Colchicin
Handelsnamen: Colchicum-Dispert®, Colchysat®, Lodoco®
Synonyme: Colchicinum, Colchizin, Kolchizin
Englisch: colchicine
1. Definition
Colchicin ist ein Alkaloid der Herbstzeitlosen (Colchicum autumnale). Es wirkt als Zellgift durch (Mitosehemmung) und wird zur Zweitlinientherapie des akuten Gichtanfalls angewendet. Darüber hinaus kommt Colchicin auch beim familiären Mittelmeerfieber, bei rezidivierender Perikarditis und bei koronarer Herzkrankheit zum Einsatz.
2. Chemie
Obwohl sich Colchicin biosynthetisch von Tyrosin ableitet und als Zwischenstufen Phenylethylisochinolin-Derivate auftreten, gehört es mit nichtzyklischem Stickstoff zu den Cholchicum-Alkaloiden mit Tropolonstruktur.
Die Summenformel von Colchicin ist C22H25NO6.
Colchicin besitzt ein Stereozentrum, sodass zwei Enantiomere existieren. Ohne nähere Bezeichnung ist das natürlich vorkommende (S)-(–)-Colchicin gemeint. (R)-(+)-Colchicin kommt in der Natur nicht vor.
3. Wirkmechanismus
Colchicin bindet an das beta-Tubulin der heterodimeren Untereinheiten von Tubulin und verhindert so deren intrazelluläre Polymerisation.[1][2] Dadurch wird die Ausbildung des Spindelapparats während der Mitose unterbunden. Die Mitose bleibt in der Metaphase stehen.
Mikrotubuli sind auch an der Chemotaxis und Phagozytose der neutrophilen Granulozyten beteiligt. Colchicin konzentriert sich hauptsächlich in den Leukozyten, insbesondere neutrophilen Granulozyten, was sich im hohen Verteilungsvolumen zeigt.[3] In höheren Konzentrationen induziert Colchicin den Proteinkettenabbruch der Mikrotubuli und induziert die hydrolytische Spaltung der Proteinbruchstücke. Dabei kommt es zu einer Erhöhung des intrazellulären osmotischen Druckes mit Zunahme des intrazellulären Flüssigkeitsvolumens.
Diese intrazellulären Strukturveränderungen reduzieren die Motilität von neutrophilen Granulozyten (polymorphkernige neutrophile Granulozyten, PMN) und Makrophagen. Ihre Beweglichkeit im Interstitium und in engen Kapillarzwischenräumen wird aufgrund der zunehmend dreidimensional, sperrig-kugeligen Form eingeschränkt.[4] Durch die verminderte Einwanderung von PMN und die in der Folge reduzierte Freisetzung von Entzündungsmediatoren wirkt Colchicin entzündungshemmend. Seine schnelle Wirkung beim akuten Gichtanfall beruht daher primär darauf, dass aktivierte PMN nicht mehr ins synoviale Entzündungsgebiet einwandern können.
Intrazelluläre Mikrotubuli-Kettenmoleküle sind nicht nur Grundlage für die Beweglichkeit von PMN oder Fibroblasten, sondern bilden auch die Transportwege für intrazelluläre Vesikel aus, die von Organellen des Zellinneren auf die Zelloberfläche transportiert werden sollen, z.B. Neurovesikel in Nervenendigungen. Daraus ergeben sich weitere mögliche biochemische Wirkungen, z.B.
- die verminderte Produktion von Wasserstoffperoxid,[5]
- die reduzierte Expression und Sekretion von Interleukin-1β durch Inaktivierung der Caspase 1 in PMN oder
- die Blockade der Tyrosinphosphorylierung und damit Inaktivierung der Januskinase.
C-reaktives Protein, Interleukin-6 und Stickstoffmonoxid (NO) werden vermindert synthetisiert und freigesetzt. Das Entzündungsgeschehen am Endothel wird abgeschwächt, die Körperkerntemperatur durch verminderte Bindung von Interleukin-6 am Hypothalamus gesenkt.
