Tamm-Horsfall-Protein: Unterschied zwischen den Versionen

(→‎Synthese: Ausdruck verbessert, Fehlendes ergänzt)
KKeine Bearbeitungszusammenfassung
 
(18 dazwischenliegende Versionen von 3 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
''Synonym: THP, Tamm-Horsfall-Mukoprotein, Uromodulin''<br>
''nach dem estnischen Virologen Igor Tamm (1922-1995) und dem US-amerikanischen Virologen Frank L. Horsfall (1906-1971)'' <br>
''nach den Erstbeschreibern Igor Tamm und Frank Horsfall''
''Synonyme: Uromodulin, Tamm-Horsfall-Mukoprotein, Tamm-Horsfall-Glykoprotein''<br>
'''''Englisch''': <name lang="en">Tamm-Horsfall protein</name>, Uromodilin''


==Definition==
==Definition==
Das '''Tamm-Horsfall-Protein''' ist ein [[Glykoprotein]], das sich in den [[Nierentubulus|Tubuli]] und [[Sammelrohr]]en der [[Niere]] bildet. Es wird in gelöster Form mit dem [[Urin]] ausgeschieden.
Das '''Tamm-Horsfall-Protein''', kurz '''THP''', ist ein in der [[Niere]] gebildetes [[Glykoprotein]]. Es macht den größten Anteil der [[Protein]]e im [[Urin]] aus.


==Hintergrund==
==Genetik==
Die physiologische Rolle des Tamm-Horsfall Proteins besteht in seiner Fähigkeit, Mannose-sensitive E. coli zu binden. Bei einem Abfall des [[pH-Wert]]s oder aufgrund einer Konzentrationserhöhung kann es polymerisieren und dann in Form so genannter "[[Hyaliner Zylinder]]" im [[Urinsediment]] nachgewiesen werden. Das Tamm-Horsfall-Protein ist mit einer Konzentration von etwa 60 mg/d das am meisten in den [[Urin]] ausgeschiedene Protein. Es liegt im Urin von allen Proteinen in der höchsten Konzentration vor.
Das Tamm-Horsfall-Protein wird durch das [[UMOD]]-[[Gen]] auf [[Chromosom 16]] ([[Genlokus]] 16p12.3) kodiert.  


==Genetik==
==Biochemie==
Die [[Synthese]] des Tamm-Horsfall-Proteins findet in den [[Zelle]]n des dicken aufsteigenden Schenkels der [[Henle-Schleife]] statt, also in der Pars recta des [[Distaler Tubulus|distalen Tubulus]]. Das gebildete THP besteht aus 616 [[Aminosäure]]n und hat eine [[Molekülmasse]] von 67 [[Dalton|kDa]]. Es besitzt viele [[Cystein]]reste sowie vier [[EGF]]-ähnliche [[Domäne (Biochemie)|Domäne]]n. Die [[Halbwertszeit]] beträgt ca. 16 Stunden.
 
Aufgrund der [[posttranslationale Modifikation|posttranslationalen Modifikation]] (u.a. durch [[Glykosylierung]]) hat THP eine Molekülmasse von ca. 85-100 kDa. Anschließend wird THP über den [[Glykosylphosphatidylinositol-Anker]] (GPI-Anker) an der [[luminal]]en [[Zellmembran]] fixiert. Dort erfolgt schließlich eine [[proteolytisch]]e Spaltung des Tamm-Horsfall-Proteins, ehe es in das [[Lumen]] des Nierentubulus freigesetzt wird. Diese Reaktion wird durch die [[Serinprotease]] [[Hepsin]] [[Katalyse|katalysiert]].
 
