Rückenmarksverletzung
Synonyme: Rückenmarkstrauma, Rückenmarksläsion
Englisch: spinal cord injury (SCI)
Definition
Eine Rückenmarksverletzung ist eine strukturelle oder funktionelle Schädigung des Rückenmarks, ggf. inklusive seiner umgebenden Strukturen (Wirbelkörper, Bandscheiben, Bandapparat, Gefäße). Sie kann zu motorischen, sensiblen und/oder vegetativen Funktionsstörungen führen.
Einteilung
...nach Morphologie
Klassisch werden drei morphologische Grundformen unterschieden:
- Commotio spinalis (Rückenmarkserschütterung): Funktionelle, meist vollständig reversible Rückenmarksfunktionsstörung ohne nachweisbare strukturelle Läsionen. Die Symptome bilden sich typischerweise innerhalb von Stunden bis Tagen vollständig zurück.
- Contusio spinalis (Rückenmarksprellung): Kontusionsverletzung mit intramedullären Mikroblutungen, Ödem und irreversiblen Zellschäden. Sie geht häufig mit bleibenden neurologischen Defiziten einher.
- Compressio spinalis (Rückenmarksquetschung): Kompression des Rückenmarks durch knöcherne Fragmente, Bandscheibenmaterial, Hämatome oder Raumforderungen. Sie kann akut (z.B. Traumafraktur mit Hinterkantenfragmenten) oder chronisch (z.B. spondylotische Stenose, Tumor) auftreten. Führt in der Regel immer zu bleibenden neurologischen Defiziten.
Die aus diesen Verletzungen resultierenden, typischen Symptomkonstellationen werden als Rückenmarkssyndrome (z.B. komplettes Querschnittssyndrom, Brown-Séquard-Syndrom, zentromedulläres Syndrom) bezeichnet.
...nach ASIA
Der neurologische Schweregrad wird nach der ASIA Impairment Scale (AIS) der American Spinal Injury Association (ASIA) klassifiziert:
- AIS A – komplett: keine motorische oder sensible Funktion in den sakralen Segmenten S4–S5.
- AIS B – sensorisch inkomplett: Sensibilität in S4–S5 erhalten, keine motorische Funktion unterhalb der Läsion.
- AIS C – motorisch inkomplett: motorische Funktion unterhalb der Läsion erhalten, aber >50 % der Kennmuskeln haben MRC-Kraft <3/5.
- AIS D – motorisch inkomplett: motorische Funktion unterhalb der Läsion, ≥50 % der Kennmuskeln mit Kraft ≥3/5.
- AIS E – normal: motorische und sensible Funktion normal.
...nach Ätiologie
Traumatische Ursachen
Traumatische Rückenmarksverletzungen (tSCI) entstehen durch plötzliche äußere Gewalteinwirkung mit Kompressions-, Distraktions- oder Rotationsmechanismen. Wesentliche Ursachen sind:
- Verkehrsunfälle (PKW, Motorrad, Fahrrad, Fußgängertrauma)
- Stürze aus Höhe oder im häuslichen Umfeld
- Sportunfälle (v.a. Reiten, Tauchen, Kontaktsport)
- direkte Gewalt (Schuss-/Stichverletzungen)
- iatrogene Ereignisse im Rahmen von Wirbelsäulen- oder Gefäßeingriffen
Nicht-traumatische Ursachen
Nicht-traumatische Rückenmarksverletzungen beruhen auf intrinsischen oder extrinsischen Pathologien:
- Tumore (intra- und extramedullär)
- Infektionen (Epiduralabszess, Spondylodiszitis, virale oder bakterielle Myelitis)
- vaskuläre Ereignisse (Rückenmarksinfarkt, AV-Malformationen, epidurales Hämatom)
- degenerative oder entzündliche Erkrankungen (z.B. Bandscheibenhernien, Multiple Sklerose, NMOST)
- metabolische oder toxische Ursachen (selten)
Epidemiologie
In Deutschland liegt die Inzidenz traumatischer Rückenmarksverletzungen bei etwa 15 bis 20 Fällen pro Million Einwohner und Jahr. Etwa 55 bis 60 % betreffen die Halswirbelsäule, 30 % die Brust- und 10 bis 15 % die Lendenwirbelsäule. Männer sind 3- bis 4-mal häufiger betroffen. Zudem treten Rückenmarksverletzungen häufiger bei jüngeren Personen (20–35 Lebensjahr, v.a. Hochenergie-Traumata) und älteren Personen (> 60 Jahre, Sturzverletzungen bei vorbestehenden degenerativen Veränderungen) auf.
Pathophysiologie
Die primäre Rückenmarksverletzung entsteht im Moment des Traumas und umfasst:
- mechanische Zerstörung von Axonen, Neuronen und Glia
- Gefäßverletzungen mit unmittelbarer Minderdurchblutung
- Zerreißen der Pia/weißen Substanz, kontusionsbedingte Blutungen
Die Ausprägung hängt von Kraftvektor, Geschwindigkeit und Dauer der Kompression bzw. Distraktion ab.
