Bandscheibenvorfall
Synonyme: Diskusprolaps, Diskushernie, Diskusherniation, Bandscheibenprolaps, Prolapsus nuclei pulposi, Prolaps disci, BSP, BSV
Englisch: spinal disc herniation, herniation of intervertebral disk
Definition
Unter einem Bandscheibenvorfall versteht man die plötzlich oder langsam zunehmende Verlagerung, bzw. den Austritt von Gewebe des Nucleus pulposus der Bandscheibe. Dabei kann es zu einer Kompression des Rückenmarks oder der Nervenwurzeln kommen.
Vom Bandscheibenvorfall abgegrenzt wird die Bandscheibenvorwölbung (Bandscheibenprotrusion).
Ätiopathogenese
Der Bandscheibenvorfall ist eine Manifestation der degenerativen Wirbelsäulenerkrankung. Durch körperliche Belastung kommt es mit zunehmendem Alter zum Wasserverlust und fibrösen Umbau des Nucleus pulposus (Diskose). Dadurch nimmt die Höhe der Bandscheibenfächer ab. Die veränderte Statik begünstigt eine Sklerose der angrenzenden Wirbelkörperendplatten (Osteochondrosis intervertebralis) und die Bildung von Spondylophyten (Spondylose). Treten Einrisse des Anulus fibrosus auf, können Anteile des Nucleus pulposus austreten. Man spricht dann von einem Prolaps. Verliert der Prolaps Kontakt zur ursprünglichen Bandscheibe, liegt ein Bandscheibensequester vor. Ein Massenprolaps ist ein Bandscheibenvorfall mit subtotaler Verlegung des Spinalkanals und Kompression des Myelons oder der Kaudafasern.
Seltener entsteht ein Bandscheibenvorfall durch ein Trauma mit axialer Stauchung der Wirbelsäule.
Epidemiologie
Bandscheibenvorfälle sind sehr häufig und treten bei ca. 30 % der asymptomatischen 60-jährigen Bevölkerung auf. An der Lendenwirbelsäule (LWS) sind 90 % der Fälle in den Segmenten LWK4/5 und LWK5/SWK1 lokalisiert. An der Halswirbelsäule (HWS) ist in 60 bis 75 % das Segment HWK 6/7 und in 20 bis 30 % das Segment HWK 5/6 betroffen.
Terminologie
Die Terminologie der degenerativen Bandscheibenveränderungen ist nicht einheitlich. Im deutschen Sprachraum unterscheidet man in der Regel:
- Bandscheibenprotrusion bzw. Bandscheibenvorwölbung: Breitbasige oder umschriebene Vorwölbung der Bandscheibe bei intaktem Anulus fibrosus
- Bandscheibenprolaps bzw. Bandscheibenvorfall: Vorwölbung von Nucleus pulposus durch einen Defekt im Anulus fibrosis
In der amerikanischen Literatur werden meist folgende Begriffe verwendet:
- Breitbasige Bandscheibenvorwölbung ("disc bulge"): relativ geringe Vorwölbung (meist < 3 mm), aber > 50 % des Umfangs der Bandscheibe.
- zirkulär ("symmetrical disc bulge")
- lateralisiert ("asymmetric disc bulge")
- Herniation/Prolaps/Vorfall ("disc herniation"): Bandscheibenvorwölbung < 50 % des Umfangs
- fokal ("focal herniation"): < 25 % des Umfangs
- breitbasig ("broad-based herniation"): 25 - 50 % des Umfangs
- Protrusion ("protruded disc herniation"): Herniation mit breiter Basis (größter Durchmesser des vorgewölbten Anteils findet sich am Übergang zur Bandscheibe). Der vertikale Durchmesser kann im sagittalen Bild die Höhe des Bandscheibenfachs definitionsgemäß nicht überschreiten.
- Extrusion ("extruded disc herniation"): Herniation mit Taillierung am Übergang zur Bandscheibe
Klinik
Die meisten Bandscheibenvorfälle verlaufen asymptomatisch. Mögliche Beschwerden sind lokale Rückenschmerzen und bei Affektion einer Nervenwurzel eine Radikulopathie (radikuläre Schmerzen, Sensibilitätsstörungen und Paresen im entsprechenden Versorgungsgebiet).
