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Aplastische Anämie

(Weitergeleitet von Aplastisches Syndrom)

Synonyme: aplastisches Syndrom, Panmyelopathie, Panmyelophthise
Englisch: aplastic anemia

1. Definition

Eine aplastischen Anämie, kurz AA, ist eine Störung der Knochenmarksfunktion (Knochenmarkinsuffizienz), die mit einer Hypozellularität des Knochenmarks (< 25%) und einer verminderten Bildung aller Blutzellreihen einhergeht. Folglich besteht ein absoluter Mangel an Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten, d.h eine Panzytopenie.

2. Epidemiologie

Die aplastische Anämie ist eine sehr seltene Erkrankung. Die Inzidenz beträgt etwa zwei Fälle, in Thailand und China ungefähr 5 bis 7 Fälle auf eine Millionen Einwohner. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen.

Die AA manifestiert sich zwischen dem 10. und 30. Lebensjahr sowie im höherem Alter. Ein gehäuftes Auftreten findet sich bei hormoneller Umstellung (Adoleszenz, Beginn des Seniums, Schwangerschaft). Weiterhin besteht zum Teil eine Assoziation mit bestimmten HLA-Antigenen (DR2, DPw3).

3. Einteilung

3.1. ...nach Schweregrad

  • nSAA: nichtschwere AA
  • SAA: schwere AA
  • vSAA: sehr schwere AA
Zelllinie nSAA SAA vSAA
Granulozyten < 1.000/µl < 500/µl < 200/µl
Thrombozyten < 50.000/µl < 20.000/µl
Retikulozyten < 60.000/µl < 20.000/µl

3.2. ...nach Ursache

Grundsätzlich wird zwischen einer erworbenen und einer angeboren aplastischen Anämie unterschieden.

3.2.1. Angeborene aplastische Anämie

Verschiedene seltene Syndrome können zu einer angeborenen aplastischen Anämie führen. Diese kann sich bereits im Kindesalter bemerkbar machen, wobei auch Erstmanifestationen im Erwachsenenalter möglich sind. Zu den Erkrankungen, die mit einer hereditären AA einhergehen, zählen beispielsweise:

3.2.2. Erworbene aplastische Anämie

Die aplastische Anämie im engeren Sinne ist eine Erkrankung unbekannter Ursache mit vermuteter immunologischen Pathogenese. Diese idiopathische aplastische Anämie ist für über 70 % der Fälle verantwortlich.

Sie wird von der sekundären AA unterschieden, die entstehen kann durch:

4. Abgrenzung

Die Abgrenzung aplastischer Anämien von anderen Panzytopenien ist nicht immer trennscharf. Die erwartete Myelosuppression nach vorheriger Strahlen- oder Chemotherapie wird von den meisten Autoren nicht als aplastische Anämie gewertet. Es kann sich jedoch auch unter Chemotherapie in seltenen Fällen eine aplastische Anämie als Nebenwirkung entwickeln.

Nicht zu den aplastischen Anämien zählen weiterhin Panzytopenien

sowie Panzytopenien bei normaler oder erhöhter Knochenmarkzellularität oder mit Blasten bzw. Dysplasien im Knochenmark:

5. Pathophysiologie

Bei der aplastischen Anämie kommt es zur Verdrängung der CD34-positiven hämatopoetischen Stammzellen durch Fettmark. Dabei liegen je nach Ursache unterschiedliche pathophysiologische Mechanismen zu Grunde. Die wichtigsten werden im Folgenden besprochen.

5.1. Idiopathische aplastische Anämie

Die idiopathische AA beruht vermutlich auf einer immunologisch bedingten Schädigung. Bei diesen Patienten wird eine erhöhte Zahl aktivierter zytotoxischer T-Zellen beschrieben, wobei Typ-1-Zytokine eine wichtige Rolle spielen. Oligoklonale T-Zell-Klone implizieren eine Auslösung durch Antigenkontakt. Vermutlich spielen Prädispositionen durch bestimmte Polymorphismen der HLA-Gene und andere genetische Faktoren eine modulierende Rolle bei dieser Autoimmunreaktion. Die immunologische Pathogenese erklärt das Ansprechen auf Immunsuppressiva.

