Nystagmus
von altgriechisch: νυσταγμός ("nystagmos") - Schläfrigkeit
Englisch: nystagmus, nystaxis
Definition
Mit dem Begriff Nystagmus beschreibt man unwillkürliche, rhythmisch-periodisch verlaufende Bewegungen des Auges.
Abgrenzung
Nystagmusähnliche, unwillkürliche Augenbewegungen ohne rhythmisch-periodische Eigenschaften und ausschließlich rascher Bewegungskomponente werden als sakkadische Augenbewegungsstörungen bezeichnet. [1] Sie umfassen sakkadische Intrusionen (z.B. Kippdeviationen) und Oszillationen (z.B. Opsoklonus).[2][3][4]
Einteilung
...nach Schlagform
- Rucknystagmus: Er besteht aus einer raschen Bewegungskomponente in eine Richtung und einer langsamen Komponente in die Gegenrichtung. Der Nystagmus wird nach der Richtung der raschen Komponente benannt, da diese besser zu sehen ist.
- Pendelnystagmus (undulierender Nystagmus): Hier liegt eine pendelförmige Augenbewegung ohne Unterschiede in der Schlaggeschwindigkeit vor.
...nach Schlagrichtung
- Horizontaler Nystagmus: Die Augenbewegungen schlagen in der Horizontalebene nach rechts und links aus, z.B.:
- horizontaler Ruck- oder Pendelnystagmus
- geotroper bzw. apogeotroper Nystagmus bei benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel (BPLS)
- periodisch alternierender Nystagmus: horizontaler Nystagmus, der alle 1 bis 3 Minuten langsam seine Richtung umkehrt
- Vertikaler Nystagmus: Die Augenbewegungen schlagen in der Frontalebene nach oben und unten aus, z.B.:
- Upbeat-Nystagmus
- Downbeat-Nystagmus
- vertikaler Pendelnystagmus
- Rotatorischer (torsioneller) Nystagmus: Kreisende Augenbewegungen
- Kombinierte Nystagmen, z.B. Upbeat-Nystagmus mit torsioneller Komponente bei BPLS, See-Saw-Nystagmus
...nach betroffenem Auge
- monokulärer vs. binokulärer Nystagmus: ein Auge oder beide Augen
- konjugierter (gleichgerichtete Bewegung) vs. diskonjugierter Nystagmus (entgegengerichtete Bewegung)
- dissoziierter Nystagmus: auf einem Auge bzw. einseitig deutlich stärker ausgeprägt (z.B. bei INO)
...nach Auslösbarkeit bzw. Unterdrückbarkeit
- Spontannystagmus: Tritt bereits in Ruhestellung auf
- Fixationssupprimierbarer Spontannystagmus: Er wird durch Blickfixierung auf ein Objekt abgeschwächt und durch die Frenzelbrille verstärkt; meist peripher-vestibulären Ursprungs.
- zentraler Fixationsnystagmus: Er kann durch Fixation nicht unterdrückt werden, sondern wird eher noch verstärkt; typisch für zentrale Störung auf Ebene des Hirnstamms oder Kleinhirns.
- Blickrichtungsnystagmus (BRN): Die schnelle Komponente geht jeweils in die Blickrichtung und wird daher auch "richtungswechselnder Nystagmus" genannt. Anhand der betroffenen Blickrichtungen können Rückschlüsse auf den Läsionsort gezogen werden. Die Einteilung des BRN erfolgt in drei Ausprägungen:
- erschöpflicher Endstellnystagmus: physiologische Nystagmusform bei maximaler Augenauslenkung für weniger als 10 Sekunden
- unerschöpflicher Endstellnystagmus: bei maximaler Auslenkung für über 10 Sekunden, in Kombination mit weiteren Augenbewegungsstörungen meist pathologisch
- Blickrichtungsnystagmus im engeren Sinne: nicht nur Endstellnystagmus, als pathologisch zu werten
- Provokationsnystagmen: Sie sind durch vestibuläre Reize auslösbar.