Diagnostik
Klinische Untersuchung
Basis der Diagnostik ist eine gründliche neurologische Untersuchung, um Lähmungen, Taubheitsgefühle und Reflexdifferenzen erkennen zu können. Bei der klinischen Untersuchung werden u.a. folgende klinische Zeichen überprüft:
Bildgebung
An der HWS und BWS entspringen die Nervenwurzeln etwa in Höhe der Bandscheibenfächer und verlaufen dann weitgehend horizontal zu den Neuroforamina. Entsprechend können mediolaterale, intraforaminale und laterale Bandscheibenvorfälle die entsprechende Nervenwurzel komprimieren (also z.B. bei HWK 6/7 die C7-Wurzel, bei BWK 5/6 die Th5-Wurzel).
An der unteren BWS und LWS verlaufen die Nervenwurzeln auf dem Weg zu ihren Neuroforamina nach kaudolateral und erreichen den Eingang des Neuroforamens oberhalb der Höhe des Bandscheibenfachs. Somit erreichen nur größere intraforaminale und laterale Vorfälle sowie weit nach kranial umgeschlagene Vorfälle die entsprechende Nervenwurzel (z.B. bei LWK 4/5 die L4-Wurzel). Bei mediolateralen Vorfällen kommt es in der Regel zur Affektion der nächsttieferen Nervenwurzel am Austritt aus dem Duralsack (z.B. bei LWK 4/5 die L5-Wurzel).
Bei der Beurteilung der Befunde ist zu beachten, dass die radiologisch sichtbaren degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule nur gering mit den klinischen Beschwerden korrelieren. Über 50 % aller asymptomatischen Patienten weisen Bandscheibenprotrusionen, fast 30 % Bandscheibenvorfälle auf.
Einteilung
Bandscheibenvorfälle werden je nach Lokalisation eingeteilt in:
- axial:
- median
- mediolateral/rezessal
- foraminal
- lateral/extraforaminal
- sagittal:
- subligamentär: unterhalb des hinteren Längsband
- extraligamentär: hinteres Längsband ist durchbrochen, jedoch besteht noch Kontakt zur ursprünglichen Bandscheibe
Computertomographie
Eine Röntgenaufnahme ist nicht zur Diagnostik eines Bandscheibenvorfalls geeignet, da sie nur Aufschluss über die knöchernen Strukturen gibt. In der Computertomographie (CT) erscheint der Bandscheibenvorfall als weichteildichte Raumforderung, die von ventral in den Spinalkanal ragt. Chronische Herniationen können selten sekundär verkalken. Begleitend finden sich weitere Zeichen der Osteochondrose (Vakuumphänomen, Bandscheibenverkalkungen, Höhenminderung der Bandscheibenfächer).
In der Post-Myelographie-CT kann die Weite von Spinalkanal und Neuroforamina und die Beziehung zwischen Bandscheibenvorfall und Nervenwurzel sehr gut beurteilt werden.
Magnetresonanztomographie
Das wichtigste Diagnoseverfahren ist die Magnetresonanztomographie (MRT). Mit ihrer Hilfe können die Größe, Ausdehnung und Form eines Bandscheibenvorfalles sowie Informationen über die betroffenen Nerven gesammelt werden.
Der prolabierte Bandscheibenanteil ist T1w-isointens und T2w-iso- bis hyperintens zur ursprünglichen Bandscheibe. An der HWS oder BWS können größere Vorfälle zu einer Kompression des Rückenmarks führen, die eine T2w-Signalsteigerung durch ein Ödem (akut) oder eine Gliose (chronisch) hervorruft. Man spricht hier von einem Myelopathiesignal.
Die Unterscheidung zwischen Extrusion und Protrusion (amerikanische Terminologie) gelingt in sagittalen Aufnahmen: Extrusionen zeigen eine pilzförmige Taillierung am Übergang zur ursprünglichen Bandscheibe. Weiterhin sind intraforaminale Bandscheibenvorfälle insbesondere in den sagittalen Aufnahmen beurteilbar. Dabei ist entscheidend, ob die Nervenwurzel noch regelrecht von epiduralem Fettgewebe umgeben ist. Hilfreich ist dabei die Pfirrmann-Einteilung.
