Systemische Mastozytose
Englisch: systemic mastocytosis
Definition
Die systemische Mastozytose, kurz SM, ist eine hämatologische Erkrankung, die durch die maligne Veränderung von Mastzellen gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zur kutanen Mastozytose kommt es auch zu einer Beteiligung des Knochenmarks und/oder der inneren Organe.
siehe auch: Mastozytose
Einteilung
Die systemische Mastozytose wird gemäß der WHO-Klassifikation 2022 in folgende Subtypen eingeteilt:[1]
- indolente systemische Mastozytose (ISM, häufigste Form)
- smoldering systemische Mastozytose (SSM)
- Knochenmarkmastozytose (BMM)
- aggressive systemische Mastozytose (ASM)
- systemische Mastozytose mit assoziierter hämatologischer Neoplasie (SM-AHN)
- Mastzellleukämie (MCL)
Klinisch werden die ersten drei Formen (ISM, SSM, BMM) als nicht-fortgeschrittene systemische Mastozytose (non-AdvSM) und die ASM, SM-AHN und MCL als fortgeschrittene systemische Mastozytose (AdvSM) zusammengefasst.
Beachte: Bei der SM-AHN ist die assoziierte Neoplasie fast immer myeloischen Ursprungs. Daher wird sie in den ICC-Leitlinien als SM-AMN (assoziierte myeloische Neoplasie) bezeichnet. Lymphatische Neoplasien werden in den ICC-Leitlinien im Gegensatz zur WHO-Klassifikation nicht als assoziierte Erkrankungen gewertet, sondern als unabhängige klonale Erkrankungen.
Epidemiologie
Die systemische Mastozytose gehört zu den seltenen Erkrankungen: Die Inzidenz wird auf 1 pro 100.000, bei der AdvSM auf 1 bis 2 pro 1 Millionen Einwohner geschätzt, wobei von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen wird. Sie tritt typischerweise im Erwachsenenalter auf, wobei die non-AdvSM eher bei jüngeren Erwachsenen (20. bis 40. Lebensjahr) und die AdvSM vor allem im höheren Alter (60. bis 70. Lebensjahr) vertreten ist. Bei der AdvSM sind Männer häufiger betroffen als Frauen.
Pathogenese
Bei über 90 % der Patienten lässt sich eine aktivierende Punktmutation (fast immer D816V-Mutation) der Tyrosinkinase KIT nachweisen. KIT (CD117) ist ein Rezeptor für den Stammzellfaktor (SCF), der u.a. die Proliferation und Differenzierung von Mastzellen fördert. Im Falle der KIT-D816V-Mutation ist der Rezeptor konstitutiv aktiviert, d.h. unabhängig von der Bindung an SCF, wodurch es zu einer klonalen Proliferation von atypischen Mastzellen kommt. Diese akkumulieren in einem oder mehreren Organsystemen.
Verschiedene Reize, z.B. Allergene, Nahrungsmittelantigene, Infektionen, Medikamente u.v.m., können dann eine unkontrollierte Mastzelldegranulation auslösen. Die entsprechende Sekretion von Histamin, Heparin, Tryptase, Chymase und Zytokine führt zu den klinischen Manifestationen. Einige Mediatoren wie Tryptase werden durchgehend sezerniert.
Bei der AdvSM kommt es oft zu einer direkten Beeinträchtigung der Organfunktion durch die Infiltration von Mastzellen und zum Teil auch durch die damit verbundene Entzündungsreaktion.