Im Urin macht THP mit 40-50 % den Hauptteil der Proteine aus und wird mit einer Konzentration von über 50-150 mg/d ausgeschieden. Jedoch wird es von den meisten Methoden zur Proteinquantifizierung im Urin nicht erfasst. Aufgrund der [[Sialinsäure]]reste liegt der [[isoelektrischer Punkt|isoelektrische Punkt]] von THP bei 3,5. Daher liegt es als [[Anion|polyanionisches]] Protein im Urin vor. Es tendiert dazu, große [[Polymer]]e mit ca. 7.000 kDA in Form einer porösen, dreidimensionalen Matrix zu bilden. Die Matrix wird aus langen [[Filament|Proteinfilamenten]] gebildet, die jeweils aus zwei in einer rechtsgängigen [[Doppelhelix]] angeordneten Protofilamenten bestehen. Die strukturelle Anordnung der Filamente hängt von den ionischen Bedingungen und vom [[pH-Wert]] im Urin ab.
 
==Funktionen==
Die genaue Funktion des Tamm-Horsfall-Proteins ist derzeit (2020) nicht endgültig geklärt. Die meisten Untersuchungen basieren auf [[Tierexperiment]]en an [[Knockout-Maus|Knockout-Mäusen]].  Es ist vermutlich an der Bildung des renalen [[Gegenstromprinzip|Gegenstromgradienten]], der [[Natrium]]homöostase und der [[Blutdruck]]regulation beteiligt. Weiterhin hat es [[immunregulatorisch]]e Funktionen.
===Wasserhaushalt===
THP erhöht die Aktivität des [[Na-K-2Cl-Cotransporter]]s (NKCC) und des [[Kaliumkanal]]s [[ROMK]]. Dadurch kann es die Tonizität des [[Nierenmark]]s und die Fähigkeit der Niere zur Harnkonzentrierung beeinflussen. In Knockout-Mäusen führt die erhöhte luminale [[NaCl]]-Konzentration an der [[Macula densa]] (aufgrund der gestörten NKCC2- und ROMK-Funktion) zu einer verminderten [[Renin]]synthese und [[Kreatinin-Clearance]]. Eine erhöhte Salzaufnahme mit der Nahrung führt zu einer erhöhten THP-Exkretion im Urin. Umgekehrt ist die Urinkonzentration bei einer verminderten Salzaufnahme reduziert. Über die Beeinflussung von NKCC2 und ROMK spielt THP eine Rolle bei der Blutdruckregulation.
 
===Schutz vor Nierensteinen===
Die negativ geladenen sialysierten [[Glykan]]e von THP verhindern eine [[Aggregation]] von [[Calciumoxalat]] und [[Calciumphosphat]] [[in vitro]]. Knockout-Mäuse entwickeln spontane [[Kalzifikation|Nierenkalzifizierungen]]. Neben der potentiellen Rolle von THP als Inhibitor einer Kristallisierung, stabilisiert es auch [[TRPV5]], sodass [[Calcium]] im distalen Tubulus reabsorbiert wird.
 
===Schutz vor Harnwegsinfektionen===
Knockout-Mäuse sind anfälliger für eine Besiedlung der [[Harnblase]] mit [[Escherichia coli]], die Mannose-sensitive [[Fimbrie (Bakteriologie)|Fimbrien]] besitzen. Diese Beobachtung erkärt sich aus der Tatsache, dass die [[Mannose]]ketten von THP dem mannosylierten [[Uroplakin]] auf dem [[Urothel]] ähneln. Dadurch bindet das [[Lektin]] [[FimH]] von Escherichia coli vermehrt an THP anstatt an Uroplakin. Die schützende Wirkung von THP gegen [[Harnwegsinfektion]]en wurde in [[Kohortenstudie]]n beim Menschen nachgewiesen. Die [[Leukozyturie]] und [[Nitriturie]] im Urin korrelierte umgekehrt mit dem THP-Spiegel.
 
===Immunmodulation===
THP hemmt in vitro die [[viral]]e [[Hämagglutination]] sowie die [[antigen]]vermittelte [[T-Zell-Aktivierung]] und [[Monozyt]]enfunktion. Im Urin bindet es mehrere immunregulatorische Proteine wie [[IgG]], [[IL-1]] und [[TNF-α]]. Dadurch kann THP evtl. [[proinflammatorisch]]e und [[chemotaktisch]]e Substanzen einfangen, eine Invasion von [[neutrophiler Granulozyt|neutrophilen Granulozyten]] reduzieren und die Regeneration nach akuten [[ischämisch]]en Nierenschäden fördern. Weiterhin kann unter bestimmten Umständen THP auch [[basolateral]] relokalisiert und in das [[Blut]] befördert werden. Dort kann THP evtl. weitere immunregulatorische Funktionen ausüben.
 
