Valproinsäure
Synonyme: Valproat, Acidum valproicum, 2-Propylvaleriansäure, Dipropylessigsäure
Handelsnamen: Convulex®, Depakine®, Ergenyl chrono®, Orfiril long®, Valpro®, Valproat® u.a.
Englisch: valproic acid, valproate sodium
Definition
Valproinsäure ist ein Arzneistoff, der aufgrund seiner antikonvulsiven Wirkung zur Behandlung der Epilepsie und stimmungsstabilisierend bei manischen Episoden bipolarer Störungen eingesetzt wird.
Chemie
Valproinsäure ist eine synthetisch hergestellte Carbonsäure (Fettsäurederivat). Die Summenformel ist C8H16O2. Der chemische Name ist
- 2-Propylpentansäure (IUPAC)
Die molare Masse beträgt 144,21 g/mol, der Oktanol-Wasser-Koeffizient (logP) 2,75. Die CAS-Nummer lautet 99-66-1. Die Substanz liegt bei Raumtemperatur als farblose bis schwach gelbliche, klare und schwach viskose Flüssigkeit vor, die in Wasser sehr schwer löslich ist. Das Natriumsalz der Valproinsäure, ein weißes, kristallines und hygroskopisches Pulver, das in Wasser sehr leicht löslich ist, wird als Valproat bezeichnet. In der EU gibt es auch Arzneimittel, die Valproinsäure als Magnesiumvalproat, Valproat-Seminatrium oder Valpromid enthalten.
Wirkmechanismus
Der Mechanismus der antikonvulsiven und der antimanischen Wirkung der Valproinsäure ist bisher (2024) nicht vollständig geklärt. Im Tierexperiment wurde die Unterdrückung unterschiedlich ausgelöster Krampfanfälle gezeigt. Auch beim Menschen ist Valproinsäure bei verschiedenen Epilepsieformen antikonvulsiv wirksam.
Valproinsäure besitzt die Fähigkeit, Ionenkanäle im ZNS zu verschließen, sodass die Ionen nicht mehr in die Zelle gelangen und dort zur Ausbildung eines Aktionspotentials führen können. Zu den betroffenen Kanälen gehören die Natriumkanäle und die Calciumkanäle. Beide sind für die Entstehung der vermehrten Aktionspotentiale bei Epilepsien verantwortlich.
Wahrscheinlich wirkt Valproat zudem über eine Verstärkung der GABAergen Aktivität, die eine Ausbreitung der Entladung verhindert oder begrenzt. Durch den verstärkten Einstrom an Chloridionen wird die neuronale Erregbarkeit herabsetzt. Valproinsäure verstärkt die Wirkung des Neurotransmitters, indem sie den Abbau von GABA zu Succinatsemialdehyd durch die GABA-Transaminase hemmt. Darüber hinaus wird die GABA-Synthese stimuliert.
Pharmakokinetik
Nach oraler Aufnahme dissoziiert Valproat im Magen zu Valproinsäure und Natriumionen. Valproinsäure wird intestinal schnell und fast vollständig resorbiert. Nach Einnahme retardierter Arzneiformen werden maximale Plasmaspiegel innerhalb von 6 bis 7 Stunden (Ergenyl chrono®) bzw. 8 bis 11 Stunden (Orfiril long®) und der Steady-State innerhalb von 3 bis 4 Tagen erreicht. Die Plasmaproteinbindung beträgt 90 bis 95 %, der freie Anteil nimmt mit steigender Dosis und bei Einschränkung der Nierenfunktion zu. Das Verteilungsvolumen ist altersabhängig und beträgt in der Regel 0,13 bis 0,23 l/kgKG. Die extensive Biotransformation in der Leber erfolgt vor allem durch Glucuronidierung über UGT1A3, UGT1A6, UGT1A9 und UGT2B7 sowie über die Cytochrom-P450-Isoenzyme CYP2A6, CYP2B6, CYP2C9 und CYP2C19 und durch Beta-, Omega- und Omega-1-Oxidation. Die bei der Omega-Oxidation entstehenden Metaboliten sind hepatotoxisch. Die Glucuronide werden renal eliminiert. Weniger als 3 bis 5 % der applizierten Dosis werden unverändert mit dem Urin ausgeschieden. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt bei Erwachsenen 13 bis 19 Stunden (12 bis 16 h bei Orfiril long®; 17–19 h bei Ergenyl chrono®), bei Neugeborenen 10 bis 67 Stunden, bei Kindern unter 2 Monaten 7 bis 13 Stunden.