4. Pharmakokinetik
Colchicin wird nach oraler Gabe meist gut resorbiert. Es hat eine große, jedoch interindividuelle unterschiedliche Bioverfügbarkeit. Nach oraler Gabe wird sie zwischen 24% und 88% angegeben[6], unabhängig von der Nahrungseinnahme, nach anderen Untersuchungen mit 47% ± 14%.[7] Das Verteilungsvolumen beträgt etwa 5-8 Liter/kg. Bei Gabe von Tabletten ist die Resorption verzögert, wobei die meisten Probanden einen zweiten, breiten Absorptionspeak nach 6 Stunden aufwiesen, möglicherweise auf Grund der enteralen Reabsorption (enterohepatischer Kreislauf). Die AUC war jedoch signifikant verkleinert. Nach einmaliger oraler Gabe von 0,6 mg bis 1,0 mg Colchicin bei gesunden Probanden wurden Plasmakonzentrationen zwischen 2 ng/ml und 6 ng/ml gemessen.[8]
In anderen Untersuchungen wurden nach einmaliger oraler Gabe von 1 mg Colchicin-Lösung Plasmaspitzenkonzentrationen (Cmax) von 6,50 ± 1,03 ng/ml innerhalb von 1,07 ± 0,55 Stunden festgestellt. Die Colchicin-Plasmakonzentration im steady state korreliert nicht mit der klinischen Wirksamkeit, da die Colchicin-Anreicherung in Leukozyten um bis zu 20-fach höher ist als im Plasma. Mit dem Ende der Lebensdauer der Leukozyten von ca. 100 Stunden (Knochenmarksphase-Blutphase-Gewebephase) wird auch das leukozytär gebundene bzw. angereicherte Colchicin eliminiert.
Nach einmaliger i.v.-Bolus-Gabe lag die AUC bei 61,2 ± 12,7 ng h/ml, das Verteilungsvolumen bei 419 ± 95 Liter, die Clearance bei 8,5 ± 1,8 Liter/Std und die terminale Halbwertszeit bei 58 ±11 Std. Die terminale Halbwertszeit von Colchicin lag nach wiederholter oraler, 8-tägiger Dosierung von 1 mg/Tag zwischen 20 und 40 Stunden, die Plasmakonzentration zwischen 0,3 bis 2,5 ng/ml.[9]
Die Plasmaeiweißbindung an Albumin ist mittelgradig. Die Elimination erfolgt zu ca. 10 % bis 20 % renal, überwiegend jedoch hepatisch mit hoher Rückresorption über den enterohepatischen Kreislauf.
Eine Dosisanpassung ist bei eingeschränkter Nierenfunktion mit renaler Clearance zwischen 80 ml/min bis 30 ml/min nicht notwendig. Für Dialysepatienten ist Colchicin ungeeignet. Bei Herz-Kreislauf-Patienten mit Polymedikation und eingeschränkter Metabolisierung sollte Colchicin unter regelmäßiger ärztlicher Überwachung gegeben werden.
Wegen der hohen Aktivität des membranständigen Arzneimitteltransporters p-Glykoprotein im ZNS finden sich nur geringe Colchicin-Konzentrationen im zellfreien Liquor.
5. Indikationen
Colchicin wird u.a. bei folgenden Erkrankungen eingesetzt:[5][10]
- Akuter Gichtanfall (Zweitlinientherapie)
- Familiäres Mittelmeerfieber
- Koronare Herzkrankheit: bei Patienten mit manifester atherosklerotischer Erkrankung oder mit mehreren Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen (Risiko eines Myokardinfarkts, eines Schlaganfalls, nach koronarer Revaskularisierung oder insgesamt erhöhtes kardiovaskuläres Risiko) bei erwachsenen Patienten[11]
- Orale, therapieresistente, schwere Aphthosen zur Ergänzung lokaler Maßnahmen[12]
Außerhalb randomisierter klinischer Studien sollte Colchicin nicht bei alkoholischer, viraler oder kryptogener Leberfibrose oder Leberzirrhose eingesetzt werden.[13]
6. Darreichungsform
7. Dosierung
- Akuter Gichtanfall: ggf. initial 1 mg bei den ersten klinischen Anzeichen, dann 0,5 mg 2 bis 3 mal täglich, bis zum Abklingen der Schmerzsymptome bzw. Auftreten von Nebenwirkungen (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall), höchstens 6 mg innerhalb eines Behandlungszyklus einnehmen. Nach Beeendigung eines Behandlugszyklus sollte eine Therapie-Pause von mindestens 72 h eingehalten werden.