Neben der antiinflammatorischen Wirkung hat THP auch [[proinflammatorisch]]e Effekte. Es kann als [[Alarmin]] agieren und Monozyten und [[dendritische Zelle]]n über [[Toll-like-Rezeptor 4]] (TLR4) und [[NF-κB]] aktivieren. Auf Granulozyten bindet es an den [[EGF-Rezeptor]] und aktiviert [[Rho-GTPase|Rho-]] und [[MAPK-Signalweg]]e.
 
Außerdem kann THP in der [[Amnionflüssigkeit]] nachgewiesen werden, wo es vermutlich dazu beiträgt, die [[Abstoßung]] des [[Fetus]] zu verhindern.
 
==Klinik==
===Harnsediment===
[[Hyaliner Zylinder|Hyaline Zylinder]] bestehen fast nur aus Tamm-Horsfall-Protein. Sie können regelmäßig im [[Urinsediment]] nachgewiesen werden. Sie kommen vermehrt bei verstärktem distalen Harnfluss, unter starker körperlicher Belastung sowie bei [[Fieber]] vor und haben daher nicht immer einen Krankheitswert.
 
Einlagerungen von [[Epithelzelle]]n ([[Epithelzylinder]]), [[Erythrozyt]]en ([[Erythrozytenzylinder]]), [[Leukozyt]]en ([[Leukozytenzylinder]]) oder [[Bakterien]] ([[Bakterienzylinder]]) zeigen [[pathologisch]]e Vorgänge im Tubulusapparat an.
 
===Multiples Myelom===
Bei Patienten mit multiplem Myelom werden vermehrt [[monoklonal]]e [[freie Leichtkette]]n renal ausgeschieden. Die Konzentration übersteigt die Reabsorptionskapazität des [[proximaler Tubulus|proximalen Tubulus]], was zu einer [[Bence-Jones-Proteinurie]] führt. Dabei interagieren die freien Leichtketten mit THP und präzipitieren, was zu einer Bildung von Zylindern im distalen Nephron, einer [[Obstruktion]] und zur [[Tubulointerstitielle Nephritis|tubulointerstitiellen Schädigung]] führt ([[Myelomniere]]).
 
===UMOD-Mutationen===
Bei [[Mutation]]en des UMOD-Gens kann es zu [[Uromodulin-assoziierte Nierenerkrankung|Uromodulin-assoziierten Nierenerkrankungen]] (UAKD) kommen. Die UAKD zählen zu den [[ autosomal-dominante tubulointerstitielle Nierenerkrankung|autosomal-dominanten tubulointerstitiellen Nierenerkrankungen]] (ADTKD). Dabei unterscheidet man zwischen der:
* [[medullär-zystische Nierenerkrankung Typ 2|medullär-zystischen Nierenerkrankung Typ 2]] (MCDK2)
* autosomal-dominanten Form der [[glomerulozystische Nierenerkrankung|glomerulozystischen Nierenerkrankung]] (GCKD)
* [[familiäre juvenile hyperurikämische Nephropathie|familiären juvenilen hyperurikämischen Nephropathie]] ([[FJHN]])
 
Bei der UAKD ist eine [[Hyperurikämie]] meist die Erstmanifestation der Erkrankung. Weiterhin ist sie mit einer [[Gicht]] und einer milden Störung der Harnkonzentrierung assoziiert. Das Urinsediment ist meist unauffällig, eine [[Proteinurie]] liegt i.d.R. nicht vor.
 
Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer progressiven Nierenschädigung mit [[terminales Nierenversagen|terminalem Nierenversagen]] im Alter von 25 bis 70 Jahren. [[Nierenzyste]]n können an der kortikomedullären Grenze auftreten, jedoch nicht häufiger als bei Patienten mit anderen Nierenerkrankungen. [[Pathohistologisch]] ist die UAKD charakterisiert durch einen tubulointerstitiellen Schaden mit moderater [[entzündlich]]er Infiltration, [[interstitiell]]er [[Fibrose]] und [[Atrophie|Tubulusatrophie]]. Intrazellulär zeigen sich Ablagerungen von THP im [[endoplasmatisches Retikulum|endoplasmatischen Retikulum]]. Dies wird dadurch erklärt, dass die Mutationen zu einer gestörten [[Proteinfaltung]] führen. Dadurch wird THP nur in geringem Ausmaß zur apikalen Zellmembran transportiert bzw. in den Urin ausgeschieden. Gelangt das mutierte THP in den Urin, bildet es unstrukturierte Aggregate und keine organisierten Polymere. Die Folge ist eine Dysregulation des dicken aufsteigenden Teils der Henle-Schleife.
 
===UMOD-Polymorphismen===
In [[Genomweite Assoziationsstudie|genomweiten Assoziationsstudien]] (GWAS) konnten häufige [[Einzelnukleotid-Polymorphismus|Einzelnukleotid-Polymorphismen]] (SNPs) des UMOD-Gens nachgewiesen werden, die mit vermindertem oder erhöhtem Risiko einer [[chronische Niereninsuffizienz|chronischen Niereninsuffizienz]] (CKD) einhergehen.


Die genetische [[Codierung]] des Tamm-Horsfall-Proteins erfolgt durch das [[Gen]] [[UMOD]]
Bei den [[Allel]]varianten (z.B. [[Ahnenallel]] rs4293393), die mit einem erhöhten Risiko für eine CKD einhergehen, liegt THP in einer erhöhten Konzentration im Urin vor. Diese Risikoallele kommen in Europa mit einer [[Allelfrequenz]] von ca. 80 % vor. Daher wird vermutet, dass diesen Polymorphismen vermutlich ein [[evolution]]ärer Vorteil zu Grunde liegt, evtl. aufgrund der verminderten Rate an Harnwegsinfektionen. Warum die erhöhte THP-Konzentration im Urin mit dem CKD-Risiko korreliert, ist derzeit (2020) noch unklar.


==Synthese==
Weiterhin scheinen einige SNPs das Risiko für [[Hypertonie]] und [[Kardiovaskuläre Erkrankung|kardiovaskuläre Ereignisse]] zu erhöhen.


Die [[Synthese]] des Tamm-Horsfall-Proteins findet in den Zellen des dicken aufsteigenden Schenkels der [[Henle-Schleife]] statt. Nach der eigentlichen Produktion wird es über das [[Glycosyl-Phosphatidyl-Inositol]] ([[GPI]]) an die [[luminal]]e [[Zellmembran]]transportiert. Dort erfolgt schließlich eine proteolytische Spaltung des Tamm-Horsfall-Proteins, ehe es in das [[Lumen]] des Nierentubulus freigesetzt wird.
===Biomarker===
THP wird bereits vom Fetus produziert und kann die [[Plazentaschranke]] nicht überwinden. Daher gilt es als potentieller [[Biomarker]] für die tubuläre Entwicklung ([[in utero]]) und den Nachweis bzw. Vorhersage einer akuten Nierenschädigung bei [[Neugeborenes|Neugeborenen]].  


==Aufgaben im Körper==
In [[epidemiologisch]]en [[Beobachtungsstudie]]n geht eine erhöhte THP-Konzentration im Urin mit einer erhöhten [[eGFR]], Nierengröße und renalen Funktionsreserve einher. In prospektiven Studien bei Risikopatienten sind erhöhte THP-Konzentrationen mit einem verminderten [[Mortalität]]srisiko und einer reduzierten GFR-Abnahme assoziiert. Daher stellt THP einen möglichen Biomarker u.a. für akute [[Lupus-Nephritis]], [[diabetische Nephropathie]] und [[ADPKD]] dar.