Indikationen
Folgende Anfallsformen können mit Valproinsäure behandelt werden:
- Generalisierte epileptische Anfälle: tonisch-klonische Anfälle (Grand-mal-Anfall), Absenceepilepsie, myoklonische Anfälle (z.B. Juvenile myoklonische Epilepsie)
- Fokale Anfälle (z.B. Jackson-Anfall); fokale Anfälle mit sekundärer Generalisation
- Fokale Anfälle mit einfacher und komplexer Symptomatologie (z.B. Temporallappenepilepsie)
Bei einer bipolaren Störung ist Valproinsäure in retardierter Form zur Behandlung von manischen Episoden zugelassen, wenn Lithium kontraindiziert ist oder nicht vertragen wird. Eine Weiterbehandlung ist zugelassen, wenn die akute Phase auf die Behandlung angesprochen hat. Es besteht auch eine phasenprophylaktische Wirksamkeit.
Valproat wird im Off-Label-Use zur Prophylaxe von Migräneanfällen bei Erwachsenen angewendet, wenn eine Behandlung mit anderen dafür zugelassenen Arzneimitteln nicht erfolgreich war oder nicht angewendet werden darf.
Darreichungsform
Valproinsäure steht in Form von magensaftresistenten Tabletten (auch als Retardtabletten, Minitabletten, Minipacks), Dragees, Kapseln, als Injektionslösung, Sirup, Lösung und Tropfen zur oralen und parenteralen Anwendung zur Verfügung.
Dosierung
Vor Behandlungsbeginn sollte bei Mädchen und gebärfähigen Frauen ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden.
Epilepsie
Bei einer Monotherapie mit Valproinsäure beträgt die empfohlene initiale Dosierung 5 bis 10 mg/kgKG, verteilt auf auf 2 bis 4 Einzelgaben. Es erfolgt eine schrittweise Erhöhung alle 4 bis 7 Tage um etwa 5 mg/kgKG, bis Anfallskontrolle erreicht ist. Die mittlere Tagesdosis liegt bei Erwachsenen bei 20 mg/kgKG (Jugendliche 25 mg/kgKG; Kinder 30 mg/kgKG.
Bei der Kombinationstherapie müssen vor allem die diesbezüglichen Wechselwirkungen beachtet werden (siehe dort). Wird ein anderes Antikonvulsivum abgesetzt, muss das ausschleichend, wird es angesetzt, muss es einschleichend erfolgen.
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Manische Episoden bei bipolaren Störungen
Die empfohlene initiale Dosierung beträgt 750 mg/d (20 mg Valproat/kgKG) verteilt auf 1 bis 2 Einzeldosen. Als Erhaltungsdosis werden bei Erwachsenen in der Regel 1.200 bis 2.000 mg täglich verordnet.
Maximaldosis: Orfiril long® 2.500 mg täglich; Ergenyl chrono® 2.000 mg täglich.
Die Dosierung soll an die Plasmakonzentration angepasst werden (siehe Therapeutisches Drug Monitoring).
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Nebenwirkungen
Die Patienten sind über die Frühsymptome möglicher Organschädigungen aufzuklären:
- Knochenmarkschädigung: Fieber, Halsschmerzen, Ulzera im Mund, Hämatome
Weitere häufige unerwünschte Wirkungen durch Valproinsäure sind:
- zentralnervöse Störungen: Tremor, extrapyramidale Störungen, Parästhesien, Taubheit, Kopfschmerzen, Schwindel, Somnolenz, Stupor, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, Verwirrtheit, Halluzinationen, Agitiertheit, Aggressivität, Nystagmus, Krampfanfälle
- Störungen der Leberfunktion: Hyperammonämie, Gewichtszunahme oder -abnahme, Appetitstörung, Übelkeit,Diarrhö
- Störungen der Blutbildung: Anämie, Thrombozytopenie, Leukozytopenie (gehäuft bei Kindern und Jugendlichen)
- Hyponatriämie, periphere Ödeme
- Vorübergehender und/oder dosisabhängiger Haarausfall; Nagel- und Nagelbetterkankungen
- Harninkontinenz
- Dysmenorrhö
Wechselwirkungen
Durch die ausgeprägte Verstoffwechslung über Cytochrom-P450-Isoenzyme sind zahlreiche Interaktionen möglich.
