Zentromedulläres Syndrom
Englisch: central cord syndrome
Definition
Das zentromedulläre Syndrom ist ein Rückenmarkssyndrom mit inkomplettem Querschnitt. Es wird durch eine Läsion des zervikalen Rückenmarks verursacht und führt zu Paresen der Extremitäten und sensomotorischen neurologischen Ausfällen. Die Paresen sind dabei disproportional verteilt und betreffen die oberen Extremitäten stärker als die unteren.
Terminologie
Aufgrund neuerer pathophysiologischer Erkenntnisse wird der Begriff aktuell (2025) uneinheitlich verwendet. Insbesondere im deutschsprachigen Raum wird das Syndrom (noch) als Folge einer Schädigung der Rückenmarksanteile, die um den Zentralkanal herumliegen, definiert.[1][2]
In der internationalen Literatur (seit ca. 2010) wird zunehmend eine klinische Definition mit dem Hauptmerkmal auf disproportional verteilte Paresen verwendet.[3][4][5][6][7]
Epidemiologie
Das zentromedulläre Syndrom gilt als häufigstes spinales Syndrom mit inkompletter Querschnittslähmung, sowohl unter traumatischen, als auch unter atraumatischen Rückenmarksläsionen.[3][4] In Registerstudien wird der Anteil der Patienten mit Rückenmarkstrauma, die ein zentromedulläres Syndrom ausbilden, zwischen 14 und 30 % beziffert.[8][9] Die Altersverteilung ist bimodal, wobei der absolute Altersgipfel um das 60. Lebensjahr liegt. Ein weiterer Gipfel findet sich bei jüngeren Personen mit Hochenergietraumata.[3][4] Männer sind häufiger betroffen.[3][4]
Ätiologie
Ursache des zentromedullären Syndroms ist meist eine traumatische Rückenmarksverletzung. Als klassischer Auslöser bei älteren Patienten gilt ein zervikales Hyperextensionstrauma bei einem Sturz nach vorn auf das Kinn.[3][4][9] Hierbei wirkt eine Spondylose der Halswirbelsäule mit nachfolgender degenerativer Spinalkanalstenose prädisponierend, durch die es bei der Hyperextension zur Kompression des Zervikalmarks kommen soll.[3][4] Vertebrale Begleitverletzungen treten nicht zwingend auf.[3][4]
Bei jüngeren Patienten finden sich vor allem Hochenergietraumata als Auslöser, z.B. im Rahmen von Verkehrs- oder Sportunfällen.[3][4] Hier sind häufig vertebrale Subluxationen oder Wirbelfrakturen Ursache der Rückenmarksläsionen.[3][4]
Weitere mögliche Ursachen des zentromedullären Syndroms sind:[1][2]
- Syringomyelie
- rückenmarksnahe oder intraspinale Blutungen
- Rückenmarksischämien im Versorgungsgebiet der Arteria spinalis anterior
- stiftförmige intramedulläre Gliome (Stiftgliome)
- Myelitis, z.B. bei multipler Sklerose
- Tauchunfälle
Pathophysiologie
Das zentromedulläre Syndrom kommt ausschließlich bei Läsionen des Zervikalmarks vor.[5] Als Schädigungsmechanismen gelten Einblutungen, Ödeme, Scherkräfte oder andere Kontusionsschäden, die zur Waller-Degeneration von Axonen der langen Leitungsbahnen führen.[3][4]
Das genaue Läsionsmuster ist derzeit (2025) nicht abschließend geklärt.[5] Ursprünglich wurde als Ursache des zentromedullären Syndroms eine Schädigung der um den Zentralkanal herum gelegenen Rückenmarksanteile angenommen, bei der die medialen Anteile des Tractus corticospinalis lateralis stärker geschädigt werden als die lateralen. Da zu diesem Zeitpunkt von einer somatotopen Gliederung des Tractus ausgegangen wurde, bei der die medialen Fasern den Armen und die lateralen den Beinen zugeordnet wurden, sollte so das Überwiegen von Arm- gegenüber den Beinparesen erklärt werden.[3][4][5][6] Spätere Arbeiten konnten jedoch zeigen, dass eine Somatotopie innerhalb der Pyramidenbahn wahrscheinlich nicht in dieser Form vorhanden ist.[3][4][5][6] Zudem beschränkt sich das Schädigungsmuster nicht ausschließlich auf mediale Pyramidenbahnanteile.[6]
Derzeit wird eine Schädigung des Tractus corticospinalis lateralis, teils mit Beteiligung des Tractus spinothalamicus lateralis, als primärer Mechanismus des Syndroms vermutet.[3][4][5][6] Anteriore und posteriore Rückenmarksanteile, sowie in der Mehrzahl der Fälle auch die zentrale graue Substanz, sollen dabei ausgespart bleiben.[3][5] Die Armbetonung der Symptomatik wird durch die prominentere Rolle des Tractus corticospinalis lateralis an der (Fein-)motorik der Arme begründet, während die Beine eher durch extrapyramidale Bahnen angesteuert werden.[3][4][6]
Eine Beteiligung der zentralen Sympathikusbahn wird als Ursache möglicher vegetativer Störungen vermutet.