* Schutz der [[Niere]] vor der Bildung von Nierensteinen (diese Aufgabe konnte bisher noch nicht eindeutig nachgewiesen werden, doch sprechen viele Anhaltspunkte dafür)
===Akanthozyten im Urin===
* Aktivierung von Monozyten und neutrophilen Granulozyten durch seine Fähigkeit zur immunmodulatorischen Aktivität
[[Dysmorph]]e Erythrozyten (z.B. [[Akanthozyt]]en) im Urin entstehen vermutlich durch die Auflagerung von Tamm-Horsfall-Protein.
* Aktivierung von dendritischen Zellen über den [[Toll-like-Rezeptor 4]] (TLR4), dadurch Bildung eines Bindegliedes zwischen spezifischer und unspezifischer [[Abwehr]]


==Krankheitswert==
===Transfusionsmedizin===
Das THP trägt eine spezielle Anordnung von Zuckermolekülen, die als Sd<sup>a</sup>- bzw. [[Sid-Antigen]] bezeichnet wird. Dieses Antigen wird auch auf Erythrozyten exprimiert und definiert das [[Sid-Blutgruppensystem]].


Neben den genannten nützlichen Aufgaben können Mutationen des Tamm-Horsfall-Proteins auch zu bestimmten Erkrankungen führen. Insbesondere drei erbliche Nierenerkrankungen sind hier zu nennen:
Antikörper gegen das Sid-Antigen sind meist vom [[IgM]]-Typ und haben nur eine geringe [[transfusionsmedizin]]ische Bedeutung.  


* [[dominante glomerulozystische Nierenerkrankung]]
==Literatur==
* [[familiäre juvenile hyperurikämische Nephropathie]] ([[FJHM]])
* Tsai-Hung Wu et al. [https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29361765/ Tamm-Horsfall Protein is a Potent Immunomodulatory Molecule and a Disease Biomarker in the Urinary System], Molecules. 2018;23(1):200. Published 2018 Jan 22, abgerufen am 17.07.2020
* [[medullär-zystische Nierenerkrankung Typ 2]]
* Devuyst O et al. [https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28781372/ Uromodulin: from physiology to rare and complex kidney disorders], Nat Rev Nephrol. 2017;13(9):525-544, abgerufen am 17.07.2020
Besonders im Alter eines Heranwachsenden können Mutationen des Tamm-Horsfall-Proteins zu Entzündungen wie der Tubulointerstitiellen Nephritis führen. Weiterhin kommt es regelmäßig zu einer [[Fibrose]] (deutlich übersteigerte Bildung von [[Bindegewebe]]) im Nierengewebe, wodurch weniger echtes, funktionstüchtiges Nierenparenchym zur Verfügung steht und die Niere schlechter arbeitet. Es fehlt der [[Niere]] die Fähigkeit zu einer entsprechend hohen Konzentrierung des Harns. Daraus resultiert bei der familiären juvenilen hyperurikämischen Nephropathie ([[FJHM]]) ein permanent stark erhöhter Harnsäurespiegel im Blut mit der Folge einer [[Gicht]]. Bei der medullär-zystischen Nierenerkrankung Typ 2 ([[MCKD2]]) ist das Leitsymptom eine sehr häufige Bildung von Nierenzysten. Ein Zusammenhang zwischen einer Mutation im Gen des Tamm-Horsfall-Proteins und einem gehäuften Auftreten von chronisch verlaufenden Nierenerkrankungen ist wissenschaftlich in zahlreichen Studien belegt worden. Bei Patienten, bei denen ein Multiples Myelom vorliegt, kommt es in den Nierenkanälchen in Anwesenheit des Tamm-Horsfall-Proteins zur Ausfällung von [[freie Leichtkette|freien Leichtketten]] in Form von Eiweißzylindern. Das daraus resultierende Krankheitsbild mit Zerstörung der Zellen in den Nierenkanälchen nennt sich [[Myelomniere]]. Dabei wirken die Ausfällungen toxisch auf die Zellen der Nierenkanälchen. Nach und nach lässt die Funktion der Niere nach und es kommt häufig zu einem akuten Nierenversagen.
* Devuyst O, Pattaro C. [https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5827601/ The UMOD Locus: Insights into the Pathogenesis and Prognosis of Kidney Disease], J Am Soc Nephrol. 2018 Mar; 29(3): 713–726, abgerufen am 17.07.2020
[[Fachgebiet:Labormedizin]]
[[Fachgebiet:Labormedizin]]
[[Fachgebiet:Urologie]]
[[Fachgebiet:Urologie]]

