Synonyme: aplastisches Syndrom, Panmyelopathie, Panmyelophthise
Englisch: aplastic anemia
Eine aplastischen Anämie, kurz AA, ist eine Störung der Knochenmarksfunktion (Knochenmarkinsuffizienz), die mit einer Hypozellularität des Knochenmarks (< 25%) und einer verminderten Bildung aller Blutzellreihen einhergeht. Folglich besteht ein absoluter Mangel an Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten, d.h eine Panzytopenie.
Die aplastische Anämie ist eine sehr seltene Erkrankung. Die Inzidenz beträgt etwa zwei Fälle, in Thailand und China ungefähr 5 bis 7 Fälle auf eine Millionen Einwohner. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen.
Die AA manifestiert sich zwischen dem 10. und 30. Lebensjahr sowie im höherem Alter. Ein gehäuftes Auftreten findet sich bei hormoneller Umstellung (Adoleszenz, Beginn des Seniums, Schwangerschaft). Weiterhin besteht zum Teil eine Assoziation mit bestimmten HLA-Antigenen (DR2, DPw3).
Zelllinie | nSAA | SAA | vSAA |
---|---|---|---|
Granulozyten | < 1.000/µl | < 500/µl | < 200/µl |
Thrombozyten | < 50.000/µl | < 20.000/µl | |
Retikulozyten | < 60.000/µl | < 20.000/µl |
Grundsätzlich wird zwischen einer erworbenen und einer angeboren aplastischen Anämie unterschieden.
Verschiedene seltene Syndrome können zu einer angeborenen aplastischen Anämie führen. Diese kann sich bereits im Kindesalter bemerkbar machen, wobei auch Erstmanifestationen im Erwachsenenalter möglich sind. Zu den Erkrankungen, die mit einer hereditären AA einhergehen, zählen beispielsweise:
Die aplastische Anämie im engeren Sinne ist eine Erkrankung unbekannter Ursache mit vermuteter immunologischen Pathogenese. Diese idiopathische aplastische Anämie ist für über 70 % der Fälle verantwortlich.
Sie wird von der sekundären AA unterschieden, die entstehen kann durch:
Die Abgrenzung aplastischer Anämien von anderen Panzytopenien ist nicht immer trennscharf. Die erwartete Myelosuppression nach vorheriger Strahlen- oder Chemotherapie wird von den meisten Autoren nicht als aplastische Anämie gewertet. Es kann sich jedoch auch unter Chemotherapie in seltenen Fällen eine aplastische Anämie als Nebenwirkung entwickeln.
Nicht zu den aplastischen Anämien zählen weiterhin Panzytopenien
sowie Panzytopenien bei normaler oder erhöhter Knochenmarkzellularität oder mit Blasten bzw. Dysplasien im Knochenmark:
Bei der aplastischen Anämie kommt es zur Verdrängung der CD34-positiven hämatopoetischen Stammzellen durch Fettmark. Dabei liegen je nach Ursache unterschiedliche pathophysiologische Mechanismen zu Grunde. Die wichtigsten werden im Folgenden besprochen.
Die idiopathische AA beruht vermutlich auf einer immunologisch bedingten Schädigung. Bei diesen Patienten wird eine erhöhte Zahl aktivierter zytotoxischer T-Zellen beschrieben, wobei Typ-1-Zytokine eine wichtige Rolle spielen. Oligoklonale T-Zell-Klone implizieren eine Auslösung durch Antigenkontakt. Vermutlich spielen Prädispositionen durch bestimmte Polymorphismen der HLA-Gene und andere genetische Faktoren eine modulierende Rolle bei dieser Autoimmunreaktion. Die immunologische Pathogenese erklärt das Ansprechen auf Immunsuppressiva.
Bei kongenitalen Formen liegt ein angeborener Stammzelldefekt vor, z.B. eine chromosomale Instabilität (Fanconi-Anämie) oder eine Telomeropathie (Dyskeratosis congenita).
Eine Hepatitis geht ungefähr 5 % der aplastischen Anämien voraus. Meist sind junge Männer betroffen und in fast allen Fällen verläuft sie seronegativ (non-A, non-B, non-C). Vermutet wird ein noch unbekanntes Virus.
Das Parvovirus B19 verursacht bei einer hämolytischen Anämie vorübergehende aplastische Krisen. Weiterhin kann es eine "Pure red cell aplasia" bedingen. Meisten entsteht jedoch keine generalisierte Knochenmarkinsuffizienz, sondern nur eine leichte Zytopenie.
Benzol ist für die Induktion von Knochenmarkversagen seit langem bekannt. Im Gegensatz dazu ist die Assoziation zwischen aplastischer Anämie und anderen Substanzen deutlich schlechter belegt. Dazu zählen:
Weiterhin besteht eine unsichere Assoziation bei einer Vielzahl von anderen Medikamenten, z.B. Tetrazyklin, Allopurinol oder Lithium.
