Tianeptin
Handelsnamen: Tianeurax®, Tianesan®, Stablon®
Synonym: Tianeptinum
Englisch: tianeptine
Definition
Tianeptin ist ein Arzneistoff, der hauptsächlich zur Behandlung von schweren depressiven Störungen eingesetzt wird.
Geschichte
Tianeptin wurde bereits in den 1960er Jahren in Frankreich entdeckt und patentiert, aber erst 1988 als Arzneimittel zugelassen.
Chemie
Tianeptin ist ein trizyklisches Derivat der Heptansäure und damit anderen trizyklischen antidepressiven Wirkstoffen strukturell ähnlich. Das Molekül weist eine Stereoisomerie auf. Die Summenformel lautet C21H25ClN2O4S. Die vollständige chemische Bezeichnung ist:
- 7-[(3-chloro-6-methyl-5,5-dioxo-11H-benzo[c][2,1]benzothiazepin-11-yl)amino]heptansäure (IUPAC)
Die molare Masse beträgt 437 g/mol, der Oktanol-Wasser-Koeffizient (logP) 2,07. Die CAS-Nummer lautet 72797-41-2.
Die Substanz liegt bei Raumtemperatur als weißer, kristalliner Feststoff vor, der in Wasser praktisch unlöslich ist. Pharmazeutisch wird das Razemat als Natriumsalz (Tianeptin-Natrium) verwendet.
Wirkmechanismus
Tianeptin besitzt anxiolytische und antidepressive Eigenschaften, wobei der genaue antidepressive Wirkmechanismus bislang (2023) nicht geklärt ist.
Im Gegensatz zu anderen Antidepressiva werden weder die Monoaminoxidasen (MAO-A, MAO-B) noch die Wiederaufnahme von Noradrenalin, Dopamin oder Serotonin aus dem synaptischen Spalt gehemmt, sondern die Wiederaufnahme von Serotonin in die Präsynapse erhöht (sog. selective serotonin reuptake enhancer; SSRE). Diese Eigenschaft widerspricht gängigen Vorstellungen zur Pathogenese der Depressionen und zum Wirkmechanismus der Antidepressiva.
Tianeptin hat modulierende Effekte auf die glutamaterge und dopaminerge Neurotransmission. Im Tierexperiment wurden neuroprotektive und neurotrophe Wirkungen durch Tianeptin beobachtet.[1]
Ein weiterer Angriffspunkt von Tianeptin sind μ-Opioidrezeptoren, an denen der Wirkstoff als Vollagonist bindet. Auch an δ-Opioidrezeptoren wirkt Tianeptin als Vollagonist, ist aber weitaus weniger potent als an μ-Opioidrezeptoren.[2]
Tianeptin besitzt keine anticholinergen oder antihistaminergen Eigenschaften.
Pharmakokinetik
Tianeptin hat eine sehr hohe orale Bioverfügbarkeit (99 %). Resorption und Distribution (ohne First-Pass-Metabolismus) erfolgen rasch. Maximale Plasmaspiegel werden nach 1 bis 2 Stunden erreicht. Die Plasmaproteinbindung beträgt 95 bis 96 %, das Verteilungsvolumen 0,5 bis 0,8 l/kgKG.
Die Biotransformation in der Leber (z.T. auch im Plasma oder Nierengewebe) erfolgt vor allem durch Beta-Oxidation, wobei ein aktiver Metabolit (Pentansäurederivat, MC5) und ein inaktiver Metabolit (Propionsäurederivat, MC3) entstehen. In geringem Umfang wird Tianeptin auch durch N-Demethylierung metabolisiert, während Cytochrom-P450-Isoenzyme nicht an der Biotransformation beteiligt sind.
Tianeptin wird überwiegend renal mit einer Plasmahalbwertszeit von 2,5 bis 3 Stunden eliminiert (MC5: 7 bis 8 Stunden). Bei Patienten älter als 70 Jahre ist die Plasmahalbwertszeit auf 4 bis 9 Stunden verlängert.
Indikationen
Tianeptin wird zur Behandlung von Episoden einer schweren Depression bei Erwachsenen eingesetzt.
Off-label findet eine Anwendung bei Reizdarmsyndrom, posttraumatischer Belastungsstörung und Asthma bronchiale statt.
Darreichungsform
Tianeptin steht in Form von Filmtabletten zur oralen Anwendung zur Verfügung.
Dosierung
Die empfohlene Einzeldosis Tianeptin-Natrium beträgt 12,5 mg, die Tagesmaximaldosis 37,5 mg (3 x 12,5 mg).
Bei Patienten älter als 70 Jahre sowie bei eingeschränkter Nierenfunktion erfolgt eine Dosisanpassung auf 25 mg/Tag (2 x 12,5 mg).
Ein abruptes Absetzen der Therapie darf nicht erfolgen. Die Dosis muss schrittweise über einen Zeitraum von 7 bis 14 Tagen reduziert werden, um Entzugserscheinungen wie bei Opioiden zu vermeiden.
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Nebenwirkungen
Die häufigsten unerwünschten Wirkungen von Tianeptin sind:
- Mundtrockenheit, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Obstipation oder Diarrhö, Globusgefühl
- Schlaflosigkeit, Schläfrigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel
- Tremor
- Tachykardie, Extrasystolen, Brustschmerzen
- Dyspnoe
- Sehstörung
- Rückenschmerzen, Myalgie
Eine besondere Gefährdung während der Anwendung von Tianeptin kann das Auftreten einer Hyponatriämie darstellen, die wahrscheinlich auf ein Schwartz-Bartter-Syndrom (SIADH) zurückzuführen ist. Das betrifft vor allem Patienten mit gestörtem Flüssigkeitshaushalt (z.B. Dehydrierung durch Diuretika), Alkoholkonsum während der Therapie oder Allgemeinanästhesie.
