Hämolytisch-urämisches Syndrom
Synonyme: HUS, Gasser-Syndrom
Englisch: hemolytic uremic syndrome
Definition
Das hämolytisch-urämische Syndrom, kurz HUS, ist eine seltene, postinfektiöse Erkrankung der Endothelzellen. Es zählt wie die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura zu den thrombotischen Mikroangiopathien. Das Syndrom ist durch die Symptomtrias aus mikroangiopathischer hämolytischer Anämie, Thrombozytopenie und akutem Nierenversagen mit Urämie charakterisiert.
ICD10-Code: D59.3
Geschichte
Die Erstbeschreibung des Syndroms erfolgte 1955 durch den schweizer Kinderarzt und Hämatologen Conrad Gasser und seine Kollegen.
Epidemiologie
Die Inzidenz des HUS wird in Mitteleuropa auf 1 bis 1,5 Fälle pro 100.000 Patienten unter 16 Jahren geschätzt. Obwohl das Syndrom in jedem Lebensalter auftreten kann, liegt der Erkrankungsgipfel zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr. In Deutschland ist das HUS die häufigste Ursache für ein akutes Nierenversagen im Kindesalter.
Im Jahre 2011 gab es in Deutschland ein gehäuftes Auftreten des hämolytisch-urämischen Syndroms mit 855 nachgewiesenen Erkrankten, von denen 35 (4,1 %) verstarben.[1]
Ursachen
Zu unterscheiden sind infektiöse und nichtinfektiöse Formen des hämolytisch-urämischen Syndroms.
Infektiöse Form
Am häufigsten tritt das hämolytisch-urämische Syndrom postinfektiös nach einer (meist blutigen) Gastroenteritis mit Shigatoxin (Stx, Verotoxin) bildenden Keimen auf. Bekannte Erreger sind hierbei EHEC (Subtyp von Escherichia coli) der Serogruppe O157:H7, verotoxinproduzierende Shigellen (insbesondere Shigella dysenteriae), Salmonellen, Yersinien und Campylobacter-Arten. Neben Durchfallerregern können in seltenen Fällen auch bestimmte neuraminidasebildende Pneumokokken Auslöser sein. Ebenfalls seltene infektiöse Auslöser sind Viren (Coxsackie-Virus, Varizella-Zoster-Virus, Echovirus, HIV).
Das typische (durch das Shigatoxin "Stx" ausgelöste) HUS wird auch als "STEC-HUS" (für Shiga-Toxin bildende Escherichia Coli) bezeichnet.
Nicht-infektiöse Form
- Medikamente
- Cobalamin-C-Mangel[2]
- Schwangerschaft (z.B. bei HELLP-Syndrom) bzw. postpartales HUS
- Hereditäre Formen
- Mutation der Diacylglycerolkinase-ɛ (DGKE)[3]
- Störung von Faktor H
- Sekundär im Rahmen anderer Grunderkrankungen (z.B. bei SLE oder nach Knochenmarkstransplantation)
Treten zerebrale Symptome hinzu, handelt es sich in der Regel um eine thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP, Moschcowitz-Syndrom) mit petechialen Blutungen und Thrombosenbildung in der Mikrozirkulation. In diesen Fällen ist regelhaft eine gestörte Funktion (familiär oder durch Autoantikörper) des ADAMTS-13-Proteins nachweisbar, das als Protease für die Spaltung und somit Regulation des von-Willebrand-Faktors zuständig ist.
Einteilung
Eine klinische Einteilung erfolgt nach auftretender Symptomkonstellation in:
- Komplettes HUS (Hämolyse, Urämie, Thrombopenie)
- Inkomplettes HUS (nur zwei der drei Symptome)
Zudem werden differenziert:
- Infektiöses HUS ("STEC-HUS")
- Komplement-vermitteltes HUS
- Medikamentös-toxisches HUS
- Familiäres HUS
Pathophysiologie
Zentraler Pathomechanismus des HUS ist die Endothelschädigung, die zu einem übermäßigen Verbrauch von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten führt. Die beschriebenen Toxine binden dabei an den Membranrezeptor Globotriaosylceramid (Gb3) auf der Oberfläche der Endothelzellen in den Glomeruli.[4] Hierdurch kommt es zur Aktivierung einer Signalkaskade, an deren Ende die Apoptose der Endothelzellen steht.