5.2. Kongenitale Formen

Bei kongenitalen Formen liegt ein angeborener Stammzelldefekt vor, z.B. eine chromosomale Instabilität (Fanconi-Anämie) oder eine Telomeropathie (Dyskeratosis congenita).

5.3. Hepatitis

Eine Hepatitis geht ungefähr 5 % der aplastischen Anämien voraus. Meist sind junge Männer betroffen und in fast allen Fällen verläuft sie seronegativ (non-A, non-B, non-C). Vermutet wird ein noch unbekanntes Virus.

5.4. Parvovirus B19

Das Parvovirus B19 verursacht bei einer hämolytischen Anämie vorübergehende aplastische Krisen. Weiterhin kann es eine "Pure red cell aplasia" bedingen. Meisten entsteht jedoch keine generalisierte Knochenmarkinsuffizienz, sondern nur eine leichte Zytopenie.

5.5. Medikamente und Chemikalien

Benzol ist für die Induktion von Knochenmarkversagen seit langem bekannt. Im Gegensatz dazu ist die Assoziation zwischen aplastischer Anämie und anderen Substanzen deutlich schlechter belegt. Dazu zählen:

Weiterhin besteht eine unsichere Assoziation bei einer Vielzahl von anderen Medikamenten, z.B. Tetrazyklin, Allopurinol oder Lithium.

Diese Substanzen rufen eine idiosynkratische Reaktion hervor - vermutlich durch hochreaktive Metabolite. So sind zum Beispiel im Stoffwechsel entstehende Hydrochinone und Chinone für den benzolinduzierten Gewebeschaden verantwortlich. Die überschießende Bildung dieser Metaboliten könnte genetisch determiniert sein. Die Komplexität und Spezifität der einzelnen Stoffwechselwege erklärt die Seltenheit der idiosynkratischen Reaktionen.

6. Symptome

Eine AA kann plötzlich oder schleichend beginnen. Dabei ist die erhöhte Blutungsneigung aufgrund der Thrombopenie meist das erste Symptom. Neben Petechien klagen die Patienten über vermehrte Hämatome, Zahnfleisch- und Nasenbluten sowie über eine verstärkte Menstruationsblutung. Massive Hämorrhagien sind eher selten, jedoch kann eine kleine intrakranielle oder retinale Blutung bereits zu massiven Komplikationen führen.

Anämiesymptome sind ebenfalls häufig. Dazu zählen typischerweise Müdigkeit, verminderte Leistungsfähigkeit, Kopfschmerzen, Belastungsdyspnoe, Tachykardie und Schwindel.

Infektionen entstehen im Gegensatz zur Agranulozytose meist erst im Verlauf der Erkrankung. Dabei können beispielsweise Ulzera der Mund- und Rachenschleimhaut, eine nekrotisierende ulzerierende Gingivitis, Pneumonien und im schlimmsten Fall eine Sepsis entstehen.

7. Diagnostik

Die diagnostischen Maßnahmen dienen in erster Linie der Ursachenabklärung.

7.1. Anamnese

Eine sorgfältige Anamnese ist entscheidend. Dabei sollte insbesondere auf die Medikamenteneinnahme und auf vorausgegangene Viruserkrankungen geachtet werden. Sekundäre Ursachen einer Panzytopenie lassen sich meist durch die Vorgeschichte aufdecken, z.B. bei einer Tumorerkrankung oder durch eine vorangegangene Strahlentherapie. Gewichtsverlust oder andere Allgemeinsymptome sind untypisch für eine AA.

7.2. Körperliche Untersuchung

In der körperlichen Untersuchung finden sich häufig Petechien und Ekchymosen, gelegentlich retinale Einblutungen. Café-au-lait-Flecken und ein Kleinwuchs sollten an eine Fanconi-Anämie, Onychodystrophie und Leukoplakien an eine Dyskeratosis congenita denken lassen. Lymphadenopathie und Splenomegalie sind untypisch für eine AA.

7.3. Labordiagnostik

Bei der Knochenmarkpunktion erscheint der Stanzzylinder aufgrund des erhöhten Fettgehaltes blass. Der Anteil der Hämatopoese nimmt bei der AA definitionsgemäß weniger als 25 % der Markfläche ein, meist besteht das Biopsat nur aus Fettmark. Bei schwerer AA können sich im Ausstrich nur Erythrozyten, wenige Lymphozyten und Stromazellen finden. Dabei besteht jedoch keine sichere Korrelation zwischen Zellularität und Erkrankungsschwere. Die vorzufindenden hämatopoetischen Zellen sollten keine morphologischen Veränderungen aufweisen, allenfalls wenige Megaloblasten. Megakaryozyten fehlen meist.

