Hämophagozytische Lymphohistiozytose
Synonyme: hämophagozytierendes Syndrom, Makrophagen-Aktivierungssyndrom (sekundäre Form; "MAS"), histiozytäre medulläre Retikulose, hämophagozytisches Syndrom
Englisch: h(a)emophagocytic lymphohistiocytosis (HLH), h(a)emophagocytic syndrome, macrophage activation syndrome
Definition
Die hämophagozytische Lymphohistiozytose, kurz HLH, ist eine potentiell lebensbedrohliche Form der Histiozytose, bei der es durch eine übermäßige Aktivierung von Makrophagen und T-Zellen zur Hyperinflammation und zum Zytokinsturm kommt. Kennzeichen der Erkrankung ist das Auftreten von hämophagozytischen Histiozyten im Knochenmark und anderen Geweben. Klinisch ähnelt die Erkrankung einer Sepsis.
- ICD10-Code: D76.1
Nomenklatur
Im Kontext der HLH taucht häufig der Begriff "Makrophagenaktivierungssyndrom" (MAS) auf. Er wird jedoch nicht einheitlich verwendet. Während einige Autoren das MAS als Synonym zur sekundären HLH ansehen, wird der Begriff von anderen Autoren nur für eine sekundäre HLH im Rahmen rheumatologischer Erkrankungen bzw. Autoimmunerkrankungen verwendet.[1]
Epidemiologie
Da es sich bei der primären Form um eine seltene Erkrankung handelt, gibt es keine verlässlichen Angaben zur Inzidenz. Eine Studie aus Schweden beziffert die Inzidenz auf 0,3 bis 2 Fälle pro 100.000 Lebendgeburten, wobei keine Geschlechtsunterschiede festgestellt wurden.[2] Die Erkrankung tritt in der Regel im frühen Kindesalter auf, kann sich jedoch auch im Erwachsenenalter manifestieren.
Die Inzidenz der sekundären HLH ist ebenfalls schwer abzuschätzen. Die Altersspanne ist hier sehr breit und abhängig von der Ursache. Im Alter steigt der Anteil derer, die eine HLH im Rahmen eines Malignoms entwickeln. Teils handelt es sich um die Erstmanifestation der Tumorerkrankung.
Ätiologie und Pathogenese
Man unterscheidet eine primäre, hereditäre Form und eine sekundäre, erworbene Form der hämophagozytischen Lymphohistiozytose. Beiden Krankheitsbildern gemein ist eine übermäßige Aktivierung von Makrophagen. Diese wird für eine massive Freisetzung proinflammatorischer Zytokine (z.B. IFN-γ, TNFα, IL-1, IL-6) verantwortlich gemacht, welche die klinische Symptomatik hervorruft.
Die aktivierten Makrophagen können außerdem in diverse Gewebe einwandern und diese schädigen. Unter anderem ist eine Infiltration des Knochenmarks möglich, wo die Makrophagen Blutzellen sowie hämatopoietische Vorläuferzellen phagozytieren. Die Relevanz dieser sogenannten Hämophagozytose für das Krankheitsgeschehen ist unklar, sie kann nicht bei allen HLH-Patienten in der Knochenmarksbiopsie nachgewiesen werden.[3]
Primäre Form
Die primäre HLH wird auch als familiäre HLH, f-HLH oder einfach FLH bezeichnet. Ursache der f-HLH sind Loss-of-Function-Mutationen in Genen, die für die zytolytische Aktivität von zytotoxischen T-Zellen und NK-Zellen notwendig sind. Es werden fünf Formen der f-HLH unterschieden, die jeweils ein autosomal-rezessives Erbmuster vorweisen. Es finden sich zum Beispiel Mutationen im porenbildenden Protein Perforin[4] oder auch in Proteinen, die an der Degranulation von T- und NK-Zellen beteiligt sind (z.B. Syntaxin-11 und MUNC-13). Zusätzlich existieren verwandte Erkrankungen, die zu einer ähnlichen Immundysfunktion führen (z.B. X-chromosomales lymphoproliferatives Syndrom).
