Chronische spontane Urtikaria
Synonyme: chronische Urtikaria, ordinäre Urtikaria
Definition
Die chronische spontane Urtikaria, kurz csU, ist ein dermatologisches Krankheitsbild. Es ist durch das spontane Auftreten von Quaddeln, evtl. begleitet von Angioödemen, nahezu täglich über einen Zeitraum von mehr als 6 Wochen definiert.
Nomenklatur
Tritt die Urtikaria in seltenen Schüben über einen längeren Zeitraum auf, wird diese auch als episodische bzw. intermittierende Urtikaria bezeichnet. Bei einem Zeitraum von < 6 Wochen spricht man von einer akuten spontanen Urtikaria.
Andere Formen der Urtikaria (z.B. physikalische Urtikaria) können ebenfalls chronisch verlaufen, werden dann aber chronische induzierbare Urtikaria bezeichnet.
Epidemiologie
Die Lebenszeitprävalenz der chronischen spontanen Urtikaria beträgt ca. 1 bis 2 %, wobei Frauen doppelt so häufig betroffen sind. Das typische Erkrankungsalter liegt bei 20 bis 60 Jahren.
Ätiologie
Die Ursache der chronischen spontanen Urtikaria ist derzeit (2022) nicht endgültig geklärt. Vermutet wird eine multifaktorielle Genese, die letztlich zur Mastzellaktivierung und Freisetzung u.a. von Histamin führt. Dazu zählen z.B.:
- autoreaktive Mechanismen:
- IgG-Autoantikörper gegen IgE oder gegen die α-Kette des hochaffinen IgE-Rezeptors (FcεRI) (33 %)
- positiver autologer Serumtest und Autoimmunthyreoiditis mit Schilddrüsenautoantikörpern (30 %): kausaler Zusammenhang unklar
- pseudoallergische Reaktionen: dosisabhängige, IgE-unabhängige Mastzellaktivierung ohne vorherige Sensibilisierung
- ASS und andere NSAR, Paracetamol, Etoricoxib, Morphin, Tramadol, Kodein, Muskelrelaxanzien, Röntgenkontrastmittel, Dextran
- Nahrungsmitteladditiva: Farbstoffe, Konservierungsstoffe, Antioxidanzien
- chronische Infektionen: kausale Rolle unklar, evtl. aufgrund von bakterienspezifischem IgE, molekularen Mimikry oder Veränderungen der Gewebebarriere; z.T. Remission nach Eradikation des Infektionsherdes
- Helicobacter pylori: Typ-B-Gastritis
- Streptokokken, Staphylokokken: chronische Tonsillitiden, Sinusitiden, Kieferabszesse
- Yersinia enterocolitica: persistierende Yersiniose
- Blastocystis hominis, Giardia lamblia, Entamoeba histolytica
- Die intestinale Candidose spielt vermutlich keine Rolle
Eine IgE-vermittelte Sensibilisierung (Allergie) oder hämato- bzw. lymphoproliferative Erkrankungen und andere Malignome sind extrem selten. Die als Entität umstrittene Histaminunverträglichkeit konnte bisher nicht aus Auslöser nachgewiesen werden. Über 50 % der Betroffenen berichten, dass Stress bzw. akute Belastungsreaktionen die Symptomatik verschlimmern. Ob diese psychoneurologischen Faktoren eine kausale Rolle spielen oder reaktiv entstehen, z.B. über zentralnervöse Wirkungen von Histamin, ist unklar.
Klinik
Die chronische spontane Urtikaria ist charakterisiert durch juckende Quaddeln, die meist hellrot (Urtica rubra) und ein bis mehrere Zentimeter groß sind. Bei über 50 % der Patienten finden sich zusätzlich auch Angioödeme, bei 10 % der Patienten sogar nur Angioödeme.
Am häufigsten treten Schübe an Quaddeln abends und an den Extremitäten auf. Angioödeme sind meist am Kopf lokalisiert (v.a. Lider, Lippen, Zunge), wobei auch die Hände, Füße oder das Genital betroffen sein können. Bei ungefähr 10 % der Patienten kommt es zu täglichen Symptomen.
Begleitsymptome (Fieber, Kopfschmerzen, Arthralgien, gastrointestinale Beschwerden, Dyspnoe) sind möglich. Aufgrund des starken Juckreizes, der Schlafstörungen und der sekundären psychosozialen Probleme ist die Lebensqualität häufig stark eingeschränkt.