7.4. Weiterführende Diagnostik

  • Chromosomenbruchanalyse: Untersuchung auf chromosomale Fragilität an peripheren Blutzellen mittels Diepoxybutan (DEB) oder Mitomycin C zum Ausschluss einer Fanconi-Anämie
  • Telomerlängenbestimmung (Dyskeratosis congenita)
  • Molekulargenetische Untersuchung

8. Differenzialdiagnostik

  • Myeloblasten im Ausstrich sprechen für eine Leukämie oder ein myelodysplastisches Syndrom, Erythroblasten finden sich bei einer Myelofibrose oder einem Befall des Knochenmarks durch Tumore
  • Veränderte Thrombozyten zeigen ein myelodysplastisches Syndrom oder eine periphere Zerstörung der Thrombozyten an
  • Bestimmung von Vitamin B12 und Folsäure
  • Antinukleäre und dsDNA-Antikörper
  • Virusdiagnostik: Hepatitisviren, HIV, EBV, CMV (posthepatische AA verläuft meist seronegativ)
  • Durchflusszytometrie zum Ausschluss einer paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie
  • Eine Punctio sicca findet sich bei einer Knochenmarkfibrose
  • Granulome im Knochenmark können auf eine infektiöse Ursache hindeuten
  • Zytogenetische Untersuchungen im Knochenmark können z.B. ein myelodysplastisches Syndrom ausschließen.

Differenzialdiagnostische Schwierigkeiten entstehen bei atypischen Verläufen und bei der Abgrenzung von verwandten hämatologischen Erkrankungen. So entwickeln zum Beispiel einige Patienten mit aplastischer Anämie erst im Verlauf eine Panzytopenie. Weiterhin ist die AA von den hypozellulären Varianten des MDS oft nur schwer abgrenzbar.

9. Therapie

Eine schwere AA kann durch eine Stammzelltransplantation (SZT) geheilt werden. Auch eine Immunsuppression verbessert den Verlauf in vielen Fällen. Auslösende Medikamente oder Chemikalien sollten vermieden werden. Nur bei moderat verminderten Zellzahlen kann in Einzelfällen auf eine spontane Erholung gewartet werden.

9.1. Hämatopoetische Stammzelltransplantation

Die Transplantation von allogenen hämatopoetischen Stammzellen erfolgt bevorzugt aus dem Knochenmark eines histokompatiblen (HLA-identischen) Familienspenders. Sie gilt als die Erstlinientherapie der SAA und vSAA bei unter 50-Jährigen.

Entsprechend sollte bei jedem jungen Erwachsenen direkt nach Diagnosestellung eine HLA-Typisierung erfolgen. Bis dahin muss eine Bluttransfusion von Familienmitgliedern vermieden werden, um eine Sensibilisierung zu vermeiden. Das Langzeitüberleben nach HLA-kompatibler Transplantation beträgt bei Kindern fast 90 %. Bei Erwachsenen erhöht sich die Morbidität und Mortalität aufgrund des erhöhten Risikos für chronische Graft-versus-Host-Reaktion und Infektionen.

Obwohl eine SZT bei jungen Patienten mit kompatiblen Fremdspendern vergleichbare Ergebnisse zeigt, ist der Stellenwert als Primärtherapie aktuell (2019) noch umstritten.

9.2. Immunsuppression

Die intensivierte immunsuppressive Therapie wird standardmäßig mit Antithymozytenglobulin vom Pferd (hATG) und Ciclosporin A (CSA) durchgeführt. Sie gilt als Erstlinientherapie bei:

  • nSAA mit Substitutionsbedarf
  • SAA und vSAA bei Patienten über dem 40. Lebensjahr
  • SAA und vSAA bei Patienten unter dem 40. Lebensjahr ohne histokompatiblen Spender

Grundsätzlich wird die Entscheidung zur SZT oder Immunsuppression individuell getroffen. Ältere Patienten werden in der Regel selbst bei passendem Spender mittels Immunsuppression behandelt. Das Langzeitüberleben der beiden Therapieformen ist vergleichbar. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine erfolgreiche SZT kurativ ist, während Patienten nach Immunsuppression ein erhöhtes Risiko für ein Rezidiv oder eine maligne Transformation haben. Nach 6 Jahren entwickeln ungefähr 4 % der Patienten eine sekundäre klonale Neoplasie, meist ein myelodysplastisches Syndrom oder eine Leukämie.