Aktuelle Version vom 14. Oktober 2024, 10:31 Uhr

nach dem estnischen Virologen Igor Tamm (1922-1995) und dem US-amerikanischen Virologen Frank L. Horsfall (1906-1971)
Synonyme: Uromodulin, Tamm-Horsfall-Mukoprotein, Tamm-Horsfall-Glykoprotein
Englisch: Tamm-Horsfall protein, Uromodilin

Definition

Das Tamm-Horsfall-Protein, kurz THP, ist ein in der Niere gebildetes Glykoprotein. Es macht den größten Anteil der Proteine im Urin aus.

Genetik

Das Tamm-Horsfall-Protein wird durch das UMOD-Gen auf Chromosom 16 (Genlokus 16p12.3) kodiert.

Biochemie

Die Synthese des Tamm-Horsfall-Proteins findet in den Zellen des dicken aufsteigenden Schenkels der Henle-Schleife statt, also in der Pars recta des distalen Tubulus. Das gebildete THP besteht aus 616 Aminosäuren und hat eine Molekülmasse von 67 kDa. Es besitzt viele Cysteinreste sowie vier EGF-ähnliche Domänen. Die Halbwertszeit beträgt ca. 16 Stunden.

Aufgrund der posttranslationalen Modifikation (u.a. durch Glykosylierung) hat THP eine Molekülmasse von ca. 85-100 kDa. Anschließend wird THP über den Glykosylphosphatidylinositol-Anker (GPI-Anker) an der luminalen Zellmembran fixiert. Dort erfolgt schließlich eine proteolytische Spaltung des Tamm-Horsfall-Proteins, ehe es in das Lumen des Nierentubulus freigesetzt wird. Diese Reaktion wird durch die Serinprotease Hepsin katalysiert.

Im Urin macht THP mit 40-50 % den Hauptteil der Proteine aus und wird mit einer Konzentration von über 50-150 mg/d ausgeschieden. Jedoch wird es von den meisten Methoden zur Proteinquantifizierung im Urin nicht erfasst. Aufgrund der Sialinsäurereste liegt der isoelektrische Punkt von THP bei 3,5. Daher liegt es als polyanionisches Protein im Urin vor. Es tendiert dazu, große Polymere mit ca. 7.000 kDA in Form einer porösen, dreidimensionalen Matrix zu bilden. Die Matrix wird aus langen Proteinfilamenten gebildet, die jeweils aus zwei in einer rechtsgängigen Doppelhelix angeordneten Protofilamenten bestehen. Die strukturelle Anordnung der Filamente hängt von den ionischen Bedingungen und vom pH-Wert im Urin ab.

Funktionen

Die genaue Funktion des Tamm-Horsfall-Proteins ist derzeit (2020) nicht endgültig geklärt. Die meisten Untersuchungen basieren auf Tierexperimenten an Knockout-Mäusen. Es ist vermutlich an der Bildung des renalen Gegenstromgradienten, der Natriumhomöostase und der Blutdruckregulation beteiligt. Weiterhin hat es immunregulatorische Funktionen.

Wasserhaushalt

THP erhöht die Aktivität des Na-K-2Cl-Cotransporters (NKCC) und des Kaliumkanals ROMK. Dadurch kann es die Tonizität des Nierenmarks und die Fähigkeit der Niere zur Harnkonzentrierung beeinflussen. In Knockout-Mäusen führt die erhöhte luminale NaCl-Konzentration an der Macula densa (aufgrund der gestörten NKCC2- und ROMK-Funktion) zu einer verminderten Reninsynthese und Kreatinin-Clearance. Eine erhöhte Salzaufnahme mit der Nahrung führt zu einer erhöhten THP-Exkretion im Urin. Umgekehrt ist die Urinkonzentration bei einer verminderten Salzaufnahme reduziert. Über die Beeinflussung von NKCC2 und ROMK spielt THP eine Rolle bei der Blutdruckregulation.