Colchicin wird als Zweitlinientherapie empfohlen, wenn NSAR und Glukokortikoide kontraindiziert sind.[14]
- Familiäres Mittelmeerfieber: 0,5 mg bis 1 mg pro Tag (lebenslang)[15]
- Koronare Herzkrankheit: 0,5 mg pro Tag[11]
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
8. Klinische Studien
8.1. Akute Perikarditis
Bei der Behandlung der akuten Perikarditis mit Colchicin über 3 Monate zeigten sich signifikante anti-inflammatorische Erfolge, vergleichbar mit NSAID. Der primäre Endpunkt, definiert als anhaltende oder wiederkehrende Perikarditis, trat während der 18-monatigen Nachbeobachtungsphase unter Colchicin bei nur bei 16,7 Prozent der Patienten auf, unter Placebo bei 37,5 Prozent der Patienten.[16][17]
8.2. Ischämischer Schlaganfall oder transitorische ischämische Attacke
In zwei multizentrischen, randomisierten klinischen Studien (CONVINCE[18], CHANCE-3[19]), in denen Colchicin in niedriger Dosierung (0,5 mg/d p.o.) nach ischämischen zerebralen Ereignissen eingesetzt wurde, konnte bei Patienten mit hohem Rezidivrisiko keine präventive Wirksamkeit für ein weiteres Ereignis nachgewiesen werden.
9. Nebenwirkungen
Die therapeutische Breite von Colchicin ist gering. Mögliche Nebenwirkungen sind:
- Übelkeit und Erbrechen
- Diarrhö
- Abdominalschmerz
- Brennen und andere Missempfindungen der Haut
- Leberfunktionsstörungen
- Nierenfunktionsstörungen
- Knochenmarksschäden und eine daraus resultierende Panzytopenie
- Haarausfall
- Hemmung der Insulinsekretion
Nennenswerte Nebenwirkungen treten bei Überschreiten der therapeutischen Dosierung ab 1,5 mg/Tag auf oder bei Polymedikation durch Akkumulation von Colchicin bei Blockade von CYP3A4.
Nebenwirkungen wurden allerdings auch schon bei therapeutischen Dosierungen von 0,5 mg bis 1 mg/Tag beobachtet, besonders wenn Wechselwirkungen mit CYP3A4-Hemmern wie z.B. Clarithromycin, Simvastatin, Ciclosporin oder Ranolazin auftreten.
10. Wechselwirkungen
Colchicin wird in der Leber an den Mikrosomen über CYP3A4 metabolisiert und über p-Glykoprotein ausgeschieden. Medikamente, die an CYP3A4 oder p-Glykoprotein binden bzw. darüber metabolisiert werden, verzögern die Ausscheidung von Colchicin. Das kann zur Akkumulation des Wirkstoffs und damit zu einer Colchicinintoxikation führen.
Colchicin darf nur unter großer Vorsicht zusammen mit den folgenden Medikamenten gegeben werden, da sie die Toxizität erhöhen. Die Liste beinhaltet nur eine Auswahl.
- Statine: Atorvastatin, Rosuvastatin, Simvastatin (außer Pravastatin, da nicht über CYP3A4 metabolisiert)
- Ciclosporin
- Makrolide: Erythromycin, Clarithromycin, Telithromycin
- Antimykotika: Fluconazol, Ketoconazol
- Proteaseinhibitoren: Indinavir, Nelfinavir, Ritonavir, Saquinavir
- Kalziumantagonisten: Verapamil (starke CYP3A4-Bindung), Captopril, Nicardipin, Felodipin
- Betablocker: Propranolol, Carvedilol
- Aprepitant
- Chinin
- Reserpin
- Propafenon
- Ranolazin
- Diltiazem
- Paroxetin
- Amiodaron
- Metformin
- Carbamazepin
- Phenytoin
- Tamoxifen
- Paclitaxel
- Cimetidin
- Pentamidin
Cave: Auch Lebensmittel (Grapefruitsaft) und OTC-Präparate (Paracetamol, Johanniskraut) interagieren mit Colchicin.
11. Kontraindikationen
- Hämatologische Erkrankungen
- Neutropenie
- Lebererkrankungen
- Nierenerkrankungen
12. Toxikologie
Das Bild einer Colchicinüberdosierung bzw. -vergiftung ähnelt dem einer Arsenvergiftung. Toxische Symptome treten zunächst an Organen und Geweben mit hoher Proliferationsrate, wie dem Gastrointestinaltrakt, auf. Dem Nebenwirkungsprofil entsprechend beginnt die Vergiftung mit Übelkeit, Erbrechen, Bauchkrämpfen, Durchfall und Fieber. In der Folge kommt es zu einem Multiorganversagen mit Bewusstseinsstörungen, das zum Koma und schließlich zum Tod führt.
