Inzidenz
von lateinisch: incidere - vorfallen
Englisch: incidence
Definition
Die Inzidenz ist ein Ausdruck aus der medizinischen Statistik, der die Häufigkeit von Neuerkrankungen beschreibt. Unter Inzidenz versteht man die Anzahl neu aufgetretener Krankheitsfälle innerhalb einer definierten Population in einem oder bezogen auf einen bestimmten Zeitraum.
Der Begriff "Inzidenz" wird darüber hinaus auch generell als Maß für die Häufigkeit eines bestimmten Merkmals bzw. Ereignisses verwendet.
Verwendung von Jahresdaten
Wie in der Medizin üblich, werden Inzidenzen in der hier vorliegenden Erläuterung auf Jahresdaten bezogen. Andere Periodizitäten (Monatswerte, Vierteljahreswerte) wären grundsätzlich ebenfalls möglich. Eine Population (z.B. Bevölkerung in Deutschland, eine bestimmte Stichprobe oder beobachtete Probanden eines medizinischen Projekts) wird in einem Zeitraum J (z.B. J = 1991-1995) von j Jahren (z.B. j = 5 Jahren im soeben genannten Beispielszeitraum) betrachtet.
Kumulative Inzidenz
Die
- kumulative Inzidenz KIJ in einem Zeitraum J
berechnet man für eine definierte Krankheit (z.B. Lungenkrebs) und eine definierte Population, indem man den Anteil der Personen, die in einem bestimmten Zeitraum J neu erkranken, durch die Anzahl der Personen unter Risiko der Population zu Untersuchungsbeginn teilt. Es gilt also:
wobei:
- NJ = Anzahl neu aufgetretener Krankheitsfälle im Zeitraum J
- P0 = Gesunde Personen der Population (Personen unter Risiko) zu Beginn von J
Beispiel
Von einer Population, die anfangs 1.000 bezogen auf die untersuchte Krankheit gesunde Personen (P0) umfasst, erkranken im Beobachtungszeitraum J von 5 Jahren insgesamt 65 Personen (NJ). Die kumulative Inzidenz (KIJ) beträgt dann 6,5 %.
Inzidenzrate
Die über den Zeitraum J ermittelte
- Inzidenzrate IR
(auch: Inzidenzdichte) bezeichnet den Anteil der Personen, die in einem bestimmten Zeitraum J neu erkranken, dividiert durch die Summe der Personenzeiten unter Risiko im Zeitraum J. Es gilt also:
wobei:
- MJ = Anzahl neu aufgetretener Krankheitsfälle im Zeitraum J
- ZJ = Summe der Personenzeiten unter Risiko im Zeitraum J (Gesamt-Risikozeit)
Häufig wird die Gesamt-Risikozeit durch (annähernd) dargestellt, wobei PØ die durchschnittliche Anzahl der Personen pro Jahr unter Risiko bezeichnet.[1] Auf diese Weise gelangt man zu der Formel:
mit dem Durchschnitt der neu aufgetretenen Krankheitsfälle pro Jahr . IR ist also der Quotient aus dem Durchschnitt der neu aufgetretenen Krankheitsfälle pro Jahr und der durchschnittlichen Anzahl der Personen unter Risiko (d.h. der gesunden Personen) pro Jahr.
Es gibt keine eindeutige Regel, wie die Anzahl neu aufgetretener Krankheitsfälle und insbesondere die Gesamt-Risikozeit zu berechnen sind.
Einfache Rechnungsweise
Kann man davon ausgehen, dass sich neue Krankheitsfälle und Genesungen die Waage halten und dass wiederholte Neuerkrankungen eine seltene Ausnahme darstellen, so kann die Berechnung entsprechend dem für die kumulative Inzidenz ausgewählten Beispiel erfolgen.
Beispiel, berechnet gemäß (2): Beobachtet wird eine Population, die in den 5 Jahren eines Zeitraums J genau oder durchschnittlich 1.000 gesunde Personen umfasst (Genesungen und Neuerkrankungen sind gleich groß). Die Summe der Personenzeiten im Zeitraum J beträgt dann 5.000 Personenjahre. Erkranken im 5-jährigen Beobachtungszeitraum insgesamt 65 Personen, so beträgt die Inzidenzrate IR demnach 1,3 %.
Da sich Zähler und Nenner von (2) beide auf den gesamten Zeitraum J beziehen, ist die Inzidenzrate IR eine Größe, die als Auftretenswahrscheinlichkeit der Neuerkrankungen pro Jahr interpretiert werden muss.
Da es sich also bei der Inzidenzrate um eine Größe pro Jahr handelt, ist die Anwendung im Allgemeinen nur dann sinnvoll, wenn deren Wert über mehrere Jahre pro Jahr annähernd gleich ist. Dies muss gesondert ermittelt werden. Ist diese Bedingung verletzt, kann eine Tabelle oder ein Balkendiagramm mehrerer (gemäß den Formeln für akkumulierte Inzidenz oder Inzidenzraten) ermittelter Einjahresinzidenzen besser als die Inzidenzrate IR den offensichtlich dynamischen Neuerkrankungsprozess offenlegen.