Wohl durch Freilegung subendothelialer Proteine kommt es zu einer Aktivierung der Gerinnungskaskade und schlussendlich zur thrombotischen Verlegung der Gefäße sowie zur Hämolyse.[5] Die disseminierten Thrombosen führen bei Nierenbeteiligung zur Schädigung der Nierengefäße und dadurch zu einer Nierenfunktionseinschränkung. In der Folge sammeln sich harnpflichtige Substanzen im Blut an (Urämie). Gänzlich verstanden ist der Pathomechanismus jedoch bis heute (2021) nicht.
Klinik
Meist geht dem HUS - insbesondere dem STEC-HUS - eine mehrere Tage andauernde, blutige Gastroenteritis voraus. Durch die Infektion, Hämolyse und die Thrombozytenaktivierung kommt es unter anderem zu:
- Fieber
- Blässe
- Tachykardie
- Lethargie
- Ikterus
- Hepatosplenomegalie
- Petechien, blutigem Stuhl oder Urin
- Hypertonie
Komplikationen
Mögliche Komplikationen eines HUS sind unter anderem:
Diagnostik
Labor
Die Diagnose eines hämolytisch-urämischen Syndroms stützt sich auf folgende Befunde:
- Anämie (häufig unter 8 g/dl)
- Hämolyse (Haptoglobin, LDH, erhöhten Retikulozyten, Bilirubin, Fragmentozyten im peripheren Blutausstrich)
- Thrombozytopenie (häufig unter 60.000)
- Erhöhte Retentionswerte (eher Harnstoff als Kreatinin)
- Metabolische Azidose mit erhöhtem Kalium sowie erniedrigtem Natrium und Kalzium.
- Proteinurie (Albuminurie) und Erythrozyturie, eventuell Leukozyturie (falls keine Anurie vorliegt)
Die Gerinnungsparameter PTT und INR sind im Normbereich, AT-III ist oft erniedrigt, D-Dimere können nicht nachgewiesen werden (Ausschluss DIC), der Coombs-Test ist negativ (Ausschluss AIHA).
Ein Nachweis von EHEC aus Stuhl sollte versucht werden. Ebenso bei Verdacht die Suche nach anderen möglichen infektiösen Ursachen.
Bildgebung
Die sonographische Untersuchung der Nieren zeigt vergrößerte Nieren mit deutlich erhöhter Echogenität im Bereich der Nierenrinde bei echoarmen Markkegeln.
Differentialdiagnosen
Bei Verdacht auf ein hämolytisch-urämisches Syndrom muss unbedingt die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura ausgeschlossen werden, da eine verzögerte Therapie letzterer mit einer hohen Letalität einher geht.
Weitere Differentialdiagnosen stellen akute Glomerulonephritiden, andere hämolytische Anämien sowie die beidseitige Nierenvenenthrombose dar.
Therapie
Aktuell (2022) steht als kausale Therapie des HUS lediglich die kombinierte Leber- und Nierentransplantation zur Verfügung. Die Therapie unterteilt sich deshalb in supportive Maßnahmen sowie spezifische Therapiemöglichkeiten. Über 80 % der Fälle heilen bei supportiver Therapie aus.
Flüssigkeitsbilanzierung und Blutdruckkontrollen
Die Flüssigkeitszufuhr wird überwacht und bilanziert (keine Überwässerung!). Ferner werden die Elektrolyte engmaschig kontrolliert und balanciert - vor allem Kalium. Bei persistentem Nierenversagen sollte eine Dialyse nicht herausgezögert werden, da die meisten Patienten von einer frühzeitigen und ausreichenden Dialyse profitieren.