Folgende Arzneistoffe können die Wirkung von Valproinsäure verstärken (Auswahl):
Durch Enzyminduktion kommt es zu einem Wirkungsverlust. Die Eliminationshalbwertszeit von Valproinsäure kann auf 4 bis 9 Stunden sinken. Folgende Arzneistoffe können z.B. die Wirkung von Valproinsäure verringern (Auswahl):
Andersherum kann auch Valproinsäure die Wirkung von verschiedenen Medikamenten verstärken, z.B.:
- Phenobarbital
- Phenytoin
- Primidon
- Carbamazepin
- Felbamat
- Lamotrigin
- Neuroleptika
- Benzodiazepine
- Barbiturate
- MAO-Hemmer
- Codein
- Zidovudin
- Gerinnungshemmer (z.B. Vitamin-K-Antagonisten)
Bei einer Kombinationstherapie (insbesondere mit Phenobarbital, Phenytoin, Topiramat) oder nach einer raschen Dosissteigerung kann sich eine Enzephalopathie ausprägen.
Weitere Hinweise
Auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch kann das Reaktionsvermögen so weit verändert sein, dass beispielsweise die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am Straßenverkehr oder zum Bedienen von Maschinen beeinträchtigt wird.
Besondere Aufmerksamkeit muss auf folgende Anzeichen einer Leberschädigung gerichtet werden, die meist innerhalb der ersten 6 Monate einer Therapie auftritt:
- Verringerung der antiepileptischen Wirkung, die durch erneutes Auftreten oder Zunahme epileptischer Anfälle gekennzeichnet ist
- länger dauernde Symptome wie körperliches Schwächegefühl, Teilnahmslosigkeit, Appetitlosigkeit, Übelkeit und wiederholtes Erbrechen oder unklare Oberbauchbeschwerden
- generalisierte oder auf einzelne Körperteile begrenzte Ödeme
- Bewusstseinsstörungen mit Verwirrtheit, Unruhe und Bewegungsstörungen
Ein sofortiger Therapieabbruch ist zu erwägen bei:
- Nicht erklärbarer Störung des Allgemeinbefindens
- klinischen Zeichen einer Leber- oder Pankreasaffektion oder Blutungsneigung
- mehr als 2 bis 3-facher Erhöhung der Lebertransaminasen auch ohne klinische Zeichen
- leichte Erhöhung der Lebertransaminasen bei gleichzeitigem akut fieberhaftem Infekt
- ausgeprägter Störung des Gerinnungsstatus
Kontraindikationen
- Überempfindlichkeit gegenüber Valproinsäure oder die entsprechenden Salze
- Leberfunktionsstörungen
- Nierenfunktionsstörungen
- Pankreasfunktionsstörungen
- Porphyrie
- Diabetes mellitus
- Schwangerschaft, wenn eine alternative Behandlung möglich ist (s.u.)
- Frauen im gebärfähigen Alter, wenn die Bedingungen des Schwangerschaftsverhütungsprogramms nicht eingehalten werden
- Störungen des Harnstoffzyklus
- Blutgerinnungsstörungen
- einige mitochondriale Erkrankungen
- unbehandelter primärer systemischer Carnithinmangel
Vaterschaft, Schwangerschaft und Stillzeit
Aufgrund einer retrospektiven Beobachtungsstudie besteht für Kinder von Männern, die innerhalb von drei Monaten bis zur Zeugung mit Valproinsäure behandelt wurden, ein potenzielles Risiko für die Ausprägung neurologischer Entwicklungsstörungen (Autismus-Spektrum-Störung, intellektuelle Behinderung, ADHS). Die Behandlung mit Valproinsäure bei männlichen Patienten, die eine Vaterschaft planen, muss sorgfältig abgewogen werden.[2][3]
Valproinsäure darf bei gebärfähigen Frauen oder Mädchen nur angewendet werden, wenn die Bedingungen eines Programms zur Schwangerschaftsprävention erfüllt sind, mit dem sichergestellt wird, dass Patientinnen vollumfänglich auf die Risiken sowie die Notwendigkeit, eine Schwangerschaft zu vermeiden, hingewiesen werden.[4]
In der EU besteht ein Verbot der Behandlung einer Epilepsie mit Valproinsäure während der Schwangerschaft, es sei denn, es ist keine andere wirksame Behandlung verfügbar. Ebenso ist die Anwendung von Valproinsäure gegen Migräne oder bipolare Störung während der Schwangerschaft verboten.[5]
Therapeutisches Drug Monitoring
Zur optimalen Therapieeinstellung und zur Verhinderung von Überdosierungen sollte ein therapeutisches Drug Monitoring (TDM) des Plasmaspiegels erfolgen. Vorgesehene Zeitpunkte sind im ersten, dritten und sechsten Monat nach Therapiebeginn; danach vierteljährlich und langfristig halbjährlich. Für die Untersuchung wird jeweils 1 ml Plasma benötigt.