Beispiel: Liefert eine Aufsplitterung der 65 Neuerkrankungen über die 5 Bezugsjahre z.B. die Pro-Jahr-Neuerkrankungen von 12, 15, 13, 11, 14 Personen, so mag man die Inzidenzrate von 1,3 % akzeptieren. Jährliche Neuerkrankungen von 6, 9, 11, 16, 23 Personen hingegen stellen die Verwendung einer Inzidenzrate von 1,3 % in Frage. In Projekten mag man Regeln für zulässige Abweichungen der Einjahresinzidenzen von der Inzidenzrate IR formulieren. In jedem Fall werden für die Entscheidung über die annähernde Gleichheit Informationen benötigt, die für die Berechnung der Inzidenzrate IR nicht erforderlich sind.
Exaktere Rechnungsweise
Eine exakte Zählweise erfordert, dass in der über mehrere Jahre vorgenommenen Berechnung
- Personen mit Neuerkrankungen aus den Personen unter Risiko entfernt und
- wieder genesene Personen zu den Personen unter Risiko hinzugefügt
werden sollten. Durch diese Anforderung sind auch mehrere Neuerkrankungen in einem Bemessungsjahr möglich. Falls keine Informationen über unterjährige Genesungen vorliegen oder eine derartige Berechnung nicht angestrebt wird, kann vereinfacht angenommen werden, dass genesene Personen (im Durchschnitt) in einem Bemessungsjahr ein halbes Jahr unter Risiko verbracht haben
Stochastischer Modellansatz
Man kann die Anzahl der Erkrankungsfälle Y als eine Poisson-verteilte Zufallsvariable mit dem Erwartungswert λT modellieren, wobei λ die unbekannte Inzidenzrate und T die Gesamt-Risikozeit darstellt. Sei γ eine Realisation von Y. Zu dem mit Formel (2) verträglichen Maximum-Likelihood-Schätzwert kann man eine Reihe von Prüfmaßen herleiten.[1]
Während die Anforderung der ungefähren Gleichheit der Inzidenzrate über mehrere Jahre auch z.B. im Falle saisonaler Schwankungen erfüllt sein kann, bedingt die Poisson-Verteilung nun allerdings, dass Neuerkrankungen mit einer konstanten mittleren Rate auftreten.
Definition der Inzidenz in der amtlichen Statistik
Statistische Ämter oder mit landesweiten Krankheitsstatistiken beauftragte medizinische Institute verwenden zur Erfassung von Neuerkrankungen im Allgemeinen eine jährliche als
- Inzidenz, Inzidenzrate oder auch Erkrankungsrate bezeichnete Jahresgröße I
als Quotient von Neuerkrankungen und Population in diesem Jahr, es gilt also
wobei:
- N = Anzahl neu aufgetretener Krankheitsfälle im betreffenden Jahr
- P = Population im betreffenden Jahr.
Der Ausschluss der bereits erkrankten Personen aus der Population wie in (1) und (2) entfällt hier. Eine Vollzählung wird angestrebt. Die Population kann noch nach Alter oder Geschlecht, regional oder in anderer Form aufgeteilt oder eingeschränkt werden. Landesweite oder regionale Populationen verändern sich ständig durch Geburten und Sterbefälle sowie durch Zu- und Abwanderung.
In der Praxis gibt es allerdings nur wenige, meist schwerwiegende oder eventuell bestimmte meldepflichtige Krankheiten, für die die Inzidenz eines Landes exakt gemäß Formel (3) gemessen werden kann. Für die meisten Krankheiten ist eine exakte (gezählte) Ermittlung der Inzidenz z.B. über ärztliche Krankenakten nicht möglich.[2] Die meisten Inzidenzen werden heute geschätzt, Formel (3) ist also ein angestrebtes Ziel – man wüsste, wie man rechnen müsste, wenn man über die erforderlichen Daten verfügen würde. Beim seit 2009 im Aufbau befindlichen Zentrum für Krebsregisterdaten beim Robert-Koch-Institut befindet man sich derzeit in der Übergangsphase vom Schätzen zum Zählen.[3]
Bei übergeordneten Krankheiten (z.B. Krebs) ist es möglich, dass verschiedene untergeordnete Erkrankungen (z.B. Bronchialkarzinom, Colonkarzinom) bei den Neuerkrankungen derselben Person mehrfach erfasst werden.[4]
Darstellung
Alle zuvor erwähnten Inzidenzgrößen sind dimensionslose Zahlen zwischen 0 und 1 resp. 0 % und 100 %, die auch als Auftretenswahrscheinlichkeit interpretiert werden können. Im Allgemeinen werden sie jedoch durch Multiplikation mit einer Zehnerpotenz auf die Anzahl von Neuerkrankungen bezogen auf eine definierte Bezugsbevölkerung von z.B. 1.000 oder 100.000 Personen umgerechnet.
In der allgemeinen Gesundheitsstatistik verwendet man normalerweise die Anzahl der Fälle auf 100.000 Personen als Maßstab, und Formel (3) wird sogleich in der abgewandelten Form
definiert.[4]
siehe auch: Prävalenz
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Epidemiologische Maßzahlen Biostatistische Methoden (Folien U. Mansmann), LMU 2005, abgerufen am 16.2.2017
- ↑ S. Behrendt Morbidität in den Arztpraxen, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2009
- ↑ Inzidenzschätzung beim Zentrum für Krebsregisterdaten abgerufen am 16.2.2017
- ↑ 4,0 4,1 Definition Inzidenz beim National Cancer Institute USA abgerufen am 16.2.2017