Bei 60 bis 70 % der Erwachsenen kann mittels immunsuppressiver Therapie eine hämatologische Remission erreicht werden. Kinder sprechen noch besser auf diese Therapie an. Die Remission ist definiert durch die fehlende Notwendigkeit von Transfusionen und Erreichen einer ausreichenden Leukozytenzahl. Meist kann nach ungefähr zwei Monaten ein Anstieg der Granulozytenzahl erreicht werden. Nach Absetzen kommt es jedoch in 35 % der Fälle zum Rezidiv, sodass bei einigen Patienten eine Dauertherapie notwendig ist.

Pferde-Antithymozytenglobulin wird intravenös über vier Tage verabreicht. Bei fehlendem Ansprechen kann Antithymozytenglobulin vom Kaninchen (rATG) verwendet werden. Während der Therapie können die Thrombozyten- und Granulozytenzahlen anfangs weiter abfallen. Meist entwickelt sich zehn Tage nach Therapiebeginn eine Serumkrankheit mit grippeähnlichen Symptomen, Hautausschlägen und Arthralgien. Zur Prophylaxe wird Methylprednisolon eingesetzt.

Ciclosporin A wird zunächst hochdosiert per os verabreicht. Anschließend wird die Dosis alle 2 Wochen je nach Serumspiegel angepasst. Die wichtigsten Nebenwirkungen umfassen Nephrotoxizität, Hypertonie, Krampfanfälle und opportunistische Infektionen (v.a Pneumocystis jirovecii). Eine prophylaktische Therapie mit Cotrimoxazol oder Pentamidin wird empfohlen.

9.3. Supportive Therapie

Patienten mit AA benötigen eine sorgfältige Überwachung. Während grundsätzliche Hygienemaßnahmen wie keimarme Räume und Mundschutz notwendig sind, verringert die komplette Umkehrisolation die infektionsbedingte Mortalität nicht. Infektionen bei schwerer Neutropenie müssen konsequent behandelt werden. Meist wird Ceftazidim oder eine Kombination aus einem Aminoglykosid, einem Cephalosporin und einem Penicillin-Derivat verwendet. Bei Hinweisen auf Katheterinfektionen wird Vancomycin hinzugefügt. Persistierendes oder rezidivierendes Fieber deutet auf eine Pilzinfektion hin, sodass frühzeitig Antimykotika verabreicht werden.

Thrombozytenkonzentrate (TKs) und Erythrozytenkonzentrate (EKs) werden je nach Situation supportiv eingesetzt. Bei häufigen Transfusionen muss eine sekundäre Hämochromatose mittels Eisenchelatoren verhindert werden.

9.4. Weitere Therapien

Patienten mit leichter AA, insbesondere bei Telomeropathie oder nach Versagen einer Immunsuppression, können versuchsweise für 3 bis 4 Monate mit Androgenen behandelt werden.

Der Einsatz von hämatopoetische Wachstumsfaktoren (rekombinantes Erythropoetin, G-CSF) ist umstritten. Zur Initialtherapie werden sie nicht empfohlen. Thrombopoietin-Rezeptor-Agonisten (Eltrombopag, Romiplostim) können bei refraktärer AA wirksam sein.

10. Prognose

Der natürliche Verlauf einer schweren AA besteht aus einer progredienten Verschlechterung mit einer Letalität von 70 %.

Dabei ist die Prognose abhängig von der Zellzahl der einzelnen Blutreihen. Im Gegensatz zur oben genannten Klassifikation empfehlen einige Autoren die Retikulozytenzahl > 25.000/µl sowie die absolute Lymphozytenzahl > 1.000/µl als bessere Vorhersagefaktoren des Therapieansprechens und der Langzeitprognose.

Stichworte: Anämie, Blutbildung
Fachgebiete: Hämatologie

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