Durch die Mutationen verlieren die T- und NK-Zellen ihre Fähigkeit zur Beseitigung von Antigenstimuli. Dies triggert die Aktivierung anderer Immunmechanismen, was in der Freisetzung zahlreicher Makrophagen-stimulierender Zytokine (z.B. IFN-γ, TNFα, IL-1) mündet.[4]
Erkrankung | Gendefekt | Genlokus | Bemerkung |
---|---|---|---|
FHL1 | HPLH1 | 9q21.3-q22 | |
FHL2 | PRF1 (Perforin) | 10q22.1 | Verminderte Expression von Perforin, Defekt der zytotoxischen Granula |
FHL3 | UNC13D | 17q2 | niedrige Expression von CD107a, gestörte Regulation der zytotoxischen Exozytose |
FHL4 | STX11 | 6q24 | |
FHL5 | STXBP2 | 19p13 |
Sekundäre Form
Unter dem Begriff der sekundären HLH oder reaktiven HLH, kurz s-HLH, fasst man HLH-Formen zusammen, die als Folge einer Grunderkrankung oder einer Therapie auftreten. Die auslösenden Faktoren sind heterogen. Die häufigsten Auslöser sind Infektionen. Auch maligne Tumoren, rheumatologische Erkrankungen, eine vorangegangene Stammzelltransplantation oder Arzneistoffe können die Erkrankung verursachen.
Mehr als 40 % der s-HLH-Patienten weisen ebenfalls heterozygote Mutationen in f-HLH-Genen (s.o.) auf.[5] Die Gefahr einer s-HLH ist insbesondere dann hoch, wenn bei genetischer Prädisposition und/oder einer chronischen Inflammation ein Akutauslöser (z.B. eine Infektion) einwirkt (Threshold-Modell).
Die Pathogenese der sHLH ist schlechter verstanden als die der f-HLH. Aufgrund der recht häufig auftretenden heterozygoten Gendefekte geht man zumindest für einen Teil der Fälle von ähnlichen Mechanismen wie bei der primären HLH aus, also von einer sekundären Makrophagen-Überaktivierung. Ein anderer Mechanismus, der zur Ausbildung einer s-HLH beitragen kann, sind Mutationen, die sich direkt auf Zellen des angeborenen Immunsystems (z.B. Makrophagen und dendritische Zellen) auswirken, indem die Zytokinproduktion verändert wird.[5]
Erkrankungsgruppe | Beispiele |
---|---|
Infektionen |
|
Autoimmunerkrankungen/rheumatologische Erkrankungen
(in diesem Kontext wird teils der Begriff MAS genutzt, s. Nomenklatur) |
|
Maligne Erkrankungen | |
Immunsuppression |
|
Medikamente, die die Immunantwort steigern | |
Stoffwechselerkrankungen |
Klinik
Die Erkrankung verläuft akut und schwer bis kritisch. Die Symptomatik kann sehr heterogen sein. Es findet sich jedoch in fast allen Fällen eine Trias aus Fieber, Bi- oder Panzytopenie mit Hepatosplenomegalie.
Die hämophagozytische Lymphohistiozytose geht mit einer raschen Verschlechterung des Allgemeinzustands einher. Zudem kann sie sich durch die Infiltration von Immunzellen in verschiedene Organe (Gehirn, Lunge, Leber oder Niere) in ein Multiorganversagen entwickeln.
Mögliche Symptome sind beispielsweise:
- Organomegalie
- Lymphadenopathie
- Ödeme
- Exanthem
- Hämatologische Symptome:
- Gastrointestinale Symptome:
- ZNS-Beteiligung: (häufig bei Kindern)
Diagnostik
Laborbefunde und Pathologie
Mögliche Laborbefunde sind:
- Anämie, Thrombo- oder Leukopenie
- Erhöhung von CRP und ESR
- Erhöhung des Serumferritins
- Erhöhung der Leberwerte
- Hypertriglyzeridämie
- Konzentrationserhöhung des löslichen Interleukin-2-Rezeptors (sIL-2R)
- erniedrigte oder nicht nachweisbare NK-Zellaktivität
Eine Punktion von Knochenmark, Lymphknoten, Milz oder Leber zeigt lymphozytär-monozytäre Infiltrate sowie häufig eine Hämophagozytose.
Diagnosekriterien
Die Diagnosestellung erfolgt anhand der Diagnosekriterien der pädiatrischen HLH-Study Group der Histiocyte Society[6][7] Es müssen 5 der folgenden 8 klinischen Kriterien zutreffen:
- Fieber ≥ 38,5 °C
- Splenomegalie
- Bi- oder Panzytopenie mit
- Hämoglobin < 9g/dl
- Thrombozyten < 100.000/µl
- Neutropenie <1000/µl
- Hypertriglyzeridämie (nüchtern > 265 mg/dl) und/oder Hypofibrinogenämie (< 150 mg/dl)
- Hämophagozytose in Knochenmark, Milz, Lymphknoten oder Leber nachweisbar
- erniedrigte oder fehlende NK-Zell-Aktivität im Serum
- Ferritinämie ≥ 500 ng/ml
- sCD25 (α-Kette des sIL2-Rezeptors) ≥ 2.400 U/ml
Diese Kriterien können mit einigen Einschränkungen (z.B. bei der juvenilen oder adulten Form des Morbus Still) auch für die sekundäre HLH genutzt werden.