Die primäre Schädigung löst eine komplexe sekundäre Schädigungskaskade aus, die Minuten bis Wochen anhält und das Ausmaß der Läsion deutlich vergrößern kann:
- Ischämie: Vasospastische und thrombotische Mikrozirkulationsstörungen
- Ionen- und Neurotransdysregulation: intrazelluläre Ca²⁺-Überladung, Glutamat-Exzitotoxizität
- Entzündungsreaktion: Aktivierung von Mikroglia und Astrozyten, Infiltration neutrophiler Granulozyten, Monozyten und Lymphozyten, Freisetzung proinflammatorischer Zytokine.
- Zelluntergang: Apoptose von Neuronen und Oligodendrozyten, Demyelinisierung, axonale Degeneration.
- Oxidativer Stress und mitochondriale Dysfunktion
- Narben- und Zystenbildung: Glianarbe, Syringomyelie, chronische Atrophie und Leitungsblock.
Diese sekundären Prozesse sind die Rationale für frühzeitige Dekompression und hämodynamische Optimierung.
Klinik
Das klinische Bild hängt von Höhe, Ausdehnung und Vollständigkeit der Rückenmarksverletzung ab. Typische Befunde sind:
- schlaffe Paralyse und Areflexie in der Akutphase (spinaler Schock), später Übergang in Spastik
- Hypästhesie, Anästhesie, dissoziierte Sensibilitätsausfälle je nach Läsionsmuster, Dermatom-spezifische Defizite
- vegetative Störungen: Hypotension, Bradykardie (insbesondere bei hohen zervikalen Läsionen, neurogener Schock), Temperaturdysregulation, Störungen von Blasen- und Darmfunktion, sexuelle Dysfunktion
- spinaler Schock: vorübergehender Funktionsverlust aller Myelonschaltkreise unterhalb der Läsion (Areflexie, schlaffe Paralyse, fehlender Sphinktertonus); Dauer Stunden bis Wochen
- respiratorische Insuffizienz bei hohen zervikalen Läsionen (Beteiligung des Nervus phrenicus, C3–C5)
- spezifische Syndrome wie zentromedulläres Syndrom, Brown-Séquard-Syndrom, vorderes und hinteres Rückenmarkssyndrom
- autonome Dysreflexie bei Läsionen oberhalb Th6: massive reflektorische Sympathikusaktivierung mit hypertensiven Krisen, Bradykardie, Kopfschmerz, Flush, die akut potenziell lebensbedrohlich ist
- Begleitend treten häufig Schmerzen und Muskelspasmen auf
Komplikationen
- venöse Thrombembolien (TVT, Lungenembolie)
- Dekubitalulzera, Infektionen (Pneumonie, Harnwegsinfekte, Sepsis)
- autonome Dysreflexie (insbesondere bei Läsionen über Th6)
- Spastik, Kontrakturen, neuropathischer Schmerz
- chronische Blasen- und Darmfunktionsstörungen, Sexual- und Fertilitätsstörungen
- posttraumatische Syringomyelie, Skoliose/Deformitäten
- psychische Komorbiditäten (Depression, Angststörung, PTBS)
Diagnostik
Klinische Untersuchung
Basis ist eine strukturierte neurologische Untersuchung nach den International Standards for Neurological Classification of Spinal Cord Injury (ISNCSCI) mit Bestimmung von Sensibilität, Motorik und sakraler Funktion sowie Einstufung in AIS-Grade. Gleichzeitig müssen Vitalfunktionen (Atemwege, Atmung, Kreislauf) im Rahmen einer standardisierten Traumaversorgung (z.B. ATLS) gesichert und Begleitverletzungen erfasst werden.
Bildgebung
Die Computertomografie (CT) der Wirbelsäule gilt als Goldstandard der initialen knöchernen Traumadiagnostik. Die Magnetresonanztomografie (MRT) erlaubt die weitergehende Beurteilung des Rückenmarks, der Bandscheiben, Bandstrukturen und epiduraler Hämatome. Sie ist insbesondere indiziert bei:
- klinisch-neurologischem Defizit ohne adäquates Korrelat in der CT,
- Verdacht auf Rückenmarkskompression oder ligamentäre Instabilität,
- präoperativer Planung, wenn dadurch keine relevante Verzögerung einer notwendigen Dekompression entsteht.
Eine routinemäßige MRT bei bewusstseinsgetrübten Patienten mit unauffälliger CT und ohne klinisches Defizit wird nicht empfohlen.
Therapie
Konservative Akuttherapie
Die Akutbehandlung folgt traumatologischen Algorithmen (z.B. Schockraum-SOP, ATLS). Ziele sind:
- Hämodynamisches Management: Hypotonie und Hypoxie sind starke Prädiktoren für ein schlechtes neurologisches Outcome. Deshalb wird eine aktive Blutdruckunterstützung empfohlen.