Differenzialdiagnosen
Folgende Differenzialdiagnosen müssen erwogen werden:
- chronisch-induzierbare Urtikaria: z.B. physikalische Urtikaria
- urtikarielle Stadien einer bullösen Autoimmundermatose (v.a. bullöses Pemphigoid)
- Urtikariavaskulitis
- kutane Mastozytose (Urticaria pigmentosa)
- Skabies und andere Arthropodenreaktion
- frühe Stadien eines Erythema multiforme
- polymorphes Exanthem der Schwangerschaft (PUPP) bzw. Pemphigoid gestationis
- urtikarielle Dermatitis: eher ältere Personen mit bilateralen, symmetrischen, juckenden Plaques mit teils urtikarieller, teils ekzematöser Morphe
- hereditäre autoinflammatorische Syndrome (z.B. FCAS, CINCA-Syndrom, Muckle-Wells-Syndrom): nicht juckende Quaddeln, fehlendes Ansprechen auf H1-Antihistaminika, keine Autoantikörper oder autoreaktive Lymphozyten, persistierendes oder rezidivierendes Fieber, z.T. Taubheit, Nephropathie, Amyloidose
- erworbene autoinflammatorische Syndrome, z.B. Schnitzler-Syndrom (Arthralgien, Fieberschübe, monoklonale Gammopathie vom Typ IgM)
Diagnostik
Anamnese
Die Diagnose der chronischen spontanen Urtikaria basiert auf einer sorgfältigen Anamnese unter Berücksichtigung von:
- zeitlichen Aspekten: Zeitpunkt des Erstauftretens, Häufigkeit und Dauer, täglichen Schwankungen, Bezug zu Urlaub, Menstruation oder Schwangerschaft, früheren Therapien
- Symptomen: Form, Größe, Verteilung der Quaddeln, Angioödeme, Juckreiz, Schmerz, Auslösung durch physikalische Reize oder Anstrengung, Lebensqualität, Begleitsymptome
- Vor- bzw. Begleiterkrankungen: Allergien, Infektionen, Implantationen, psychiatrische Erkrankungen etc.
- Medikamentenanamnese: z.B. NSAR, ACE-Hemmer, AT1-Rezeptorantagonisten, Impfungen, Hormone, Laxanzien, Selbstmedikationen etc.
- Familienanamnese
- Berufsanamnese
- Ernährungsanamnese, Hobbys, Nikotinabusus
Routinediagnostik
Weitere Hinweise auf die zugrundeliegende Ursache ergeben sich durch eine körperliche Untersuchung (incl. Überprüfung des Dermographismus), Labor- sowie ggf. weiterführende Untersuchungen (z.B. zahnärztliche oder bildgebende Diagnostik):
- routinemäßig: Differenzialblutbild, ESR, CRP
- Verdacht auf Infekt:
- Helicobacter pylori: monoklonaler Stuhlantigentest, ggf. 13-C-Harnstoff-Atemtest oder histopathologische Untersuchung
- Streptokokken: Anti-DNaseB-Titer, Antistreptolysintiter, Rachenabstrich meist unauffällig
- Staphylokokken: Antistaphylolysintiter
- Yersinia enterocolitica: Serologie (IgA, IgG, Immunoblot)
- Verdacht auf autoreaktiver Genese:
- Schilddrüse: basales TSH, TPO-, TAK-, TRAK-Antikörper
- autologer Serumtest (direkter Nachweis von Anti-FcεRI- bzw. Anti-IgE-Autoantikörper stehen kommerziell nicht zur Verfügung, funktionelle Tests nur in speziellen Zentren)
Nach unauffälliger Basisdiagnostik kann nach Ernährungsberatung eine ambulante vierwöchige pseudoallergenarme Diät versucht werden. Bei Besserung der Symptomatik kann anschließend unter stationärer Überwachung eine Provokationstestung mit standardisierter pseudoallergenreicher Kost erwogen werden. Ungefähr 1/3 der Patienten profitieren zum Teil von der Diät, eine komplette Beschwerdefreiheit wird oft nicht erreicht, eine Provokationstestung ist i.d.R. unauffällig. Weiterhin sollte bei entsprechender Medikamentenanamnese auf mögliche pseudoallergischen Wirkstoffe verzichtet werden. Auch hier eignet sich anschließend ein oraler Provokationstest.