Transfusionen
Nach aktuellen Leitlinien wird unabhängig vom Alter, der klinischen Symptomatik sowie der Dynamik des Hb-Abfalls eine Transfusion von Erythrozytenkonzentraten ab einem Hämoglobinwert (Hb) unter 5-7 g/dl empfohlen. Zu beachten sind hierbei die potentielle Zunahme der Hämolyse sowie die Volumenüberladung. Eine Transfusion von Thrombozytenkonzentraten ist nur bei schweren Blutungen oder vor größeren Eingriffen indiziert.[6]
Antibiotika
Die Anwendung von Antibiotika ist nach aktuellen Leitlinien (11/2016) bei nachweislichem Vorliegen einer Infektion mit EHEC (= STEC-HUS) nicht indiziert. Insbesondere für nicht ausreichend hoch dosierte Gaben von Cotrimoxazol und Ciprofloxacin ist eine Steigerung der Expression pathogenetisch entscheidender bakterieller Toxine (Shiga-like-Toxine) beschrieben. Für an der bakteriellen Zellwand angreifende Antibiotika ist dieser Effekt nicht beschrieben (z.B. Cefotaxim, Ceftriaxon). Experimentell konnte durch die Gabe des Makrolids Azithromycin die Produktion des Shiga-like-Toxins gesenkt werden, obwohl die produzierenden Bakterien durch das Antibiotikum nicht eliminiert werden.
Bei der seltenen Unterform des Pneumokokken-HUS ist eine rasche, zielgerichtete Antibiotikatherapie indiziert.
Glukokortikoide
Die Anwendung von Glukokortikoiden ist umstritten, wird jedoch in vielen Therapien durchgeführt. Kontraindiziert sind Thrombozytenkonzentrate. Sie provozieren Organschäden (Bildung von Immunkomplexen).
Plasmapherese
Bei therapierefraktären Fällen und Auftreten eines TTP ist eine Plasmapherese mit Austausch von Plasma durch gefrorenes Frischplasma (FFP) anzustreben. In diesem Rahmen ist auch die Wirksamkeit von ASS beschrieben, es reduziert die Bildung bestimmter Prostaglandine (Thromboxan A2), dadurch werden Thrombosen durch Aggregation verhindert und die Zeit der Thrombopenie verkürzt.
Eculizumab
Seit 2011 ist Eculizumab zur Behandlung des Komplement-vermittelten HUS zugelassen. Dieser monoklonale Antikörper wird normalerweise zu Behandlung der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie eingesetzt. Er blockiert das Komplementsystem und verhindert dadurch die Hämolyse.
Ein therapeutischer Nutzen beim klassischen STEC-HUS wurde bisher nicht nachgewiesen.
Sonstige
Der Einsatz spezieller, gentechnologisch hergestellter Antikörper, die bei EHEC-bedingtem HUS das Shigatoxin neutralisieren, ist zur Zeit (2017) Gegenstand der klinischen Forschung.
Als Ultima ratio kann bei Versagen der Therapien, insbesondere bei nichtinfektiösen Formen des HUS mit generell schlechterer Prognose und häufigerem Übergang in die terminale Niereninsuffizienz eine Hämodialyse oder Nierentransplantation erforderlich werden. Letztere ist bei terminal niereninsuffizienten Patienten nach STEC-/ bzw. Pneumokokken-HUS Therapie der Wahl.
Prognose
Wird die Erkrankung rechtzeitig diagnostiziert und stehen alle therapeutischen Möglichkeiten zur Verfügung, enden weniger als 5 % der akuten Fälle letal (Letalität der Epidemie in Deutschland 2011: 4,1 %). Bei Kindern beträgt der Anteil der Patienten, der die volle Funktionsfähigkeit der Nieren zurück erlangt, rund 70 %. Oft zeigen sich auch noch mehrere Jahre nach der Erkrankung Folgeschäden wie eine arterielle Hypertonie oder eine chronische Niereninsuffizienz.
Quellen
- ↑ RKI - Abschlussbericht EHEC O104:H4 Ausbruch, Deutschland 2011
- ↑ Sharma et al. Hemolytic uremic syndrome (HUS) secondary to cobalamin C (cblC) disorder, Pediatric Nephrology, 2007
- ↑ Lemaire M et al. Recessive mutations in DGKE cause atypical hemolytic-uremic syndrome, Nat Genet, 2013, PMID 23542698
- ↑ Mitchell A et al. Shiga Toxin 2 Targets the Murine Renal Collecting Duct Epithelium, Infect Immun., 2009
- ↑ Fadila et al. Shiga Toxin 2 and Lipopolysaccharide Induce Human Microvascular Endothelial Cells To Release Chemokines and Factors That Stimulate Platelet Function, Infect Immun. 2005
- ↑ S2k-Leitlinie: Hämolytisch-urämisches Syndrom im Kindesalter, Stand 11/2016
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