- MAP-Zielbereich in der ersten Woche nach tSCI mindestens 75–80 mmHg und < 90–95 mmHg
- Vasopressoren: Zur Erreichung der Ziele können Noradrenalin, Phenylephrin oder andere Vasopressoren eingesetzt werden. Dopamin ist wegen höherer Nebenwirkungsrate eher nachrangig.
- Spinal cord perfusion pressure (SCPP): entspricht der Differenz aus MAP und intraspinalem Druck. SCPP-Werte um 60–65 mmHg sind mit besserer neurologischer Erholung assoziiert, invasive Messkonzepte sind derzeit (2026) aber eher experimentell.
- Methylprednisolon hochdosiert: innerhalb von 8 Stunden nach tSCI ist Gegenstand anhaltender Kontroversen, da Studien widersprüchliche Ergebnisse liefern. Geringe motorische Verbesserungen stehen erhöhten Komplikationsraten (u.a. Pneumonie, Hyperglykämie, Infektionen) gegenüber. Daher empfiehlt die aktuelle S3-Leitlinie sowie mehrere internationale Leitlinien keine routinemäßige Anwendung. Wenn die Gabe im Einzelfall erwogen wird, erfolgt sie mit 30 mg/kgKG als Bolus, gefolgt von 5,4 mg/kgKG/h über 24 h.
- Thromboseprophylaxe: frühestmöglicher Beginn, idealerweise innerhalb von 72 Stunden, z.B. mit niedermolekularem Heparin (Enoxaparin, Dalteparin o.ä.). Ergänzung durch mechanische Maßnahmen (intermittierende pneumatische Kompression). Individuelle Anpassung der Prophylaxedauer abhängig von Läsionshöhe, Mobilisation und Blutungsrisiko.
Operative Akuttherapie
Eine chirurgische Dekompression und Stabilisierung innerhalb von 24 Stunden nach Trauma ist mit einer signifikant besseren neurologischen Erholung assoziiert (mittlere Verbesserung des ASIA-Motor Scores um ca. 4–5 Punkte; mehr als doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung des AIS-Grades ≥2) ohne Erhöhung schwerer Komplikationen. Nach Ablauf von 24 Stunden nimmt die Wirksamkeit deutlich ab. Für "ultra-frühe" Eingriffe (<8–12 h) gibt es Hinweise auf zusätzlichen Benefit, die Evidenz ist aber heterogen.
Als operative Zugangswege kommen ventrale, dorsale oder kombinierte Verfahren (z.B. ACDF, ACCF, dorsale Dekompression mit Spondylodese) in Frage. Die Wahl richtet sich nach Läsionshöhe, Instabilitätsmuster und Kompressionsrichtung. Ein vollständiger perimedullärer Liquorsaum in der postoperativen MRT gilt als radiologisches Surrogat einer suffizienten Dekompression.
Rehabilitation
Eine frühe Rehabilitation mittels mobilisierenden Maßnahmen, Atemphysiotherapie, Dekubitus- und Kontrakturprophylaxe sowie Training von Restfunktionen sollte möglichst innerhalb der ersten Woche erfolgen. Wichtig ist auch eine psychologische Unterstützung.
Prognose
Die Prognose hängt vor allem ab von Vollständigkeit der Läsion (AIS-Grad), Läsionshöhe, Alter und Komorbiditäten, Zeitpunkt der Dekompression und Qualität der Akutversorgung. Die größte neurologische Erholung erfolgt innerhalb der ersten 6 Monate. Weitere, meist geringere Verbesserungen können bis zu 5 Jahre nach dem Trauma beobachtet werden. Bei initial komplettem Querschnitt (AIS A) zeigen etwa 10-20 % innerhalb des ersten Jahres eine gewisse Besserung, jedoch selten bis zur Gehfähigkeit. Bei inkompletten Läsionen (AIS B-D) erreichen etwa 20-75 % der Patienten innerhalb eines Jahres zumindest eingeschränkte Gehfähigkeit.
Prävention
Wichtige präventive Maßnahmen sind die Unfall- (Verkehrssicherheit, Helmpflicht, Gurtsysteme, Arbeitsschutz) und Sturzprävention (Training, Wohnraumanpassung, Osteoporosetherapie).
Literatur
- Krueckel J et al. Klinische Handlungsempfehlungen für die Akutversorgung traumatischer Rückenmarksverletzungen, Dtsch Arztebl Int 2025
- Rau Y et al. Incidence of spinal cord injuries in Germany. Eur Spine J. 2023
- Ahuja CS et al. Traumatic Spinal Cord Injury-Repair and Regeneration. Neurosurgery. 2017
- Kwon BK et al. AO Spine/Praxis Clinical Practice Guidelines for the Management of Acute Spinal Cord Injury: An Introduction to a Focus Issue. Global Spine J. 2024
- Weidner N et al. S3-Leitlinie "Diagnostik und Therapie der akuten Querschnittlähmung". DGN/DMGP, 2024.