Antidepressivum
Englisch: antidepressive drug, antidepressant
Definition
Antidepressiva sind Medikamente, die zur Therapie von Depressionen eingesetzt werden. Daneben besitzen Antidepressiva zahlreiche andere Anwendungsbereiche, z.B. in der Schmerztherapie, bei Angst-, Panik- und Zwangsstörungen.
Einteilung
In der Literatur existieren unterschiedlichste Klassifikation von Antidepressiva. Diese reichen von rein chemischen Gruppierungen über indikationsbezogene Unterteilungen bis hin zu mechanismus-orientierten Systematiken. Die hier gewählte Unterteilung kombiniert das etablierte ATC-System (Anatomisch-Therapeutisch-Chemisch) der WHO mit der Neuroscience-based Nomenclature (NbN), die jeden Wirkstoff nach seinem primären pharmakologischen Zielmechanismus einordnet. Die nachfolgende Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und umfasst auch Wirkstoffe, die derzeit (2025) in der EU nicht zugelassen sind.[1][2]
Hinweis: Viele Antidepressiva mit neueren Wirkmechanismen werden in der Literatur auch als "atypische Antidepressiva" bezeichnet. Beispiele sind Substanzen wie Bupropion, Mirtazapin, Trazodon, Agomelatin und Vortioxetin. Der Begriff wird jedoch uneinheitlich verwendet und sollte daher vermieden werden. Klarer ist die Einordnung nach molekularen Zielmechanismen im NbN-Ansatz.
Trizyklische Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva haben ein sehr breites Spektrum an pharmakologischen Wirkungen. Bei einmaliger bzw. kurzfristiger Gabe zeigen sie eine hemmende Wirkung auf die Wiederaufnahme der Monoamine Noradrenalin und Serotonin aus dem synaptischen Spalt, während sie die Dopaminwiederaufnahme nur geringfügig beeinflussen. Bei langfristiger Gabe verändern sie Rezeptoren im ZNS (z.B. Downregulation zentraler β-Rezeptoren, Aktivierung postsynaptischer α-Rezeptoren, Verstärkung GABAerger Aktivität im Frontalhirn). Ferner beeinflussen trizyklische Antidepressiva den Histamin-Spiegel in bestimmten Teilen des Gehirns.
Trizyklische Antidepressiva besitzen grundsätzlich eine stimmungsaufhellende (thymoleptische) Wirkung. Substanzspezifisch bestehen mehr antriebssteigernde (thymeretische) oder antriebshemmende bzw. sedierende Eigenschaften.
Die anfängliche Antriebssteigerung kann vermehrt zu suizidalen Handlungen führen. Erst nach 2 bis 3 Wochen tritt der thymoleptische Effekt ein. Aufgrund der ausgeprägten Nebenwirkungen ist die therapeutische Bedeutung der trizyklischen Antidepressiva inzwischen (2025) deutlich zurückgegangen.
Obwohl sie zur Behandlung von Depressionen üblicherweise nicht mehr als First-Line-Therapie gelten, finden sie noch Off-Label Verwendung, z.B. zur Behandlung von Migräne, chronischen Schmerzen oder neuropathischen Schmerzen.
Die wichtigsten Vertreter sind:
- Amitriptylin: zusätzlich schmerzlindernd; Off-Label bei neuropathischen Schmerzen
- Doxepin: stark sedierend; in niedriger Dosis bei Insomnie eingesetzt
- Opipramol: primär anxiolytisch; Mittel der Wahl bei somatoformen Störungen
- Trimipramin: kaum anticholinerg; ausgeprägt sedativ, daher v. a. bei Schlafstörungen
- Desipramin: relativ antriebssteigernd; Einsatz bei neuropathischen Schmerzen
- Nortriptylin: relativ antriebssteigernd; Einsatz bei neuropathischen Schmerzen
- Imipramin
- Clomipramin
Tetrazyklische Antidepressiva
Diese Substanzklasse wirkt stimmungsaufhellend und sedierend durch Hemmung der Noradrenalin-Wiederaufnahme und H₁-Rezeptorblockade. Zu den Wirkstoffen zählen:
- Maprotilin: zudem anticholinerg; Reserve bei therapieresistenten Depressionen
Hinweis: Mianserin und Mirtazapin sind strukturell tetrazyklisch und wirken ähnlich, werden hier jedoch unter der NaSSA-Klasse ("Noradrenerge und spezifisch serotonerge Antagonisten") geführt.
Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer erhöhen gezielt die Serotonin-Konzentration im synaptischen Spalt Sie weisen einen den trizyklischen Antidepressiva gleichwertigen antidepressiven Effekt bei besserer Verträglichkeit und geringerer Toxizität auf. Daher sind sie Mittel der Wahl bei Depression sowie bei Angst- und Zwangsstörungen. Häufige Nebenwirkungen sind Übelkeit und sexuelle Funktionsstörungen. Zu den SSRI zählen:
- Citalopram
- Escitalopram: geringeres Interaktionspotenzial
- Fluoxetin: lange Halbwertszeit, kaum Absetzsyndrom
- Fluvoxamin
- Paroxetin: stark anticholinerg, bei älteren Patienten mit Vorsicht
- Sertralin
Nicht-selektive Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Hemmer)
Nicht-selektive MAO-Hemmer blockieren MAO-A und MAO-B, was zu ausgeprägten Interaktionen (z.B. mit Tyramin) führt und strikte Diätmaßnahmen erfordert. Zu den Wirkstoffen zählen:
- Isocarboxazid (nicht in der EU zugelassen)
- Phenelzin (nicht in der EU zugelassen)
- Tranylcypromin
Reversibel selektive Monoaminoxidase-A-Hemmer
Die reversibel selektiven MAO-Hemmer inhibieren selektiv MAO-A, wirken aktivierend und erfordern im Vergleich zu den nicht-selektiven MAO-Hemmern kaum Diätrestriktionen. Vertreter sind:
- Moclobemid
- Toloxaton (nicht in der EU zugelassen)
Pflanzliche Antidepressiva
Pflanzliche Antidepressiva bieten eine milde antidepressive Wirkung bei sehr guter Verträglichkeit. Wichtigster Vertreter ist:
- Johanniskraut: Dieser Arzneistoff ist ein CYP3A4-Induktor. Er reduziert die Wirksamkeit oraler Kontrazeptiva.
Hinweis: Johanniskraut ist auch als homöopathisches und anthroposophisches Antidepressivum im ATC-Code (N06AX25) unter dem Namen "Hypericum" gelistet.
Sonstige Antidepressiva
Bei den sonstigen Antidepressiva handelt es sich um eine heterogene Gruppe mit diversen Angriffspunkten. Die Wirkstoffe weisen ggf. ein günstigeres Nebenwirkungsprofil auf und werden auch bei besonderen Indikationen eingesetzt.
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI)
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer kombinieren die Hemmung der Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme. Sie wirken nicht sedierend und sind auch bei Schmerzen einsetzbar. Zu den SNRI zählen:
- Duloxetin: Einsatz auch bei neuropathischen Schmerzen und Belastungsinkontinenz
- Venlafaxin: Einsatz auch bei Angst- und Panikstörungen
- Milnacipran
- Levomilnacipran (nicht in der EU zugelassen)
Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (NDRI)
Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahmehemmer steigern den Noradrenalin- und Dopaminspiegel und werden auch zur Rauchentwöhnung und Gewichtsreduktion eingesetzt. Zu den NDRI zählen:
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (NARI/NRI)
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer verhindern selektiv die Wiederaufnahme von Noradrenalin in die präsynaptische Nervenendigung. Sie wirken meist antriebssteigernd und nicht sedierend. Vertreter sind:
Serotonin-Antagonisten-und-Wiederaufnahmehemmer (SARI)
Serotonin-Antagonisten und Wiederaufnahmehemmer kombinieren die Hemmung der Serotonin-Wiederaufnahme mit 5-HT₂-Antagonismus. Sie wirken meist sedierend. Zu den SARI zählen:
- Trazodon
- Nefazodon (nicht in der EU zugelassen)
Glutamat-Modulator
Glutamat-Modulatoren modulieren das glutamaterge System auf atypischem Weg. Zu den Glutamat-Modulatoren zählt:
NMDA-Rezeptor-Antagonisten
NMDA-Rezeptor-Antagonisten blockieren NMDA-Rezeptoren und zeigen eine rasche antidepressive Wirkung, insbesondere bei therapieresistenter Depression. Vertreter ist:
Melatonerge Agonisten und 5-HT₂C-Antagonisten (MASSA)
Melatonerge Agonisten und 5-HT₂C-Antagonisten zeichnen sich durch ein relativ günstiges Stoffwechselprofil aus. Zu den MASSA zählt:
Serotonin-Partialagonist-Wiederaufnahmehemmer (SPARI)