Die Vergiftungssymptome beginnen etwa 2-5 Stunden nach Einnahme der letzten Colchicin-Dosis, können aber auch bis zu 24-72 Stunden nach der letzten Einnahme auftreten, da bis zu 80% des Colchicin über die Galle ausgeschieden werden und der enterohepatischen Zirkulation unterliegen. [10]
Die niedrigste orale Colchicin-Dosis mit letalem Ausgang bei einmaliger Einnahme liegt zwischen 7-26 mg. Die akute Einnahme von 0,5 mg Colchicin/kgKG ist mit einer hohen Mortalitätsrate verbunden.[8] Bei einer Einmaldosis von 0,3 bis 0,8 mg/kgKG wurden Knochenmarksdepressionen aufgrund der Mitoseblockade beschrieben, die mit einer Mortalität von bis zu 10% verbunden sind.[10]
Da es gegen Colchicin kein spezifisches Antidot gibt, ist die Therapie symptomatisch. Unmittelbar nach der Ingestion können induziertes Erbrechen und eine Magenspülung sinnvoll sein. Allerdings ist der Erfolg dieser Maßnahmen oft durch die schnelle Resorption von Colchicin begrenzt. Um dem enterohepatischen Kreislauf Colchicin zu entziehen, wird eine ausreichende orale Dosis an Medizinalkohle gegeben und mit salinischem Abführmittel ausgespült. Gegen den Brechreflex kann ein Antiemetikum (z.B. Metoclopramid) gegeben werden. Wässrige Durchfälle sollten, sofern oral toleriert, mit Loperamid behandelt werden.
Des Weiteren sollte eine ausreichende Volumensubstitution mit Elektrolyt- und Glukosegabe erfolgen. Zur Vorbeugung eines hypovolämischen Schocks werden die durch Erbrechen und Durchfall entstandenen Flüssigkeitsverluste mit Infusionen ausgeglichen. Eine Hypokaliämie aufgrund enteraler Kaliumverluste sollte mit ausreichender Kaliumgabe substituiert werden.
13. Geschichte
Die Entdeckung und Isolierung des Colchicins geht auf den Heidelberger Pharmazeuten Philipp Lorenz Geiger zurück. Er stellte Colchicin 1833 aus den Samen der Herbstzeitlosen her.
14. Zulassung
Colchicin wurde durch die FDA 2023 zur antiinflammatorischen, atheroprotektiven Behandlung bei koronarer Herzkrankheit zugelassen.[20]
15. ATC-Code
- M04AC01 - Gichtmittel
16. Quellen
- ↑ Ben-Chetrit E, Bergmann S, Sood R: Mechanism of anti-inflammatory effect of colchicine in rheumatic diseases: a possible new outlook through microarray analysis. Rheumatology, Vol 45, Seite 274-282 2006
- ↑ Lu Y, Chen J, Xiao M, Li W, Miller DD: An overview of tubulin inhibitors that interact with the colchicine binding site. Pharm Res. 2012 Nov;29(11):2943-71. doi: 10.1007/s11095-012-0828-z
- ↑ Slobodnick A, Shah B, Pillinger MH, Krasnokutsky S: Colchicine: old and new. Am J Med. 2015 May;128(5):461-70. doi: 10.1016/j.amjmed.2014.12.010
- ↑ Egger G: Die akute Entzündung; ISBN-13-978—3-211-24491-3, 2005
- ↑ 5,0 5,1 Ying Ying Leung, Laura Li Yao Hui and Virginia B Kraus: Colchicine - update on mechanisms of action and therapeutic uses. Semin Arthritis Rheum. 2015 Dec; 45(3): 341–350. doi:10.1016/j.semarthrit.2015.06.013
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- ↑ FDA Approves Lodoco (colchicine) as the First Anti-Inflammatory Drug for Cardiovascular Disease. Drugs.com. Abgerufen am 21.06.2023
17. Weblinks
- Drugs.com - Colchicine. Abgerufen am 21.06.2023
- Drugbank - Colchicine. Abgerufen am 21.06.2023
- Gelbe Liste Wirkstoffe - Colchicin. Abgerufen am 21.06.2023
- PharmaWiki - Colchicin. Abgerufen am 21.06.2023
- PubChem: 6167
- MeSH: 68003078