Weitere Diagnostik
Zu den i.d.R. nicht routinemäßig erforderlich Maßnahmen zählen:
- physikalische Provokationstests: bei Hinweisen auf physikalische Auslöser
- Bestimmung von ANA: eher bei Urtikariavaskulitis zum Ausschluss eines Lupus erythematodes
- Stuhltestung auf Wurmeier: bei Eosinophilie, erhöhtem Gesamt-IgE und Verdacht auf Parasitose
- Biopsien: bei über 24 Stunden bestehenden, ggf. hämorrhagischen und hyperpigmentierten Quaddeln zum Ausschluss einer Urtikariavaskulitis oder anderer Differenzialdiagnosen
- basale Serum-Tryptase: zum Ausschluss einer Mastozytose
- Prick-Test, spezifische IgE-Antikörper, Basophilen-Aktivierungstest: bei Verdacht auf allergische Genese
Um das Therapieansprechen zu dokumentieren, sollte der Schweregrad anhand des Urtikaria-Aktivitäts-Scores (UAS) oder des Urtikaria Control Tests (UCT) festgehalten werden. Zur Beurteilung der Lebensqualität eignen sich Fragebögen (z.B. Chronic Urticaria Quality of Life Questionnaire, CU-Q2oL).
Therapie
Kausale Therapie
Neben Vermeidung unspezifischer Triggerfaktoren (z.B. Alkohol, Stress) steht die kausale Therapie einer chronischen spontanen Urtikaria im Vordergrund. Insbesondere eine Helicobacter-pylori-Eradikation oder eine Behandlung von anderen Infektionen kann zur Remission der Urtikaria führen, wobei das Ansprechen oft verzögert nach bis zu 12 Wochen eintritt.
Liegen Schilddrüsenautoantikörper vor, hat die Substitution von Schilddrüsenhormonen meist keine Besserung der Urtikaria zur Folge. Eine spezifische Therapie bei positivem autologem Serumtest oder bei Vorhandensein von Autoantikörpern gegen FcεRI ist derzeit (2019) nicht möglich. Zeigt sich eine Besserung unter pseudoallergenarmer Diät, kann diese nach 3 bis 6 Monaten schrittweise gelockert werden.
Symptomatische Therapie
Die symptomatische Therapie basiert auf einer topischen Anwendung von Antipruriginosa (z.B. Polidocanol 3 - 5 %) oder kühlende Lotionen sowie auf einer Stufentherapie mit überwiegend systemisch angewendeten Medikamenten.
Systemische Glukokortikoide sollten maximal 10 Tage bei einer akuten Exazerbation eingesetzt werden (z.B. 0,5 - 1 mg/kgKG Prednisolonäquivalent). Bei bedrohlichen Angioödemen oder Anaphylaxie ist eine stationäre Aufnahme und weiterführende Therapiemaßnahmen erforderlich.
Stufe 1
Medikament der ersten Wahl zur systemischen Therapie sind nicht-sedierende H1-Rezeptorantagonisten (z.B. Cetirizin, Loratadin). Sie blockieren die Wirkung von Histamin am H1-Rezeptor und verringern somit Juckreiz, Erythem und Quaddel. Dabei sollte die Einnahme regelmäßig und nicht nur bei Bedarf erfolgen.
Stufe 2
Zeigt sich nach ca. 2 bis 4 Wochen kein Therapieansprechen, sollte eine bis zu vierfache Dosiserhöhung erfolgen.
Stufe 3
Falls nach weiteren 1 bis 4 Wochen ebenfalls keine Symptomverbesserung vorliegt, kommen zusätzlich Omalizumab, Cyclosporin A, Montelukast oder Dapson in Frage. Lediglich für Ersteres liegt eine Zulassung vor. In Einzelfällen waren auch Hydroxychloroquin bzw. Chloroquin sowie Tacrolimus, Methotrexat, Mycophenolat-Mofetil, Cyclophosphamid und eine UVB-Phototherapie erfolgreich.
Mit Ligelizumab wird derzeit (2022) ein weiterer monoklonaler Antikörper gegen IgE in klinischen Studien getestet.[1] Darüber hinaus wird der Einsatz von BTK-Inhibitoren (z.B. Remibrutinib) zur Therapie der csU geprüft.
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Prognose
Die chronische spontane Urtikaria besteht meist für ca. 3 bis 5 Jahre, wobei nur 50 % der Patienten eine Remission innerhalb von 10 Jahren aufweisen.
Quellen
- ↑ Maurer M et al. Ligelizumab for Chronic Spontaneous Urticaria, N Engl J Med. 2019 Oct 3;381(14):1321-1332, abgerufen am 06.12.2019
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