- Kopfschüttelnystagmus
- peripherer Lagerungsnystagmus: durch Lagerungsmanöver bei BPLS auslösbar
- zentraler Lagenystagmus: durch Einnahme einer bestimmten Kopfposition auslösbar
- Rebound-Nystagmus
- Konvergenz-Retraktions-Nystagmus
...nach (patho-)physiologischem Hintergrund
Physiologischerweise auslösbare Nystagmen sind:
- rotatorischer und postrotatorischer Nystagmus: durch anhaltende Kopfrotation auslösbar
- optokinetischer Nystagmus: bei Fixierung eines (relativ-)bewegten Objektes, z.B. von Bäumen aus einem fahrenden Zug
- kalorischer Nystagmus: bei Hitze-/Kältereiz am horizontalen Bogengang (z.B. Einlassen von Luft/Flüssigkeit in den Gehörgang)
- erschöpflicher Endstellnystagmus (s.o.)
Bei den pathologisch auftretenden Nystagmusformen unterscheidet man nach Lokalisation des ursächlichen Prozesses:
- vestibulärer (peripherer) Nystagmus: Ursache im Vestibularorgan oder im Nervus vestibularis, z.B.:
- Reiznystagmus: durch einseitige Reizung des Vestibularapparates, z.B. bei Labyrinthitis, BPLS (ampullopetale Otolitenbewegung), zu Anfang einer Menière-Attacke
- Ausfallnystagmus: durch einseitigen Ausfall des Vestibularapparates, z.B. bei Neuropathia vestibularis, BPLS (ampullofugale Otolitenbewegung), im Verlauf einer Menière-Attacke
- zentraler Nystagmus: Ursache in Kleinhirn oder Hirnstammanteilen
...nach Zeitpunkt des Auftretens
- infantiler Nystagmus (früher "kongenitaler" Nystagmus): in den ersten Lebenswochen bis -monaten auftretende Nystagmusformen verschiedener Ätiologie und Charakteristik
- adulter (früher "erworbener") Nystagmus
Physiologie
Die Physiologie bzw. Pathophysiologie der einzelnen Nystagmusformen unterscheidet sich für die jeweiligen Unterformen.
Peripher-vestibulären Rucknystagmen liegt meist der vestibulookuläre Reflex (VOR) zugrunde, also ein in den Bogengängen ausgelöster, über die Nuclei vestibulares und die Augenmuskelkerne verschalteter Reflex. Dieser ermöglicht es normalerweise, bei Kopfdrehung durch gegensinnige Augenbewegung ein Objekt zu fixieren. Bei einem Rucknystagmus bildet der VOR die langsame Bewegungskomponente. Bei der schnellen Komponente handelt es sich dagegen um eine Rückstellbewegung (Sakkade), die dadurch zustande kommt, dass die Augenmuskeln nur einen begrenzten Bewegungsumfang haben. Sobald dieser ausgeschöpft ist, vollführen die Augen die Sakkade, um ein neues Objekt zu fixieren.
Zentrale Nystagmen haben sehr unterschiedliche Ursachen. Beim häufigen Blickrichtungsnystagmus kann der Patient die Augen nicht in einer exzentrischen Position halten. Hierdurch driften die Augen langsam in die Nullposition zurück. Zur Korrektur erfolgt dann eine Rückstellsakkade in die exzentrische Zielposition (schnelle Nystagmuskomponente).
Klinik
Ein Nystagmus kann ohne weitere Begleitsymptome auftreten oder sich durch Oszillopsien und Gangunsicherheit äußern. Häufig finden sich auch Schwindel oder andere okulomotorische Defekte.