Bewertung
Der mittlere therapeutische Bereich liegt bei 40 bis 100 mg/L (300 bis 700 μmol/L; freier Anteil ca. 5 bis 10 mg/l). Bei Werten oberhalb von 100 mg/L ist vermehrt mit Nebenwirkungen, oberhalb von 150 mg/l mit Vergiftungserscheinungen zu rechnen. Im Liquor erreicht Valproinsäure 10 % der jeweiligen Serumkonzentration.
Labormedizin
Folgende Routineuntersuchungen sollten durchgeführt werden, um bei einer Langzeittherapie mit Valproinsäure frühzeitig Funktionsstörungen der Leber, der Bauchspeicheldrüse, des Knochenmarks und Blutgerinnung zu erkennen:
- vor Therapiebeginn und monatliche Kontrollen: Blutbild, Kreatinin, Leberenzyme, Bilirubin, Gerinnungsstatus (PTT, INR, Fibrinogen, Faktor VIII)
- vor Therapiebeginn und nach 6 Monaten: Pankreasenzyme
Kontrolluntersuchungen
Als weitere Kontrolluntersuchungen werden vor Therapiebeginn und in bestimmten Abständen empfohlen:
Toxikologie
Bei Erwachsenen wurde von Intoxikationen ab einer Einzeldosis von 2.000 mg berichtet. Symptome sind gestörte Vigilanz mit Somnolenz bis hin zum Koma, z.T. auch Unruhe bzw. Agitiertheit und Halluzinationen. Weiterhin besteht die Gefahr von Krämpfen, Ataxie, Hirnödem, Atemdepression, Störungen der Blutgerinnung, Hypotonie, Bradykardie und Asystolie.
Bei oraler Überdosierung stehen resorptionsvermindernde Maßnahmen (Aktivkohle) im Vordergrund. Liegt die Einnahme länger zurück, haben sich Hämodialyse und Hämoperfusion als sinnvoll erwiesen. Des Weiteren ist für einen ausreichenden Volumenersatz sowie Elektrolyt- und Azidose-Ausgleich zu sorgen. Die Möglichkeit einer künstlichen Beatmung muss sichergestellt werden. Zur Thromboseprophylaxe werden Heparine verabreicht.
ATC-Code
- N03AG01 - Antiepileptika - Fettsäure-Derivate
Quellen
- ↑ Administration of methotrexate in patients taking sodium valproate may reduce seizure or mood control. Prescriber Update 2023, Abgerufen am 15.08.2023
- ↑ Potential risk of neurodevelopmental disorders in children born to men treated with valproate medicines: PRAC recommends precautionary measures. EMA 12.01.2024, abgerufen am 29.01.2024
- ↑ Valproat: Neue Maßnahmen in Bezug auf das mögliche Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen bei Kindern von Vätern, die in den drei Monaten vor der Zeugung mit Valproat behandelt wurden. Rote Hand Brief 19.02.2024, abgerufen am 19.02.2024
- ↑ Arzneimittel, die Valproat und -verwandte Substanzen enthalten: Risiko für Anomalien des Neugeborenen. Rote Hand Brief Dezember 2014, abgerufen 31.01.2024
- ↑ Neue Maßnahmen zur Vermeidung einer Valproatexposition in der Schwangerschaft befürwortet. EMA 31.05.2018, abgerufen am 29.01.2024
Literatur
- Aktories K et al, Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 13. Aufl., München: Elsevier 2022
- Benkert O, Hippius H. Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 14. Aufl., Berlin : Springer 2023
- Freissmuth M, Offermanns S, Böhm S. Pharmakologie und Toxikologie. 3. Aufl., Berlin : Springer 2020
- Geisslinger G et al. Mutschler Arzneimittelwirkungen: Pharmakologie - Klinische Pharmakologie - Toxikologie. 11, Aufl., Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2020
- Krämer G. Valproinsäure. 2. Aufl., Berlin et al. : Springer 2002
Weblinks
- Drugbank - Valproic acid, abgerufen am 29.01.2024
- Gelbe Liste Wirkstoffe - Valproinsäure, abgerufen am 29.01.2024
- PharmaWiki - Valproinsäure, abgerufen am 29.01.2024
- PubChem: 3121
- MeSH: 68014635