Klinik
Nicht-fortgeschrittene systemische Mastozytose
Die indolente systemische Mastozytose führt durch die Freisetzung der Mastzellmediatoren zu folgenden Symptomen:
- Haut: Juckreiz, Urtikaria, Flush, generalisiertes makulöses oder makulopapulöses, kleinfleckiges Pigmentexanthem mit positivem Darier-Zeichen
- Gastrointestinaltrakt: Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, abdominelle Schmerzen, Histaminunverträglichkeit (Käse, Rotwein, Schokolade, Nüsse)
- Respiratorisches System: Schwellung der oberen Atemwege, Atemnot, Stridor
- Herz-Kreislauf-System: Synkope, Schwindel, Tachykardie, anaphylaktische Reaktionen bis hin zum Schock
- Neurologie: Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Depression, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Fatigue
- Knochen: Knochen- und Gelenkschmerzen, Osteopenie, Osteoporose
- Mastzellaktivierungssyndrom
Fortgeschrittene systemische Mastozytose
Bei der fortgeschrittenen systemischen Mastozytose stehen Symptome im Vordergrund, die durch die direkte Infiltration der Organe hervorgerufen werden:
- Knochenmark: Anämie, Thrombozytopenie, Neutropenie
- Milz/Leber: Splenomegalie mit/ohne Hypersplenismus, Hepatomegalie mit/ohne erhöhte Leberwerte (v.a. alkalische Phosphatase), Hypoalbuminämie und Aszites, portale Hypertension
- Gastrointestinaltrakt: Malabsorption mit Hypoalbuminämie, Gewichtsverlust, Ulcus ventriculi, Ulcus duodeni, selten Darmperforation
- Lymphknoten: Lymphadenopathie (v.a. abdominell, retroperitoneal, i.d.R. nicht peripher)
- Knochen: häufig Osteosklerose, seltener Osteopenie oder Osteoporose, sehr selten große Osteolysen mit pathologischen Frakturen
Diagnostik
Labordiagnostik
Im Rahmen der labormedizinischen Diagnostik wird zunächst ein Differentialblutbild angefertigt. Darüber hinaus bestimmt man folgende Parameter:
- Serumtryptase: Hohe Spezifität. Eine Erhöhung über 20 µg/l ist ein diagnostisches Nebenkriterium. Ein normaler Wert schließt das Vorliegen einer SM jedoch nicht aus. Die Serumtryptase auch bei anderen myeloischen Neoplasien, schwerer Niereninsuffizienz, chronischer Wurm-Infektion oder hereditärer alpha-Tryptasämie erhöht sein.
- Leber- und Cholestaseparameter (Alkalische Phosphatase ↑, GGT ↑)
- LDH ↑, CRP ↑, Ferritin ↑
- Vitamine (D ↓, B12 ↑, Folsäure)
- Serumalbumin ↓
- Gesamt-IgE ↑
- β2-Mikroglobulin ↑
Zudem sollten eine Serumelektrophorese, Immunfixation und Gerinnungsdiagnostik durchgeführt werden.
Bei der non-AdvSM zeigt das Blutbild normalerweise kaum Auffälligkeiten. Bei der AdvSM können eine Anämie, eine Thrombozytopenie, seltener eine Leukozytose oder eine Leukozytopenie bzw. Neutropenie vorliegen. Bei SM-AHN können eine signifikante Monozytose (>1.000/µl, dann SM-CMML) und/oder Eosinophilie (>1.000/µl, meist SM-Eo) bestehen.
Bildgebung
- Abdomensonographie: Splenomegalie, Hepatomegalie, Lymphadenopathie, Aszites, portale Hypertension
- ggf. Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) – bei Verdacht auf Osteolysen
- Knochendichtemessung – bei gesicherter Diagnose
Knochenmarkpunktion
Zur Diagnosesicherung ist in den meisten Fällen eine Knochenmarkpunktion mit Biopsie erforderlich. Das gewonnene Material wird zytologisch, histologisch, immunhistochemisch, durchflusszytometrisch und molekulargenetisch untersucht.
Molekulargenetik
Zur Erfassung des Mutationsstatus ist eine molekulargenetische Untersuchung von Knochenmark und peripherem Blut sinnvoll.
Histopathologie
In histologischen Präparaten finden sich typischerweise multifokale Ansammlungen abnormaler Mastzellen. Diese sind bezüglich ihrer Morphologie sehr variabel: Sie können rund bis spindelförmig sein, mit langen zytoplasmatischen Fortsätzen. Möglich sind ein hypogranuläres Zytoplasma und atypische Zellkerne mit monozytoidem Aussehen.
Weitere Diagnostik
Bei der AdvSM findet sich häufig eine histologisch nachweisbare Infiltration von Leber und Darm. Die Darmschleimhaut ist makroskopisch aber meist unauffällig. Bei der Ösophagogastroduodenoskopie (ÖGD) sollte immer eine tiefe Duodenalbiopsie durchgeführt werden. Die Koloskopie sollte neben den Biopsien des Kolons auch eine Probenentnahme des terminalen Ileums enthalten, da die Infiltration des Dünndarms häufiger ist als die des Dickdarms.
