Neurologische Untersuchung
Englisch: neurological examination
Definition
Die neurologische Untersuchung dient der diagnostischen Beurteilung des peripheren und zentralen Nervensystems. Sie erfasst Störungen der Motorik, Sensibilität, Koordination, Reflexe, Hirnnerven, Sprache und Kognition sowie des Bewusstseins. Der durch die neurologische Untersuchung erhobene Befund wird als neurologischer Status bezeichnet.
Untersuchungsablauf
Bewusstsein und Kognition
Die Einschätzung von Vigilanz und kognitiven Funktionen erlaubt eine grobe Beurteilung der Hirnrindenfunktion.
- Vigilanz (Glasgow Coma Scale, AVPU)
- Orientierung (zeitlich, örtlich, situativ, zur Person)
- Sprache (Spontansprache, Aphasie-Screening, Dysarthrie)
- Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Exekutivfunktionen
Hirnnerven
Die Untersuchung der zwölf Hirnnerven liefert Hinweise auf Läsionen von Hirnstamm bis Kortex.
| Nr. | Bezeichnung | Funktionsprüfung | Störung |
|---|---|---|---|
| I | Nervus olfactorius | mit Geruchsstoffen, z.B. Kaffee | Hyposmie, Anosmie |
| II | Nervus opticus | Überprüfung der Pupillenreaktion, Fingerperimetrie | Pupillenstarre, Gesichtsfeldausfall |
| III, IV, VI | Nervus oculomotorius, Nervus trochlearis und Nervus abducens | Prüfung der Augenmuskeln: Verfolgung des Fingers des Untersuchers in alle Richtungen des Gesichtsfeldes | Blickdeviation, Ophthalmoplegie |
| V | Nervus trigeminus | Untersuchung der Gesichtssensibilität, Prüfung des Kornealreflexes mittels Wattebausch, Prüfung des Masseterreflexes durch Beklopfen des Kinns, Nasopalpebralreflex, Trigeminusdruckpunkte | Sensibilitätsausfälle |
| VII | Nervus facialis | Prüfung der mimischen Muskulatur durch entsprechende Aufforderung | Paresen einzelner oder mehrere Gesichtsmuskeln |
| VIII | Nervus vestibulocochlearis | Überprüfung des Gehörs mit Stimmgabeltest. Testung des Gleichgewichts mit Einbeinstand | Hypakusis, Schwindel, Nystagmus |
| IX, X | Nervus glossopharyngeus und Nervus vagus | Inspektion der Gaumensegel, Auslösbarkeit des Würgereflexes mittels Holzspatel | Kulissenphänomen, Heiserkeit |
| XI | Nervus accessorius | Funktionsprüfung des Musculus sternocleidomastoideus und des Musculus trapezius | Accessoriusparese |
| XII | Nervus hypoglossus | Funktionsprüfung der Zungenmotorik: Herausstrecken der Zunge | Atrophie, Faszikulationen und Paresen |
Motorik
Motorische Tests erfassen Muskelkraft, Tonus sowie pathologische Bewegungsphänomene. Die Untersuchung erfolgt stets im Seitenvergleich, um Kraftunterschiede, Tonusabweichungen oder asymmetrische Bewegungsmuster aufzudecken.
- Inspektion: Atrophien, Faszikulationen, Spontanbewegungen
- Kraftprüfung nach MRC-Skala (0–5)
- Armhalteversuch (AHV) und Beinhalteversuch (BHV)
- Tonusprüfung (Spastik, Rigor, Hypotonie)
- Pathologische Zeichen: Babinski, Hoffmann, Trömner, Klonus
Sensibilität
Die Überprüfung der Sensibilität dient dem Nachweis von Störungen afferenter Bahnen oder peripherer Nerven. Sie erfolgt stets im Seitenvergleich, um Seitenunterschiede zu erkennen und Phänomene wie sensorische Auslöschung bei simultaner Reizung aufzudecken.
- Oberflächensensibilität: Schmerz, Temperatur, Berührung
- Tiefensensibilität: Vibration (128 Hz Stimmgabel), Lageempfinden
- Diskriminative Sensibilität: Zwei-Punkt-Diskrimination, Graphästhesie
Koordination
Koordinationsprüfungen testen die Funktion von Kleinhirn und Propriozeption.
- Finger-Nase-Versuch, Finger-Finger-Versuch, Knie-Fersen-Versuch
- Diadochokinese (schnell alternierende Bewegungen)
- Rebound-Phänomen
- Gangbild: normal, Zehen-, Hacken- und Tandemgang
Reflexe
Die Reflexprüfung erlaubt Rückschlüsse auf die Integrität segmentaler und suprasegmentaler Verschaltungen. Die Untersuchung erfolgt stets im Seitenvergleich, z.B. um Reflexdifferenzen oder Kraftunterschiede aufzudecken.
- Muskeleigenreflexe: BSR, PSR, ASR, Tibialis-posterior-Reflex
- Fremdreflexe: Bauchhautreflexe, Kornealreflex
- Pathologische Reflexe (Pyramidenbahnzeichen): Babinski, Chaddock, Oppenheim
Weitere Tests
- Meningismuszeichen: Kernig, Brudzinski, Lasègue
- Vegetative Zeichen: Pupillenreaktion, orthostatische Kreislaufreaktion
- Auskultation der Karotiden (Strömungsgeräusche)
Dokumentation
Die Ergebnisse sollten klar und reproduzierbar dokumentiert werden, um Verlaufskontrollen zu ermöglichen. Häufig wird die MRC-Skala für Kraftgrade und ein standardisiertes Reflexschema (+, ++, +++) verwendet.
Klinische Bedeutung
Die neurologische Untersuchung ist eine Grundlage für die weitere apparative Diagnostik und Differenzialdiagnostik. Sie ermöglicht die grobe Lokalisation von Läsionen (kortikal, subkortikal, Hirnstamm, Rückenmark, peripheres Nervensystem) und dient der Verlaufsbeurteilung, z.B. bei Schlaganfall, Multipler Sklerose oder Polyneuropathie.
Ergänzende Verfahren
In Abhängigkeit vom Befund der Basisuntersuchung können weitere apparative und nicht apparative Verfahren indiziert sein:
Grundlegende Schritte und Vorgehensweise
Quelle
- Urban PP. Klinisch-neurologische Untersuchungstechniken. 3rd ed. Stuttgart: Thieme; 2022.