Patienten können während der Therapie mit Tianeptin von einer depressiven Phase in eine manische oder hypomanische Phase übergehen. In diesem Zusammenhang kann es bei Patienten mit suizidalem Verhalten in der Anamnese oder solchen, die vor der Therapie ausgeprägte Suizidabsichten hatten, zur Auslösung von Suizidgedanken oder -versuchen kommen.
Wechselwirkungen
Aufgrund einer Risikoabwägung (Auslösung eines Serotoninsyndroms) sollte bei einer Umstellung von MAO-Hemmern auf Tianeptin der MAO-Hemmer zwei Wochen vor Beginn der Tianeptin-Medikation abgesetzt werden; umgekehrt reicht ein Absetzen von Tianeptin 24 Stunden vor der ersten Medikation des MAO-Hemmers.
Mit einer Verstärkung der Bewusstseinstrübung durch andere Arzneimittel (z.B. Anticholinergika, H1-Antihistaminika, Baclofen, Benzodiazepine, Clonidin, Neuroleptika, Opioide) und durch Alkohol ist zu rechnen.
Kontraindikationen
Die Anwendung von Tianeptin ist kontrainduziert bei:
- Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff oder sonstigen Bestandteilen des Arzneimittels
- gleichzeitiger Anwendung nichtselektiver, irreversibler MAO-Hemmer (z.B. Tranylcypromin)[3]
- Kindern und Jugendlichen jünger als 15 Jahre; bei Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren wird die Anwendung nicht empfohlen.
Missbrauch
Ilegal vermarktete Tianeptin-haltige Produkte werden mit der Behauptung beworben, dass sie kognitive Funktionen verbessern sowie Angstzustände, Depressionen, Schmerzen, Folgen des Opioidkonsums u.v.m. günstig beeinflussen. Fallberichte über den Missbrauch und die Abhängigkeit von Tianeptin betreffen insbesondere Patienten unter 50 Jahren mit einem Alkohol- oder Drogenkonsum in der Anamnese.[4][5]
Schwangerschaft und Stillzeit
Die Datenlage über die klinische Anwendung von Tianeptin in der Schwangerschaft ist bisher (2023) unzureichend, sodass eine Neuverordnung nicht erfolgen sollte und bei einer zwingend notwendigen Fortsetzung der Medikation das Neugeborene intensiv überwacht werden muss. Die Entwicklung einer Opioidabhängigkeit des Fetus und neonatales Abstinenzsyndrom müssen in Betracht gezogen werden.[6]
Eine Behandlung mit Tianeptin während der Stillzeit wird nicht empfohlen. Aufgrund der lipophilen Eigenschaften ist von einem Übertritt in die Muttermilch auszugehen.
Toxizität
Bei Konsumenten, die Tianeptin missbräuchlich eingenommen hatten, wurde über folgende Symptome berichtet: Übelkeit, Erbrechen, Unruhe, Somnolenz, Verwirrtheit, Schwitzen, Tachykardie, Hypertonie. Bei einer Überdosierung von Tianeptin kann die Vigilanzstörung bis zum Koma fortschreiten, das wie bei einer Opioidvergiftung mit einer Atemdepression einhergeht.
Es liegen klinische Erfahrungen bis zu maximalen Einzeldosis von 2.250 mg (ca. 32 mg/kgKG) vor, bei denen auch Krampfanfälle aufgetreten sind. Maßnahmen der primären Giftentfernung wegen der mit der rasch eintretenden Bewusstseinstrübung verbundenen Aspirationsgefahr und Krampfneigung präklinisch nicht sicher einsetzbar. Ein spezifisches Antidot steht bisher (2024) nicht zur Verfügung, aber es kann versucht werden, die Symptome mit Naloxon aufzuheben (Heilversuch). Im Vordergrund stehen aber symptomatische Maßnahmen zur Sicherung der Vitalfunktionen, insbesondere eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff.
ATC-Code
- N06AX14 - Psychoanaleptika - Antidepressiva
Quellen
- ↑ McEwen BS et al. The neurobiological properties of tianeptine (Stablon): from monoamine hypothesis to glutamatergic modulation. Mol Psychiatry. 2010
- ↑ Gassaway et al.The Atypical Antidepressant and Neurorestorative Agent Tianeptine Is a μ-Opioid Receptor Agonist. Transl Psychiatry 2014
- ↑ Tobe EH. Tianeptine in combination with monoamine oxidase inhibitors for major depressive disorder. BMJ Case Rep. 2012
- ↑ Springer J, Cubała WJ. Tianeptine Abuse and Dependence in Psychiatric Patients: A Review of 18 Case Reports in the Literature. J Psychoactive Drugs. 2018
- ↑ Lauhan R et al. Tianeptine Abuse and Dependence: Case Report and Literature Review. Psychosomatics. 2018
- ↑ Bence C et al. Neonatal Abstinence Syndrome Following Tianeptine Dependence During Pregnancy. Pediatrics. 2016
Literatur
- S3-Leitlinie/ Nationale Versorgungs-Leitlinie Unipolare Depression; Langfassung, 2. Auflage, 2015
- Fachinfo Neuraxpharm: Tianeurax® 12,5 mg (Stand: Mai 2019)
- Tianeptine for System Suitability CRS; Safety Data Sheet, abgerufen am 06. Juni 2020
Weblinks
- Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels Stablon, abgerufen am 14.04.2023
- Drugbank - Tianeptine, abgerufen am 14.04.2023
- Pharmazeutische Zeitung Arzneistoffe - Tianeptin, abgerufen am 14.04.2023
- PubChem: 68870
- MeSH: C050504
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