WHO-Diagnosekriterien
Nach der WHO-Klassifikation von 2022 müssen für die Diagnosestellung einer systemischen Mastozytose ein Hauptkriterium und mindestens ein Nebenkriterium oder drei Nebenkriterien erfüllt sein:
Hauptkriterium | Nebenkriterien |
---|---|
multifokale, kompakte Mastzellinfiltrate (≥ 15) im KM oder in einem anderen EKO. | atypische spindelförmige Mastzellen (min. 25 % aller Mastzellen): histologisch im KM oder EKO bzw. zytologisch im KM-Ausstrich |
molekulargenetischer Nachweis einer KIT-Punktmutation (v.a. D816V-Mutation) im PB, KM oder EKO | |
CD2-, CD30- und/oder CD25-positive Mastzellen (KM, PB oder EKO) | |
Tryptase im Serum dauerhaft > 20 μg/l (außer bei assoziierter hämatologischer Neoplasie; ggf. Ausschluss einer hereditären Alpha-Tryptasämie) |
Abkürzungen: KM = Knochenmark, PB = peripheres Blut, EKO = extrakutanes Organ
Subtypen
Um eine Einteilung der verschiedenen Subtypen der systemischen Mastozytose vorzunehmen, erhebt man die sogenannten B-Findings (für non-AdvSM) und C-Findings (für AdvSM):
- B-Findings:
- Knochenmarkinfiltration > 30 % (histologisch) und basale Serumtryptase > 200 μg/l
- Zeichen einer Dysplasie und/oder Myeloproliferation, ohne Erfülllung der Kriterien für ein MDS oder MPN
- Splenomegalie, Hepatomegalie und/oder Lymphadenopathie ohne Funktionseinschränkung
- KIT-D816V-Mutationslast im peripheren Blut oder KM ≥ 10 %
- C-Findings:
- Zytopenie: Neutropenie (< 1 x 109/µl), Anämie (< 10 g/dl) und/oder Thrombozytopenie (< 100 x 109/µl)
- Hepatopathie: Aszites mit erhöhten Leberenzymen, ggf. Hepatomegalie oder Leberzirrhose, ggf. portale Hypertension
- Palpable Splenomegalie mit symptomatischem Hypersplenismus
- Malabsorption mit Hypoalbuminämie und Gewichtsverlust
- große Osteolysen mit pathologischen Frakturen
- lebensbedrohlicher Organschaden anderer Organsysteme durch lokale Mastzellinfiltration
Subtyp | Merkmale | |
---|---|---|
ISM |
| |
SSM |
| |
BMM |
| |
AdvSM | ASM |
|
SM-AHN | ||
MCL |
|
Differentialdiagnosen
Differentialdiagnostisch kommen eine Mastzellhyperplasie, myeloische Neoplasien oder die myelomastozytäre Leukämie infrage.
Therapie
Die Therapie erfolgt in Abhängigkeit von der Ausprägung und der Symptomatik. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung ist eine Behandlung in spezialisierten Zentren sinnvoll.
Symptomatische Therapie
- Verringerung der Allergenexposition, histaminarme Ernährung
- Antihistaminika: H1- und H2-Rezeptorantagonisten (alle Patienten)
- Vitamin D, ggf. Bisphosphonate und/oder RANKL-Inhibitoren (Denosumab) bei Osteopenie
- temporär Glukokortikoide (systemisch oder lokal), alternativ ggf. Omalizumab (cave: Off-Label), Mastzellstabilisatoren, Leukotrienantagonisten
- Hyposensibilisierung, Anaphylaxie-Notfallset
- bei Leberfunktionseinschränkung mit Aszites: Glukokortikoide mit Interferon-alpha, Parazentese, transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Shunt (TIPS)
Zielgerichtete Therapie
Für die medikamentöse Therapie der fortgeschrittenen systemischen Mastozytose werden Midostaurin oder Avapritinib eingesetzt. In vielen Fällen lassen sich mit den Wirkstoffen gute Ansprechraten erreichen. Andere Tyrosinkinaseinhibitoren, wie Imatinib und Nilotinib, kommen lediglich als Off-Label-Therapie bei Patienten ohne KIT-D816V-Mutation zur Anwendung.
Zytoreduktive Therapie
Im Falle einer therapierefraktären fortgeschrittenen systemischen Mastozytose kann Hydroxyurea zur palliativen, zytoreduktiven Therapie verabreicht werden. Bei aggressiven Formen, insbesondere bei einer assoziierten hämatologischen Neoplasie können klassische Zytostatika – z.B. im Rahmen einer Polychemotherapie – und hypomethylierende Substanzen notwendig sein.
Bei geeigneten Patienten mit einer aggressiven Verlaufsform sollte eine allogene Stammzelltransplantation in Erwägung gezogen werden.
Literatur
- Reiter et al: Onkopedia-Leitlinie: Mastozytose, systemische Stand März 2020, abgerufen am 12.08.2021
- Pardanani: Systemic mastocytosis in adults: 2019 update on diagnosis, risk stratification and management American Journal of Hematology, 2019
Quellen
- ↑ Khoury, J.D., Solary, E., Abla, O. et al.: The 5th edition of the World Health Organization Classification of Haematolymphoid Tumours: Myeloid and Histiocytic/Dendritic Neoplasms. Leukemia 36, 1703–1719 (2022).
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