An der HWS können die Neuroforamina am besten durch parasagittale, senkrecht auf die Neuroforamina angulierte Aufnahmen beurteilt werden.
Ältere Bandscheibenvorfälle (incl. Sequester) können vaskularisiert sein und in dann in der Frühphase eine geringe, randständige und in der Spätphase (> 30 Minuten) ggf. eine diffuse Kontrastmittelaufnahme zeigen.
Konventionelle Myelographie
Die konventionelle Myelographie zeigt den Bandscheibenvorfall indirekt durch die Kompression des Duralsacks oder der Nervenwurzelscheide, oder durch Verlagerung der Nervenwurzel.
Differentialdiagnosen
Klinisch müssen unter anderem folgende Differenzialdiagnosen berücksichtigt werden:
- Spinalkanalstenose und Neuroforamenstenose anderer Genese (z.B. durch Retrospondylophyten)
- Schmerzen durch andere degenerative Prozesse: z.B. Facettensyndrom, ISG-Syndrom, Coxarthrose
- Narbenbildung (postoperativ)
- Meningopolyneuritis (Bannwarth-Syndrom)
- Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK)
Radiologisch ist die Abgrenzung einer fokalen Bandscheibenprotrusion zu einem kleinen Bandscheibenvorfall nur möglich, wenn auf den MRT-Aufnahmen der Einriss im Anulus fibrosus erkennbar ist. Weitere Differenzialdiagnosen sind:
- postoperatives Narbengewebe: umschließt oft die Nervenwurzel und nimmt im Gegensatz zu älteren, vaskularisierten Bandscheibenvorfällen bereits in der Frühphase homogen Kontrastmittel auf. Bandscheibengewebe zeigt eine randständige und verzögerte Kontrastmittelaufnahme.
- Nervenscheidentumor: nimmt früh und kräftig Kontrastmittel auf
- Epiduralhämatom: häufiger dorsal des Duralsacks, in der Akutphase ähnliches Signal wie Bandscheibengewebe, in subakuter Phase T1w-hyperintens.
Mit der MRT ist eine sichere Unterscheidung zwischen einem Bandscheibenvorfall, Spondylophyten oder einem verkalkten Bandscheibenvorfall oft nicht möglich. In bestimmten Fällen sollte daher präoperativ eine ergänzende CT durchgeführt werden.
Therapie
Die meisten Bandscheibenvorfälle sind symptomlos und bedürfen keiner speziellen Behandlung. 80 bis 90 % der Bandscheibenvorfälle lassen sich konservativ behandeln, wobei hier v.a. eine adäquate Schmerztherapie entscheidend ist.
In Fällen, in denen sogenannte "Red-flag-Symptome" auftreten, besteht jedoch Handlungsbedarf. Zu den Red-flag-Symptomen zählen:
- Progrediente neurologische Ausfälle
- Konus-Kauda-Syndrom: u.a. Reithosenanästhesie, Harn- und Stuhlinkontinenz
- Schmerzverstärkung in der Nacht
- Nachlassende Schmerzen bei deutlicher Parese
- Z.n. aktuellem Unfall (V.a. Wirbelfraktur)
- Bekannte Osteoporose mit Bagatelltrauma
- Tumoranamnese
- Infektionen (V.a. Spondylodiszitis)
- Verdächtige Allgemeinsymptome (Fieber, Gewichtsverlust)
Operative Verfahren
Die operative Therapie eines Bandscheibenvorfalls wird heute in der Regel minimal-invasiv durchgeführt. Die offene Diskektomie setzt man nur noch in besonderen Fällen ein. Mögliche Verfahren sind u.a.:
- Chemonukleolyse (CNL)
- manuelle perkutane Diskektomie (MPD)
- automatisierte perkutane lumbale Diskektomie (APLD)
- perkutane Laser-Diskus-Dekompression (PLDD)
- mikrochirurgischen offen Diskektomie (MCD)
- Nukleoplastie
- transforaminale endoskopische Nukleotomie
- interlaminäre endoskopische Nukleotomie