Schutz vor Nierensteinen

Die negativ geladenen sialysierten Glykane von THP verhindern eine Aggregation von Calciumoxalat und Calciumphosphat in vitro. Knockout-Mäuse entwickeln spontane Nierenkalzifizierungen. Neben der potentiellen Rolle von THP als Inhibitor einer Kristallisierung, stabilisiert es auch TRPV5, sodass Calcium im distalen Tubulus reabsorbiert wird.

Schutz vor Harnwegsinfektionen

Knockout-Mäuse sind anfälliger für eine Besiedlung der Harnblase mit Escherichia coli, die Mannose-sensitive Fimbrien besitzen. Diese Beobachtung erkärt sich aus der Tatsache, dass die Mannoseketten von THP dem mannosylierten Uroplakin auf dem Urothel ähneln. Dadurch bindet das Lektin FimH von Escherichia coli vermehrt an THP anstatt an Uroplakin. Die schützende Wirkung von THP gegen Harnwegsinfektionen wurde in Kohortenstudien beim Menschen nachgewiesen. Die Leukozyturie und Nitriturie im Urin korrelierte umgekehrt mit dem THP-Spiegel.

Immunmodulation

THP hemmt in vitro die virale Hämagglutination sowie die antigenvermittelte T-Zell-Aktivierung und Monozytenfunktion. Im Urin bindet es mehrere immunregulatorische Proteine wie IgG, IL-1 und TNF-α. Dadurch kann THP evtl. proinflammatorische und chemotaktische Substanzen einfangen, eine Invasion von neutrophilen Granulozyten reduzieren und die Regeneration nach akuten ischämischen Nierenschäden fördern. Weiterhin kann unter bestimmten Umständen THP auch basolateral relokalisiert und in das Blut befördert werden. Dort kann THP evtl. weitere immunregulatorische Funktionen ausüben.

Neben der antiinflammatorischen Wirkung hat THP auch proinflammatorische Effekte. Es kann als Alarmin agieren und Monozyten und dendritische Zellen über Toll-like-Rezeptor 4 (TLR4) und NF-κB aktivieren. Auf Granulozyten bindet es an den EGF-Rezeptor und aktiviert Rho- und MAPK-Signalwege.

Außerdem kann THP in der Amnionflüssigkeit nachgewiesen werden, wo es vermutlich dazu beiträgt, die Abstoßung des Fetus zu verhindern.

Klinik

Harnsediment

Hyaline Zylinder bestehen fast nur aus Tamm-Horsfall-Protein. Sie können regelmäßig im Urinsediment nachgewiesen werden. Sie kommen vermehrt bei verstärktem distalen Harnfluss, unter starker körperlicher Belastung sowie bei Fieber vor und haben daher nicht immer einen Krankheitswert.

Einlagerungen von Epithelzellen (Epithelzylinder), Erythrozyten (Erythrozytenzylinder), Leukozyten (Leukozytenzylinder) oder Bakterien (Bakterienzylinder) zeigen pathologische Vorgänge im Tubulusapparat an.

Multiples Myelom

Bei Patienten mit multiplem Myelom werden vermehrt monoklonale freie Leichtketten renal ausgeschieden. Die Konzentration übersteigt die Reabsorptionskapazität des proximalen Tubulus, was zu einer Bence-Jones-Proteinurie führt. Dabei interagieren die freien Leichtketten mit THP und präzipitieren, was zu einer Bildung von Zylindern im distalen Nephron, einer Obstruktion und zur tubulointerstitiellen Schädigung führt (Myelomniere).