Serotonin-Partial-Agonisten und -Wiederaufnahmehemmer kombinieren die Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmung mit partieller Agonistenwirkung an Serotonin-Rezeptoren und können die kognitive Funktion fördern. Zu den SPARIs zählen:
- Vilazodon (nicht in der EU zugelassen)
- Gepirone (nicht in der EU zugelassen)
- Vortioxetin [3]
Noradrenerge und spezifisch serotonerge Antagonisten (NaSSA)
Noradrenerge und spezifisch serotonerge Antagonisten blockieren präsynaptische α₂-Adrenozeptoren und steigern so die Freisetzung von Noradrenalin und Serotonin. Sie wirken stark sedierend und sind nahezu frei von anticholinergen oder kardiotoxischen Effekten. Zu den NaSSAs zählen:
Neuroleptika mit antidepressiver Wirkung
Einige eigentlich als Neuroleptika klassifizierte Psychopharmaka weisen eine antidepressive Wirkung auf. Hierzu zählen:
- Aripiprazol, Bexpiprazol (nicht in Deutschland verfügbar)
- Quetiapin
- Amisulprid, Sulpirid
- Risperidon
Nebenwirkungen
Aufgrund der Vielfalt der Wirkmechanismen ist die Liste exemplarisch und nicht jede Nebenwirkung gilt für jeden Wirkstoff.[4]
| System | Einzelne Nebenwirkungen | Häufig betroffene Wirkstoffklassen (Beispiele) |
|---|---|---|
| Kardiovaskuläre Nebenwirkungen | QT-Verlängerung, Orthostatische Hypotonie, Blutdruckerhöhung, Tachykardie | TCA (Amitriptylin); SSRI (Citalopram > 40 mg) |
| Gastrointestinale Nebenwirkungen | Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Obstipation, Appetitveränderungen | SNRI (Duloxetin); SPARI (Vortioxetin) |
| Zentrales Nervensystem | Sedierung, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Unruhe, Schwindel, Tremor, Dissoziative Zustände | NaSSA (Mirtazapin); SARI (Trazodon) |
| Anticholinerge Effekte | Mundtrockenheit, Harnverhalt, Mydriasis, Akkommodationsstörung | TCA (Clomipramin); Maprotilin |
| Sexuelle Dysfunktionen | Libido- und Potenzminderung, Ejakulationsstörungen | SSRI (Paroxetin); SNRI (Venlafaxin) |
| Schwitzen und Thermoregulation | Vermehrtes Schwitzen, Dysregulation der Temperatur | SSRI (Sertralin); MAO-Hemmer (Tranylcypromin) |
| Seltene, aber schwere Nebenwirkungen | Krampfanfälle, Delirante Syndrome, Blutbildveränderungen, Cholestase, Torsade-de-Pointes, Kardiomyopathien, Suizidalität | NDRI (Bupropion); Agomelatin; MAO-Hemmer |
Kontraindikationen
Aufgrund der Vielfalt der Wirkmechanismen ist die Liste exemplarisch und nicht jede Kontraindikation gilt für jeden Wirkstoff.
| Kategorie | Kontraindikation |
|---|---|
| Allgemein |
|
| Trizyklische Antidepressiva (TCA)
(z.B. Amitriptylin, Clomipramin) |
|
| SSRI und SNRI |
|
| MAO-Hemmer
(nicht-selektiv und reversibel selektiv) |
|
| Anticholinerge Antidepressiva
(TCA, Maprotilin) |
|
| Agomelatin (MASSA) |
|
| Ketamin/Esketamin |
|
| Bupropion (NDRI) |
|
| Mirtazapin, Mianserin (NaSSA) |
|
Wirksamkeit
Die Wirksamkeit von Antidepressiva ist Gegenstand kontroverser Diskussion. Während methodische Limitationen in vielen Studien bestehen und insbesondere der Placebo-Effekt groß ist, zeigen einige Metaanalysen eine statistisch signifikante Überlegenheit gegenüber Placebo. Die klinische Relevanz ist besonders bei leichter Symptomatik umstritten. Für neuere Substanzen (z.B. Esketamin) liegen weniger Langzeitdaten vor.[5][6]
Quellen
- ↑ BfArM ATC‑Klassifikation, abgerufen am 17. Juli 2025
- ↑ NbN_Glossary, abgerufen am 17. Juli 2025
- ↑ Chen et al., Vortioxetine: Clinical Pharmacokinetics and Drug Interactions, Clinical Pharmakokinetics, 2018
- ↑ Sheng-Min et al., Addressing the Side Effects of Contemporary Antidepressant Drugs: A Comprehensive, Review. Chonnam Med J, 2018
- ↑ Munkholm et al., Considering the methodological limitations in the evidence base of antidepressants for depression: a reanalysis of a network meta-analysis, BMJ Open, 2019
- ↑ Cipriani et al., Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis, Lancet, 2018
Literatur
- Moraczewski und Aedma, Tricyclic Antidepressants, StatPearls Publishing, Treasure Island, 2022
- NVL‑005l Unipolare Depression, abgerufen am 17. Juli 2025
- Gelbe Liste Pharmindex Abgerufen 01.06.2023