Diese Substanzen rufen eine idiosynkratische Reaktion hervor - vermutlich durch hochreaktive Metabolite. So sind zum Beispiel im Stoffwechsel entstehende Hydrochinone und Chinone für den benzolinduzierten Gewebeschaden verantwortlich. Die überschießende Bildung dieser Metaboliten könnte genetisch determiniert sein. Die Komplexität und Spezifität der einzelnen Stoffwechselwege erklärt die Seltenheit der idiosynkratischen Reaktionen.
Eine AA kann plötzlich oder schleichend beginnen. Dabei ist die erhöhte Blutungsneigung aufgrund der Thrombopenie meist das erste Symptom. Neben Petechien klagen die Patienten über vermehrte Hämatome, Zahnfleisch- und Nasenbluten sowie über eine verstärkte Menstruationsblutung. Massive Hämorrhagien sind eher selten, jedoch kann eine kleine intrakranielle oder retinale Blutung bereits zu massiven Komplikationen führen.
Anämiesymptome sind ebenfalls häufig. Dazu zählen typischerweise Müdigkeit, verminderte Leistungsfähigkeit, Kopfschmerzen, Belastungsdyspnoe, Tachykardie und Schwindel.
Infektionen entstehen im Gegensatz zur Agranulozytose meist erst im Verlauf der Erkrankung. Dabei können beispielsweise Ulzera der Mund- und Rachenschleimhaut, eine nekrotisierende ulzerierende Gingivitis, Pneumonien und im schlimmsten Fall eine Sepsis entstehen.
Die diagnostischen Maßnahmen dienen in erster Linie der Ursachenabklärung.
Eine sorgfältige Anamnese ist entscheidend. Dabei sollte insbesondere auf die Medikamenteneinnahme und auf vorausgegangene Viruserkrankungen geachtet werden. Sekundäre Ursachen einer Panzytopenie lassen sich meist durch die Vorgeschichte aufdecken, z.B. bei einer Tumorerkrankung oder durch eine vorangegangene Strahlentherapie. Gewichtsverlust oder andere Allgemeinsymptome sind untypisch für eine AA.
In der körperlichen Untersuchung finden sich häufig Petechien und Ekchymosen, gelegentlich retinale Einblutungen. Café-au-lait-Flecken und ein Kleinwuchs sollten an eine Fanconi-Anämie, Onychodystrophie und Leukoplakien an eine Dyskeratosis congenita denken lassen. Lymphadenopathie und Splenomegalie sind untypisch für eine AA.
Bei der Knochenmarkpunktion erscheint der Stanzzylinder aufgrund des erhöhten Fettgehaltes blass. Der Anteil der Hämatopoese nimmt bei der AA definitionsgemäß weniger als 25 % der Markfläche ein, meist besteht das Biopsat nur aus Fettmark. Bei schwerer AA können sich im Ausstrich nur Erythrozyten, wenige Lymphozyten und Stromazellen finden. Dabei besteht jedoch keine sichere Korrelation zwischen Zellularität und Erkrankungsschwere. Die vorzufindenden hämatopoetischen Zellen sollten keine morphologischen Veränderungen aufweisen, allenfalls wenige Megaloblasten. Megakaryozyten fehlen meist.
Differenzialdiagnostische Schwierigkeiten entstehen bei atypischen Verläufen und bei der Abgrenzung von verwandten hämatologischen Erkrankungen. So entwickeln zum Beispiel einige Patienten mit aplastischer Anämie erst im Verlauf eine Panzytopenie. Weiterhin ist die AA von den hypozellulären Varianten des MDS oft nur schwer abgrenzbar.
Eine schwere AA kann durch eine Stammzelltransplantation (SZT) geheilt werden. Auch eine Immunsuppression verbessert den Verlauf in vielen Fällen. Auslösende Medikamente oder Chemikalien sollten vermieden werden. Nur bei moderat verminderten Zellzahlen kann in Einzelfällen auf eine spontane Erholung gewartet werden.
Die Transplantation von allogenen hämatopoetischen Stammzellen erfolgt bevorzugt aus dem Knochenmark eines histokompatiblen (HLA-identischen) Familienspenders. Sie gilt als die Erstlinientherapie der SAA und vSAA bei unter 50-Jährigen.
Entsprechend sollte bei jedem jungen Erwachsenen direkt nach Diagnosestellung eine HLA-Typisierung erfolgen. Bis dahin muss eine Bluttransfusion von Familienmitgliedern vermieden werden, um eine Sensibilisierung zu vermeiden. Das Langzeitüberleben nach HLA-kompatibler Transplantation beträgt bei Kindern fast 90 %. Bei Erwachsenen erhöht sich die Morbidität und Mortalität aufgrund des erhöhten Risikos für chronische Graft-versus-Host-Reaktion und Infektionen.