UMOD-Mutationen

Bei Mutationen des UMOD-Gens kann es zu Uromodulin-assoziierten Nierenerkrankungen (UAKD) kommen. Die UAKD zählen zu den autosomal-dominanten tubulointerstitiellen Nierenerkrankungen (ADTKD). Dabei unterscheidet man zwischen der:

Bei der UAKD ist eine Hyperurikämie meist die Erstmanifestation der Erkrankung. Weiterhin ist sie mit einer Gicht und einer milden Störung der Harnkonzentrierung assoziiert. Das Urinsediment ist meist unauffällig, eine Proteinurie liegt i.d.R. nicht vor.

Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer progressiven Nierenschädigung mit terminalem Nierenversagen im Alter von 25 bis 70 Jahren. Nierenzysten können an der kortikomedullären Grenze auftreten, jedoch nicht häufiger als bei Patienten mit anderen Nierenerkrankungen. Pathohistologisch ist die UAKD charakterisiert durch einen tubulointerstitiellen Schaden mit moderater entzündlicher Infiltration, interstitieller Fibrose und Tubulusatrophie. Intrazellulär zeigen sich Ablagerungen von THP im endoplasmatischen Retikulum. Dies wird dadurch erklärt, dass die Mutationen zu einer gestörten Proteinfaltung führen. Dadurch wird THP nur in geringem Ausmaß zur apikalen Zellmembran transportiert bzw. in den Urin ausgeschieden. Gelangt das mutierte THP in den Urin, bildet es unstrukturierte Aggregate und keine organisierten Polymere. Die Folge ist eine Dysregulation des dicken aufsteigenden Teils der Henle-Schleife.

UMOD-Polymorphismen

In genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) konnten häufige Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) des UMOD-Gens nachgewiesen werden, die mit vermindertem oder erhöhtem Risiko einer chronischen Niereninsuffizienz (CKD) einhergehen.

Bei den Allelvarianten (z.B. Ahnenallel rs4293393), die mit einem erhöhten Risiko für eine CKD einhergehen, liegt THP in einer erhöhten Konzentration im Urin vor. Diese Risikoallele kommen in Europa mit einer Allelfrequenz von ca. 80 % vor. Daher wird vermutet, dass diesen Polymorphismen vermutlich ein evolutionärer Vorteil zu Grunde liegt, evtl. aufgrund der verminderten Rate an Harnwegsinfektionen. Warum die erhöhte THP-Konzentration im Urin mit dem CKD-Risiko korreliert, ist derzeit (2020) noch unklar.

Weiterhin scheinen einige SNPs das Risiko für Hypertonie und kardiovaskuläre Ereignisse zu erhöhen.

Biomarker

THP wird bereits vom Fetus produziert und kann die Plazentaschranke nicht überwinden. Daher gilt es als potentieller Biomarker für die tubuläre Entwicklung (in utero) und den Nachweis bzw. Vorhersage einer akuten Nierenschädigung bei Neugeborenen.

In epidemiologischen Beobachtungsstudien geht eine erhöhte THP-Konzentration im Urin mit einer erhöhten eGFR, Nierengröße und renalen Funktionsreserve einher. In prospektiven Studien bei Risikopatienten sind erhöhte THP-Konzentrationen mit einem verminderten Mortalitätsrisiko und einer reduzierten GFR-Abnahme assoziiert. Daher stellt THP einen möglichen Biomarker u.a. für akute Lupus-Nephritis, diabetische Nephropathie und ADPKD dar.

Akanthozyten im Urin

Dysmorphe Erythrozyten (z.B. Akanthozyten) im Urin entstehen vermutlich durch die Auflagerung von Tamm-Horsfall-Protein.

Transfusionsmedizin

Das THP trägt eine spezielle Anordnung von Zuckermolekülen, die als Sda- bzw. Sid-Antigen bezeichnet wird. Dieses Antigen wird auch auf Erythrozyten exprimiert und definiert das Sid-Blutgruppensystem.

Antikörper gegen das Sid-Antigen sind meist vom IgM-Typ und haben nur eine geringe transfusionsmedizinische Bedeutung.

Literatur