Klinik
Leitsymptom des zentromedullären Syndroms sind beidseitige arm- und handbetonte Paresen.[3][4] Auf Läsionshöhe sind die Paresen schlaff, darunter spastisch.[2][3] Die Lähmungen können in ihrer Schwere symmetrisch oder asymmetrisch sein.[4]
Weitere, variable Symptome sind:[1][2][3][4]
- Nackenschmerzen im Bereich der Läsion
- bilateral-dissoziierter Ausfall der protopathischen Sensibilität, insbesondere für Schmerz und Temperaturempfinden mit variabler Lokalisation (meist "umhangförmige" Verteilung über oberen Rücken und dorsale Arme)
- Kribbelparästhesien oder neuropathische Schmerzen auf Läsionshöhe und kaudal davon
- vegetative Störungen
- Vasomotorikstörungen, oft mit orthostatischer Hypotonie oder High-flow-Priapismus
- Schweißsekretionsstörungen
- Störungen der Hauttrophik
- neuropathische Arthropathie
- Miktionsstörungen, oft mit Harnverhalt und Überlaufblase, teils auch Reflexblase, Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
Zudem kann es zu allgemeinen Komplikationen einer hohen Rückenmarksschädigung, z.B. einer Zwerchfellparese bei Läsionen oberhalb von C5 kommen. Durch Immobilität und/oder Sensibilitätsverlust sind zudem Folgeerkrankungen wie Thrombosen oder Dekubiti möglich.[3]
Diagnostik
Die Diagnose wird anhand der Klinik und der korrespondierenden Bildgebung gestellt. Ausschlaggebend ist die Feststellung einer – gegenüber den Beinen – disproportional stärkeren Armparese in der neurologischen Untersuchung. Welche Paresedifferenz diagnostisch relevant ist, ist derzeit (2025) noch Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Am häufigsten wird eine Differenz der Arm- und Beinkraft von ≥ 10 Punkten auf der ISNCSCI-Skala als Diagnosekriterium herangezogen.[5]
Zur Darstellung der auslösenden Läsion und begleitender Verletzungen sollte eine CT und MRT der gesamten Wirbelsäule erfolgen.[3]
Therapie
Bei traumatischer Genese entsprechen die Grundzüge der Therapie denen anderer Formen der Rückenmarksverletzung.
Für den häufigen Mechanismus einer Hyperextension bei Spinalkanalstenose, bei der keine vertebralen Begleitverletzungen vorliegen, wird derzeit (2025) meist eine frühzeitige operative Dekompression empfohlen. Das gilt vor allem, wenn die Kompression anterior und fokal ist.[4][6]
Bei traumatischen Läsionen mit Begleitverletzungen, z.B. instabilen Wirbelfrakturen, beidseitiger Facettengelenksluxation, traumatischer Bandscheibenherniation oder Epiduralhämatomen wird eine frühe operative Versorgung dieser Zustände empfohlen.[4]
Die Therapie nicht-traumatischer Formen des zentromedullären Syndroms richtet sich nach der Ursache.
Literatur
- Übersichtsarbeit zu Schwierigkeiten und Inkonsistenzen bei der Definition des zentromedullären Syndroms: Engel-Haber et al., Central cord syndrome definitions, variations and limitations, Spinal Cord, 2023.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 Ende-Henningsen, Spinale Syndrome, eMedpedia - klinische Neurologie, Springer Verlag, 2017. Aufgerufen am 20.05.2025.
- ↑ 2,0 2,1 2,2 2,3 Grehl et al., Zentromedulläres Syndrom. In: Grehl, Reinhardt (Hrsg.), Checkliste Neurologie, 7. überarbeitete Auflage, Thieme Verlag Stuttgart, 2021.
- ↑ 3,00 3,01 3,02 3,03 3,04 3,05 3,06 3,07 3,08 3,09 3,10 3,11 3,12 3,13 3,14 3,15 3,16 3,17 3,18 3,19 Ameer et al., Central Cord Syndrome, StatPearls, 2023.
- ↑ 4,00 4,01 4,02 4,03 4,04 4,05 4,06 4,07 4,08 4,09 4,10 4,11 4,12 4,13 4,14 4,15 4,16 4,17 4,18 Carr et al., Traumatic Central Cord Syndrome, Clinical Spine Surgery, 2024.
- ↑ 5,0 5,1 5,2 5,3 5,4 5,5 5,6 5,7 Engel-Haber et al., Central cord syndrome definitions, variations and limitations, Spinal Cord, 2023.
- ↑ 6,0 6,1 6,2 6,3 6,4 6,5 6,6 Avila et al., Central Cord Syndrome Redefined, Neurosurgery Clinics of North America, 2021.
- ↑ Kirshblum et al., International standards for neurological classification of spinal cord injury (Revised 2011), The Journal of Spinal Cord Medicine, 2011.
- ↑ Engel-Haber et al., Incomplete Spinal Cord Syndromes: Current Incidence and Quantifiable Criteria for Classification, Journal of Neurotrauma, 2022.
- ↑ 9,0 9,1 Thompson et al., The changing demographics of traumatic spinal cord injury: An 11-year study of 831 patients, The Journal of Spinal Cord Medicine, 2015.