämolyse fast nie mehr als das Fünffache der Norm. Hilfreich kann des Weiteren der LDH/HBDH-Quotient sein.
Die genauere Differenzierung gelingt unter anderem über Analyse von Bilirubin im Serum und Urin:
Hämolyse | Verschlussikterus | Parenchymikterus | |
---|---|---|---|
Indirektes Bilirubin im Serum | ++ | (+) | + |
Direktes Bilirubin im Serum | - | ++ | + |
Bilirubin im Urin | - | ++ | + |
Urobilinogen im Urin | ++ | - | + |
Stuhlfarbe | Dunkel | Farblos | Normal bis hell |
Therapie
Die Behandlung ist grundsätzlich abhängig von der Ursache. Bei korpuskulären Formen kann zum Beispiel eine Splenektomie hilfreich sein. Bei einigen Erkrankungen kann eine allogene Stammzelltransplantation als kurative Therapie dienen. Hämolytische Anämien, die durch Autoantikörper ausgelöst werden, können auf Glukokortikoide ansprechen.
Bei hämolytischen Anämien, die auf einem Pyruvatkinase-Mangel beruhen, kann Mitapivat gegeben werden.
Literatur
- Suttorp N. et al., Harrisons Innere Medizin, Hrsg. 19. Auflage. Berlin: ABW Wissenschaftsverlag; 2016
- Herold, G.: Innere Medizin 2019. Köln: Gerd Herold, 2018
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