Vestibuläre Migräne
Synonyme: migränöser Schwindel, Migräne-assoziierte Vestibulopathie, VM
Englisch: vestibular migraine
Definition
Als vestibuläre Migräne bezeichnet man eine Verlaufsform der Migräne, die durch das episodische Auftreten von verschiedenen Schwindelformen sowie - seltener - von auditorischen Symptomen gekennzeichnet ist.
Historie
Epidemiologie
Die vestibuläre Migräne ist eine der häufigsten Ursachen von episodischem Schwindel. Ihre Prävalenz wird auf ca. 1-3% beziffert, wobei Frauen häufiger betroffen sind (ca. 2:1).[3][4] Epidemiologische Studien sowie Analysen von Schwindelzentren lassen eine deutliche Unterdiagnostizierung der Erkrankung vermuten.[3][5]
Eine Erstmanifestation ist in jedem Alter möglich. Meist beginnt die vestibuläre Migräne jedoch erst, wenn bereits einige Jahre einer regulären Migräne vorausgegangen sind.[6]
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie ist unklar. In etwa der Hälfte der Fälle findet sich eine familiäre Häufung, wobei ein autosomal-dominantes Erbmuster mit unvollständiger Penetranz (insb. für Männer) vermutet wird.[7] Ursächliche Gene hierzu konnten bis dato jedoch nicht sicher identifiziert werden. Auch scheint eine Assoziation mit der Kinetose zu bestehen.[7]
Die Pathogenese ist nicht geklärt, es existieren verschiedene konkurrierende Hypothesen. Eine Involvierung verschiedenster Hirnanteile (Hirnstamm, Cerebellum, Thalamus und Cortex) wurde postuliert.[7] Für Migränepatienten konnte außerdem eine verstärkte Mitreaktion des vestibulären Systems bei Reizung des Nervus trigeminus demonstriert werden[8], der für den migränösen Kopfschmerz verantwortlichen ist. Dies könnte auf verstärkte Konvergenzen beider Systeme bei den Betroffenen hinweisen. Zudem wird diskutiert, ob durch vermehrte Serotoninfreisetzung hervorgerufene vaskuläre Veränderungen im Innenohr an der Symptomentstehung beteiligt sind.[9]
Klinik
Leitsymptom der vestibulären Migräne sind Schwindelattacken, die über Minuten bis Tage andauern (selten Sekunden). Der Schwindel ist vielgestaltig. Oft findet sich ein Drehschwindel (ca. ⅔), es ist jedoch auch ein Schwankschwindel oder unspezifischer Benommenheitschwindel möglich. Der Schwindel kann sowohl spontan als auch bewegungs- oder lageabhängig auftreten, gelegentlich ist er auch provozierbar durch visuelle Bewegungseindrücke.[6]
Weitere mögliche Symptome sind:[6][7]
- Gleichgewichtsstörungen
- auditorische Symptome (ca. 40% d.F.), z.B. Tinnitus (oft pulsatil), Hörminderung oder Lärmempfindlichkeit, Ohrendruck
- migränöse Kopfschmerzen
- Lichtempfindlichkeit, Osmophobie
- Übelkeit und Erbrechen
- visuelle oder andere Auren
Die Migränekopfschmerzen können zeitgleich mit der Schwindelsymptomatik auftreten, ihr aber auch zeitlich vorausgehen oder nachfolgen. In der Mehrzahl der Fälle treten Schwindel- und Kopfschmerzepisoden jedoch separat und alternierend auf. Insbesondere in der Postmenopause kann sich die Kopfschmerzsymptomatik auch vollkommen zurückbilden, sodass nur noch isolierte Schwindelattacken auftreten.
Diagnostik
Es handelt sich um eine vorwiegend klinische Diagnose, die bei Zutreffen der folgenden Diagnosekriterien der Bárány-Society bzw. IHS gestellt wird:[10]
- mindestens 5 Schwindelepisoden
- von moderater bis schwerer Intensität und
- von einer Dauer zwischen 5 Minuten und 72 Stunden
- Vorliegen einer aktuellen oder früheren Migräne nach den ICHD-Kriterien
- Zeitgleiches Auftreten mindestens eines der folgenden Migränesymptome während mindestens 50% der Schwindelepisoden:
- Kopfschmerz mit mindestens zwei der folgenden Charakteristika
- einseitige Lokalisation
- pulsierende Qualität
- moderate bis schwere Intensität
- Verstärkung durch körperliche Aktivität
- Photo- und Phonophobie
- visuelle Aura
- Kopfschmerz mit mindestens zwei der folgenden Charakteristika
- Ausschluss anderer Diagnosen
Begleitend können im Anfall, aber auch im symptomfreien Intervall, okulomotorische Störungen auftreten:[6]
- Blickfolgenystagmus oder zentraler Fixationsnystagmus
- sakkadierende Blickfolge
- Blickdysmetrie oder -Blickhypometrie
Differenzialdiagnosen
Insbesondere zu bedenken bzw. auszuschließen sind:
- Schwindel als Aurasymptomatik und Basilarismigräne: Beides selten, Dauer unter 60 Minuten, immer dem Kopfschmerz vorausgehend; bei Basilarismigräne mindestens zwei Symptome der basilären bzw. posterioren Zirkulation.
- benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel: Der BPLS ist zwar mit der Migräne assoziiert, lässt sich jedoch durch die typischen Befunde bei den Lagerungsproben differenzieren.
- Morbus Menière: Auch der M. Menière ist mit der Migräne assoziiert, jedoch finden sich bei M. Menière eine gerichtete Fallneigung, ein peripherer Reiz- bzw. später Ausfallsnystagmus, sowie im Verlauf oft bleibende Hör- und Gleichgewichtsschäden.
- Hirnstamm- und zerebelläre Ischämien
- Vestibularisparoxysmie
Therapie
Zur Therapie der vestibulären Migräne existiert nur wenig verwertbare Evidenz.
Im Anfall selbst können Antivertiginosa wie Cinnarizin oder Dimenhydrinat sinnvoll sein, insbesondere bei begleitender Übelkeit. Triptane können bei begleitendem Kopfschmerz eingesetzt werden, hinsichtlich der Schwindelsymptomatik sind sie jedoch wahrscheinlich wirkungslos.[11]
Die Anfallsprophylaxe ist wenig beforscht. Möglich sind:[11]
- Ausdauersport, Meiden von individuellen Triggerfaktoren
- Betablocker (Propranolol oder Metoprolol): Effekte auf Schwindelepisoden nicht klar gesichert
- Calciumkanalblocker (Cinnarizin, Flunarizin)
- Antiepileptika (Lamotrigin, Valproinsäure, Topiramat)
- Antidepressiva (Amitriptylin, Venlafaxin)
- Acetazolamid
Zur Wirksamkeit von CGRP-Inhibitoren liegen derzeit (2023) nur Kohortenstudien mit sehr geringen Fallzahlen vor, die jedoch eine Wirksamkeit auf die Schwindelsymptomatik nahelegen.[12][13][14]
Einzelnachweise
- ↑ Escat: "De la migraine otique". 7. internationaler Kongress der Otologie, cerebralen Neurologie und Psychiatrie, Bordeaux, 1904. Zitiert in: Brunner, Spiegel: "Über Ohrmigräne (Hemicrania Otica)" Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 1921.
- ↑ Boenheim, Prof. Dr. Felix: "Über familiäre Hemicrania vestibularis" Neurologisches Centralblatt, 1917, Seite 226ff.
- ↑ 3,0 3,1 Formeister EJ, Rizk HG, Kohn MA, Sharon JD.: "The Epidemiology of Vestibular Migraine: A Population-based Survey Study" Otology & Neurotology, 2018.
- ↑ Neuhauser et al: "Migrainous vertigo: prevalence and impact on quality of life." Neurology, 2006.
- ↑ Geser R, Straumann D.: "Referral and final diagnoses of patients assessed in an academic vertigo center" Frontiers in Neurology, 2012.
- ↑ 6,0 6,1 6,2 6,3 Dieterich M, Obermann M, Celebisoy N.: "Vestibular migraine: the most frequent entity of episodic vertigo" Journal of Neurology, 2016.
- ↑ 7,0 7,1 7,2 7,3 Benjamin T, et al.: "Vestibular and Auditory Manifestations of Migraine" Current Opinion in Neurology, 2022.
- ↑ Marano et al.: "Trigeminal Stimulation Elicits a Peripheral Vestibular Imbalance in Migraine Patients" Headache, 2005.
- ↑ Koo J-W, Balaban C.: "Serotonin-Induced Plasma Extravasation in the Murine Inner Ear: Possible Mechanism of Migraine-Associated Inner ear Dysfunction" Cephalgia, 2006.
- ↑ Lempert, Thomas et al.: "Vestibular Migraine: Diagnostic Criteria" Journal of Vestibular Research, 2012
- ↑ 11,0 11,1 Smyth et al.: "Vestibular migraine treatment: a comprehensive practical review" Brain, 2022
- ↑ Lovato A, Disco C, Frosolini A, Monzani D, Perini F.: "Monoclonal Antibodies Targeting CGRP: A Novel Treatment in Vestibular Migraine" Medicina, 2023.
- ↑ Russo CV, et al.: "Anti-calcitonin gene-related peptide monoclonal antibodies for the treatment of vestibular migraine: A prospective observational cohort study" Cephalalgia, 2023
- ↑ Hoskin JL, Fife TD.: "New Anti-CGRP Medications in the Treatment of Vestibular Migraine" Frontiers in Neurology, 2022
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