Anorexia nervosa
Synonyme: Magersucht, psychogene Magersucht
von altgriechisch ἀν- ("an-") und ὄρεξις ("orexis") - ohne Hunger
Englisch: anorexia nervosa
Definition
Unter einer Anorexia nervosa versteht man eine psychogene Essstörung, bei der es zum beabsichtigten Gewichtsverlust durch verminderte Nahrungsaufnahme, induziertes Erbrechen, Laxantien-Abusus und Hyperaktivität kommt.
Abzugrenzen von der Anorexie ist die Bulimie, welche als Ess-Brechsucht mit anfallsartigen Ess-Brech-Anfällen durch die Angst vor dem Dickwerden gekennzeichnet ist.
Epidemiologie
In der Regel erkranken vorwiegend Mädchen und jüngere Frauen am Bild der Anorexie. Das weibliche Geschlecht ist 10-15fach häufiger betroffen.[1] Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr. Die Erkrankung wird bei etwa 1% der weiblichen Teenager beobachtet.
Ätiologie
Die Anorexia nervosa ist multifaktoriell bedingt. Beteiligte Faktoren sind u.a.:[1]
- genetische Faktoren (hohe Zwillingskonkordanzraten, familiäre Häufungen)[2]
- Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere hohe Gewissenhaftigkeit bei mäßigem Neurotizismus[3]
- soziale und kulturelle Faktoren, z.B. gestörte familiäre Interaktion mit hohem Leistungsdruck, Modelllernen ("Schlankheitsideal"), Zugehörigkeit zu Risikogruppen (z.B. Modebranche, Sportlerinnen, Mittel-/Oberschicht)
- Erfolgserlebnisse bei Gewichtsreduktion im Rahmen vorangehender Diäten
- Verarbeitung von Konflikten durch Kontrolle des eigenen Körpergewichtes
Auch eine Unterfunktion serotonerger Bahnen wird vermutet.[1]
Die Psychoanalyse sieht die Ursache der Anorexie in kindlichen Konflikten. Postuliert werden unter anderem eine dominante Mutter, aber auch eine gestörte Vater-Tochter-Beziehung im Rahmen eines ödipalen Konfliktes. Ferner sollen die Annahme der Frauenrolle und das Verhältnis zur Sexualität gestört sein.
Klinik
Psychische Symptome
Kernproblematik ist eine starke, unbegründete Angst im Sinne einer überwertigen Idee, zu dick zu sein oder werden zu können. Gleichzeitig besteht eine verzerrte Körperwahrnehmung, bei welcher der Körper als zu dick bzw. trotz extremer Magersucht nicht als zu dünn wahrgenommen wird (Körperschemastörung). Die Betroffenen zeigen
- ständige gedankliche Beschäftigung mit dem Thema Nahrung und Gewicht
- fehlende Krankheitseinsicht
- anhaltendes gewichtsreduzierendes Verhalten mit konsekutiv starkem Untergewicht
Die Art des gewichtsreduzierenden Verhaltens kann variieren. Nach der Art der Diät werden zwei Typen unterschieden:
- restriktiver (asketischer) Typ: Es werden stringente Diäten eingehalten. Beispielsweise werden ganze Mahlzeiten weggelassen und Nahrungsmittel durch kalorienarme Alternativen ersetzt. Das Hungergefühl wird durch Trinken großer Flüssigkeitsmengen unterdrückt. Die Nahrungsaufnahme wird oft in einem teilweise stundenlangen Ritual zelebriert. Oft sind die Betroffenen körperlich stark aktiv.
- Purging-Typ (bulimischer Typ): Hier werden zwar ähnliche Diäten durchgeführt, jedoch werden diese durch rezidivierende Essattacken unterbrochen. Anschließend greifen die Betroffenen zu kompensierenden Maßnahmen (Purging-Verhalten), um kein Gewicht zuzulegen. Beispiele sind:
- selbstinduziertes Erbrechen
- Abusus von Pharmaka (z.B. L-Thyroxin, Laxantien, Appetitzügler, Sympathomimetika, Diuretika oder Fettresorptionshemmern)
- exzessive sportliche Aktivität wie Jogging und Fitness
- bei Diabetikern Insulinunterdosierung (Insulin-Purging)
Körperliche Folgeerscheinungen
Neben den o.a. Verhaltensauffälligkeiten weisen körperliche Symptome auf die Erkrankung hin. In den meisten Fällen handelt es sich um Mangelerscheinungen und körperliche Reaktionen auf den Nahrungsentzug, wie z.B.:
- Allgemeinsymptome
- Hormonsystem
- tertiärer Hypogonadismus mit Pubertas tarda, primärer oder sekundärer Amenorrhoe, Potenz-/Libidostörungen, kindlichen Geschlechtsmerkmalen, fehlendem Wachstumsschub
- Hypothyreose durch T4-Konversionsstörung (Low-T3-Syndrom)
- Hypercortisolismus
- STH-Erhöhung
- Herz-Kreislauf-System
- Haut
- Haarausfall
- Wiederauftreten der Lanugobehaarung (Hypertrichosis lanuginosa aquisita)
- Cutis marmorata
- Akrozyanose
- Bewegungsapparat
Als Folge eines Purging-Verhaltens sind zusätzlich möglich:
- Karies durch Schmelzerosion aufgrund des häufigen Magensäurekontakts
- Speicheldrüsenhypertrophie (Sialadenose)
- Russell-Zeichen
- Ösophagitis, Pharyngitis, Mallory-Weiss-Risse
Komorbiditäten
Häufig lassen sich bei Anorexia nervosa psychische Begleiterkrankungen beobachten. Zu ihnen zählen:
- depressive Episoden
- Angststörungen, insb. soziale Phobie
- Persönlichkeitsstörungen (v.a. anankastische, vermeidende, dependente PS)
- Zwangsstörung
- Substanzmissbrauch (auch als Purging)
Es besteht ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko.