Diagnostik
Am besten sieht man einen Nystagmus bei der Untersuchung des Patienten unter der Frenzelbrille. Diese dient einerseits der Vergrößerung des Auges zur besseren Inspektion durch den Arzt, andererseits verhindert sie, dass der Patient seinen Blick fixieren kann. Letzteres dient der Unterscheidung eines fixationssupprimierbaren Spontannystagmus und eines Fixationsnystagmus (s.o.). Allerdings besteht in der Regel keine Möglichkeit zur Aufzeichnung oder objektiven Auswertung. Methoden hierfür sind die
Differenzialdiagnostik
Die topologische Zuordnung ist in vielen Fällen bereits durch genaue Beobachtung und Beschreibung des Nystagmus möglich. Wichtige Beurteilungskriterien sind dabei:
- Schlagform und -richtung(en)
- Auftreten: spontan, bei Blickfolge oder bei Konvergenzreaktion
- Aufhebbarkeit oder Verstärkung durch Fixation oder Frenzelbrille
- Provozierbarkeit durch Kopfschütteln, Lagerungsmanöver oder Kopfpositionen
- Vorliegen begleitender Okulomotorikstörungen (z.B. INO, Skew Deviation, Blickdefizite, Ausfall des VOR)
Eine wichtige Frage ist häufig die Abgrenzung peripher-vestibulärer Schwindelformen von Hirnstamm- oder Kleinhirnläsionen. Hier kann bei Unsicherheit des klinischen Befundes eine kalorische Prüfung (kalorischer Nystagmus) oder Pendelstuhl-Prüfung in der Vestibularisdiagnostik ein zusätzliches Unterscheidungskriterium sein.
Topologie und klinische Zuordnung
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die topologische und klinische Zuordnung verschiedener Nystagmusformen (keine Gewähr für Vollständigkeit):[5][6]
Nystagmusform | wahrscheinliche Topologie | Mögliche Erkrankung(en) |
---|---|---|
Periphere Nystagmusformen | ||
Lagerungsnystagmus, vertikal-torsionell | posteriorer Bogengang | BPLS |
Lagerungsnystagmus, horizontal-geotrop oder apogeotrop | horizontaler Bogengang | |
Spontannystagmus, horizontal-torsionell mit erhaltener Fixationssuppression | Nervus vestibularis oder Labyrinth | Neuropathia vestibularis, Morbus Menière, Labyrinthitis |
Kopfschüttelnystagmus, horizontal-torsionell | Nervus vestibularis oder Labyrinth | |
Zentrale Nystagmusformen | ||
Lagenystagmus | Cerebellum (Nodulus, Uvula) | Tumor, Ischämie, Blutung, Inflammation, vestibuläre Migräne oder Hirnstammaura, toxisch-metabolische Einflüsse (Wernicke-Enzephalopathie, Alkohol, Pharmaka/Toxine), degenerativ, idiopathisch-infantil |
allseitiger Blickrichtungsnystagmus | Vestibulocerebellum (Flocculus, Paraflocculus), seltener Vestibulariskerne | |
isoliert-vertikaler Blickfolgenystagmus | Mesencephalon (rmFR bzw. INC) | |
isoliert-horizontaler Blickfolgenystagmus | Nucleus praepositus hypoglossi | |
dissoziierter Blickrichtungsnystagmus bei Seitblick | FLM (bei internukleärer Ophthalmoplegie; stärkere Amplitude am gesunden Auge) | |
Upbeat-Fixationsnystagmus | Mesencephalon, Medulla oblongata | |
Downbeat-Fixationsnystagmus | Vestibulocerebellum (Flocculus, Paraflocculus) | |
periodisch alternierender Nystagmus | Vestibulocerebellum (Nodulus, ventrale Uvula) | |
Konvergenzreaktionsnystagmus | Commissura posterior | |
vertikaler Kopfschüttelnystagmus ("Cross-Coupling") | Cerebellum |
Literatur
- S1-Leitlinie Augenmotilitätsstörungen inklusive Nystagmus im AWMF-Register. Deutsche Gesellschaft für Neurologie, 2021.
Einzelnachweis
- ↑ Cooper, Nystagmus and Other Ocular Oscillations/. Neuroophthalmology Illustrated, Stanford School of Medicine, 2020.
- ↑ Strupp, Straumann, Helmchen, Nystagmus und sakkadische Intrusionen. Die Neurologie & Psychiatrie, 2023.
- ↑ Deutsche Gesellschaft für Neurologie, S1-Leitlinie Augenmotilitätsstörungen inklusive Nystagmus im AWMF-Register, 2021.
- ↑ Lemos, Eggenberger, Saccadic intrusions - review and update. Current Opinion in Neurology, 2013.
- ↑ Strupp, Nystagmus – Schritt für Schritt. In: Neurologie up2date. Thieme Verlag, 2018.
- ↑ Strupp, Zentrale Augenbewegungsstörungen und Nystagmus - Blick in Hirnstamm und Kleinhirn. Deutsches Ärzteblatt International, 2011.
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