Obwohl eine SZT bei jungen Patienten mit kompatiblen Fremdspendern vergleichbare Ergebnisse zeigt, ist der Stellenwert als Primärtherapie aktuell (2019) noch umstritten.
Die intensivierte immunsuppressive Therapie wird standardmäßig mit Antithymozytenglobulin vom Pferd (hATG) und Ciclosporin A (CSA) durchgeführt. Sie gilt als Erstlinientherapie bei:
Grundsätzlich wird die Entscheidung zur SZT oder Immunsuppression individuell getroffen. Ältere Patienten werden in der Regel selbst bei passendem Spender mittels Immunsuppression behandelt. Das Langzeitüberleben der beiden Therapieformen ist vergleichbar. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine erfolgreiche SZT kurativ ist, während Patienten nach Immunsuppression ein erhöhtes Risiko für ein Rezidiv oder eine maligne Transformation haben. Nach 6 Jahren entwickeln ungefähr 4 % der Patienten eine sekundäre klonale Neoplasie, meist ein myelodysplastisches Syndrom oder eine Leukämie.
Bei 60 bis 70 % der Erwachsenen kann mittels immunsuppressiver Therapie eine hämatologische Remission erreicht werden. Kinder sprechen noch besser auf diese Therapie an. Die Remission ist definiert durch die fehlende Notwendigkeit von Transfusionen und Erreichen einer ausreichenden Leukozytenzahl. Meist kann nach ungefähr zwei Monaten ein Anstieg der Granulozytenzahl erreicht werden. Nach Absetzen kommt es jedoch in 35 % der Fälle zum Rezidiv, sodass bei einigen Patienten eine Dauertherapie notwendig ist.
Pferde-Antithymozytenglobulin wird intravenös über vier Tage verabreicht. Bei fehlendem Ansprechen kann Antithymozytenglobulin vom Kaninchen (rATG) verwendet werden. Während der Therapie können die Thrombozyten- und Granulozytenzahlen anfangs weiter abfallen. Meist entwickelt sich zehn Tage nach Therapiebeginn eine Serumkrankheit mit grippeähnlichen Symptomen, Hautausschlägen und Arthralgien. Zur Prophylaxe wird Methylprednisolon eingesetzt.
Ciclosporin A wird zunächst hochdosiert per os verabreicht. Anschließend wird die Dosis alle 2 Wochen je nach Serumspiegel angepasst. Die wichtigsten Nebenwirkungen umfassen Nephrotoxizität, Hypertonie, Krampfanfälle und opportunistische Infektionen (v.a Pneumocystis jirovecii). Eine prophylaktische Therapie mit Cotrimoxazol oder Pentamidin wird empfohlen.
Patienten mit AA benötigen eine sorgfältige Überwachung. Während grundsätzliche Hygienemaßnahmen wie keimarme Räume und Mundschutz notwendig sind, verringert die komplette Umkehrisolation die infektionsbedingte Mortalität nicht. Infektionen bei schwerer Neutropenie müssen konsequent behandelt werden. Meist wird Ceftazidim oder eine Kombination aus einem Aminoglykosid, einem Cephalosporin und einem Penicillin-Derivat verwendet. Bei Hinweisen auf Katheterinfektionen wird Vancomycin hinzugefügt. Persistierendes oder rezidivierendes Fieber deutet auf eine Pilzinfektion hin, sodass frühzeitig Antimykotika verabreicht werden.
Thrombozytenkonzentrate (TKs) und Erythrozytenkonzentrate (EKs) werden je nach Situation supportiv eingesetzt. Bei häufigen Transfusionen muss eine sekundäre Hämochromatose mittels Eisenchelatoren verhindert werden.
Patienten mit leichter AA, insbesondere bei Telomeropathie oder nach Versagen einer Immunsuppression, können versuchsweise für 3 bis 4 Monate mit Androgenen behandelt werden.
Der Einsatz von hämatopoetische Wachstumsfaktoren (rekombinantes Erythropoetin, G-CSF) ist umstritten. Zur Initialtherapie werden sie nicht empfohlen. Thrombopoietin-Rezeptor-Agonisten (Eltrombopag, Romiplostim) können bei refraktärer AA wirksam sein.
Der natürliche Verlauf einer schweren AA besteht aus einer progredienten Verschlechterung mit einer Letalität von 70 %.
Dabei ist die Prognose abhängig von der Zellzahl der einzelnen Blutreihen. Im Gegensatz zur oben genannten Klassifikation empfehlen einige Autoren die Retikulozytenzahl > 25.000/µl sowie die absolute Lymphozytenzahl > 1.000/µl als bessere Vorhersagefaktoren des Therapieansprechens und der Langzeitprognose.
Tags: Anämie, Blutbildung
Fachgebiete: Hämatologie
Diese Seite wurde zuletzt am 5. Februar 2022 um 12:50 Uhr bearbeitet.
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