Diagnostik
Diagnosekriterien nach ICD-11
Die Diagnosestellung erfolgt bei Erfüllung der ICD-11-Kriterien:
- stark erniedrigtes Körpergewicht (BMI <18,5 kg/m2 bzw. unter der 5. Altersperzentile) oder rapider Gewichtsverlust >20% in 6 Monaten
- Untergewicht nicht infolge einer anderen Erkrankung oder nicht verfügbarer Nahrung
- andauerndes Verhalten zur Verhinderung eines nicht-kachektischen Körpergewichtes mittels
- restriktiven Essverhaltens oder
- Purging-Verhalten
- andauernde und übertriebene Beschäftigung mit Gewicht oder Körperform, übertriebener Einfluss derselben auf die Selbstbewertung
BMI-Bewertung
Zur Schweregradeinteilung dient besonders der BMI. Ein BMI zwischen 19 und 25 gilt als normal, ein BMI kleiner 19 weist auf ein Untergewicht hin.
BMI | Beurteilung |
---|---|
< 18,5 | anorektisches Gewicht |
< 16,0 | stationäre Aufnahme empfehlenswert |
< 14,0 | kritisch niedrig; zunehmend organische Komplikationen |
< 12,0 | Lebensgefahr |
< 10,0 | in der Regel nicht mit dem Leben vereinbar |
Labordiagnostik
- Endokrinologie
- Verminderung von LH, FSH, Östrogen/Gestagenen bzw. Androgenen sowie von T3
- Erhöhung von STH, Cortisol
- Amylaseerhöhung bei Sialadenose
- Anämie, Leukopenie, Thrombopenie
- Hypoproteinämie
- Elektrolytstörungen
- Hyperurikämie
- Hypercholesterinämie (Genese unklar)
Bildgebung
Wird eine cMRT durchgeführt, findet sich häufig eine Pseudohirnatrophie mit erweiterten Liquorräumen. Diese ensteht vermutlich durch Leptinmangel und ist bei Gewichtszunahme reversibel.[1]
Differentialdiagnosen
- Bulimie: kann insbesondere dem Purging-Prägnanztyp ähneln, jedoch findet sich hier keine Restriktion der Nahrungsaufnahme und kein BMI unter 18 kg/m². Die Übergänge zur Anorexie sind jedoch fließend.
- Kachexie im Rahmen von malignen Erkrankungen
- Appetitverlust und Gewichtsabnahme im Rahmen von anderen psychiatrischen Erkrankungen (Depressionen, Schizophrenie)
- Endokrine Störungen (Diabetes mellitus, Hypothalamustumoren)
Therapie
Die Therapie kann ambulant oder stationär erfolgen. In den schweren Fällen (Suizidalität, BMI unter 16kg/m²) ist eine Hospitalisierung angezeigt. Bei der Behandlung stehen vor allem folgende Maßnahmen im Vordergrund:
- Gewichtszunahme (Zielvereinbarung: kontinuierliche Gewichtszunahme von ca. 500-700 g/Woche)
- kognitive Verhaltenstherapie, Familientherapie
- Vermittlung in Selbsthilfegruppen
- ggf. Östrogen- und Antidepressiva-Gaben
Im Rahmen der Gewichtszunahme kann es bei besonders abgemagerten Patienten zu einem Refeeding-Syndrom kommen. Die entstehende Hyperinsulinämie führt zu einer Hypokaliämie und Hypophosphatämie und kann schließlich kardiale Symptome hervorrufen.
Prognose
Die Anorexia nervosa hat die höchste Letalität aller psychischen Erkrankungen. Sie wird mit rund 5 Todesfällen pro 1.000 Patientenjahre angegeben. Dabei sind die Todesfälle sowohl auf Malnutrition als auch auf Suizide (20%) zurückzuführen.[4]
Bei den Überlebenden erreicht etwa ein Drittel eine vollständige Remission. Ein weiteres Drittel zeigt gelegentliche Rückfälle, das letzte Drittel verläuft chronisch. Ein Cross-Over zur Bulimie ist möglich.
Leitlinie
- S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Essstörungen der DGPM und DGKJP im AWMF-Register. Stand 31.05.2018, aktuell (2024) in Überarbeitung.
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 Bode et al. (Hrsg.). Psychosomatische Grundversorgung in der Pädiatrie. 1. Auflage. Thieme Verlag Stuttgart, 2016.
- ↑ Holland et al.. Anorexia nervosa: evidence for a genetic basis. Journal of Psychosomatic Research, 1988.
- ↑ Sonnenmoser. Essstörungen und Persönlichkeit: Unterschätzter Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen. Ärzteblatt, 2010.
- ↑ Arcelus et al. Mortality Rates in Patients With Anorexia Nervosa and Other Eating Disorders. JAMA Psychiatry, 2011.
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