Bei Patienten mit Verdacht auf eine familiäre Form wird eine funktionelle immunologische Untersuchung durchgeführt, um Hinweise auf eine Dysfunktion von Immunzellen zu suchen. Die Bestätigung erfolgt durch eine molekulargenetische Untersuchung mit Nachweis der auslösenden Mutation.
Differentialdiagnosen
Differentialdiagnostisch kommen HLH-Formen im Rahmen anderer Syndrome in Betracht, z.B. das Chediak-Higashi-Syndrom und das Griscelli-Syndrom Typ 2.
Therapie
Primäre HLH
Bei Patienten mit primärer HLH ist die allogene Stammzelltransplantation die Therapie der Wahl. Dadurch wird das funktionsunfähige Immunsystem ersetzt.
Die Behandlung beginnt mit der Hemmung der überschießenden Immunreaktion mittels einer Immunchemotherapie. Sie umfasst eine Induktionstherapie von hochdosiertem Dexamethason über mehrere Wochen. Zusätzlich wird Etoposid i.v. eingesetzt. Ab der 3. bis 9. Woche folgt eine immunsuppressive Erhaltungstherapie mittels Ciclosporin A. Bei progredienter neurologischer Symptomatik kommt eine intrathekale Methotrexat-Injektion in Frage.[7] Soweit möglich, werden auch die Erreger, welche die HLH triggern, behandelt. Deshalb ist eine intensive Erregersuche und -bestimmung indiziert.
Als Salvage-Therapie steht in den USA der monoklonale IFN-γ-Antikörper Emapalumab zur Verfügung. In der EU wurde die Zulassung durch die EMA 2020 abgelehnt.
Sekundäre HLH
Die Therapie der sekundären HLH richtet sich nach der auslösenden Grunderkrankung. Bei infektbedingter HLH ist beispielsweise eine Erregereradikation indiziert, um die Immunstimulation zu reduzieren. Eine alleinige antiinfektive Therapie ist jedoch nur in Ausnahmefällen (z.B. bei Leishmaniose) ausreichend. Zusätzlich wird daher eine immunmodulatorische Therapie mit Immunglobulinen und/oder Glukokortikoiden durchgeführt. Etoposid wird bei Bedarf ergänzt. Als Erhaltungstherapie kommen Ciclosporin A oder Tacrolimus zur Anwendung.[7] Ein Abfall von Ferritin und sIL2-Rezeptor sind, neben Verbesserungen der Symptomatik, Indikatoren für ein Therapieansprechen.
Bei einer HLH, die durch EBV ausgelöst ist, stellt Rituximab eine zusätzliche Option dar.[7]
In schweren Fällen ist wie bei primärer HLH eine Immunchemotherapie mit anschließender Stammzelltransplantation indiziert.
Prognose
Unbehandelt überleben Patienten mit primärer HLH nur wenige Monate. Die meisten Patienten versterben an Multiorganversagen, Infektionen, Blutungskomplikationen oder neurologischen Manifestationen.
Die Prognose der sekundären HLH ist ebenfalls mit einer hohen Letalität verbunden. Hier haben Patienten mit einer malignen Grunderkrankung die schlechteste Prognose.
Quellen
- ↑ Soy et al., Hemophagocytic lymphohistiocytosis: a review inspired by the COVID-19 pandemic, Rheumatology International, 2021
- ↑ Henter et al., Incidence in Sweden and clinical features of familial hemophagocytic lymphohistiocytosis, Acta paediatrica scandinavica, 1991
- ↑ Karakike et al., Macrophage Activation-Like Syndrome: A Distinct Entity Leading to Early Death in Sepsis, Frontiers in Immunology, 2019
- ↑ 4,0 4,1 Ponnatt et al., Hemophagocytic Lymphohistiocytosis, Archives of Pathology & Laboratory Medicine, 2022
- ↑ 5,0 5,1 Crayne et al., The Immunology of Macrophage Activation Syndrome, Front immunol. 2019
- ↑ Henter et al., HLH-2004: Diagnostic and therapeutic guidelines for hemophagocytic lymphohistiocytosis, Pediatric Blood & Cancer, 2006
- ↑ 7,0 7,1 7,2 7,3 onkopedia – Hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH), abgerufen am 14.07.2023
Literatur
- MDS-Manuals - Hämophagozytische Lymphohistiozytose, abgerufen am 24.11.2022
- Eichenauer et al. Die hämophagozytische Lymphohistiozytose bei kritisch kranken Patienten, Med Klin Intensivmed Notfmed. 2021
- onkopedia – Hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH), abgerufen am 14.07.2023