Neurologischer Untersuchungsgang (Veterinärmedizin)
Definition
Der neurologische Untersuchungsgang ist ein standardisierter Untersuchungsgang, der als weiterführende Untersuchung bei neurologischen Fragestellungen durchgeführt wird.
Hintergrund
Der neurologische Untersuchungsgang wird im Anschluss an einen allgemeinen sowie orthopädischen Untersuchungsgang durchgeführt, wenn sich nach entsprechender Anamnese oder im Verlauf der vorausgegangenen Untersuchungsgänge Anhaltspunkte für Störungen des Nervensystem ergeben haben.
Neurologie
Die Ursache einer neurologischen Störung kann in verschiedenen Abschnitten des Nervensystems liegen:
- Zentralnervensystem (ZNS): Gehirn und Rückenmark
- Peripheres Nervensystem (PNS)
- Vegetatives Nervensystem
Dementsprechend können zentrale von peripheren oder vegetativen nervalen Störungen unterschieden werden. Systemische Erkrankungen der Muskulatur sind differenzialdiagnostisch immer in Betracht zu ziehen.
Mithilfe des neurologischen Untersuchungsganges soll die Lokalisation einer bzw. mehrerer Läsionen im Nervensystem festgestellt werden. Da jede Region des Nervensystems bis zu einem gewissen Grad spezifische Krankheitsprobleme auslösen kann, können anhand der erhobenen Parameter relativ genaue Diagnosen gestellt werden. Betrifft die Störung nur eine Region des Nervensystems, so spricht man von fokalen Läsionen. Ist es jedoch nicht möglich, die gefundenen Symptome einer einzigen Region zuzuordnen, sind multifokale, disseminierte bzw. diffuse Störungen vorhanden.
Untersuchungspunkte
Der Untersuchungsgang umfasst insgesamt 13 Punkte, die wiederum in mehrere einzelne Untersuchungsschritte gegliedert werden. An die eigentlichen neurologischen Untersuchungspunkte können noch weitere spezielle Untersuchungsabschnitte angeschlossen werden, die nur in gesonderten Fragestellungen durchgeführt werden.
Die Untersuchungsschritte werden in folgender Reihenfolge durchgeführt:
- Vorbericht
- Nationale
- allgemeiner Untersuchungsgang
- orthopädischer Untersuchungsgang
- spontanes und reaktives Verhalten
- Adspektion und Palpation von Kopf und Wirbelsäule
- Körperhaltung, Muskeltonus und Bewegungsablauf
- Kopfnervenfunktion
- Haltungs- und Stellreaktionen (Propriozeption)
- spinale Reflexe (beidseits)
- Schmerzempfindung (Oberflächen- bzw. Tiefensensibilität)
- Prüfung bei der Arbeit
- Futter- und Wasseraufnahme sowie Kot- und Harnabsatz
Vorbericht
Die durch den Tierbesitzer geschilderten Symptome müssen durch gezielte Fragen ergänzt werden. Da gewisse Krankheitsbilder (z.B. epileptische Anfälle) sowie Verhaltensänderungen meist nur von den Tierbesitzern beobachtet bzw. beurteilt werden können, müssen diese im Zuge des Anamnesegespräches unbedingt erfragt werden. Der Verlauf der Erkrankung ist für die Diagnosestellung ebenso von großer Wichtigkeit. Neurologische Erkrankungen können akut, subakut, chronisch, progressiv, rezidivierend, stationär oder anfallsweise in Erscheinung treten.
Gleichzeitig sind frühere Erkrankungen, Impfungen, verwandte Tiere mit ähnlichen Symptomen und die Herkunft der Tiere (z.B. Ausland) zu erheben und zu dokumentieren.
Nationale
Das Nationale ist für die neurologische Untersuchung von großer Bedeutung, da Erkrankungen des Nervensystems häufig bzw. vermehrt bei bestimmten Rassen vorkommen. Ebenso treten einzelne Krankheitsbilder gehäuft in einer bestimmten Altersgruppe auf.
Allgemeiner Untersuchungsgang
Ein genau durchgeführter allgemeiner Untersuchungsgang gibt Aufschluss auf die derzeitige Situation des Patienten. Durch das Erheben der einzelnen Parameter können systemische Erkrankungen anderer Genese ausgeschlossen oder mit einbezogen werden.
Orthopädischer Untersuchungsgang
Mithilfe des orthopädischen Untersuchungsganges können Erkrankungen des Bewegungsapparates, die zu ähnlichen Symptomen führen können, ausgeschlossen werden. Gleichzeitig können bestimmte orthopädische Krankheitsbilder zu typischen neurologischen Symptomen führen (z.B. Fraktur des Humerus mit Verletzung des Nervus radialis).
Spontanes und reaktives Verhalten
Das Verhalten des Tieres ist anatomisch v.a. mit dem limbischen System und der Großhirnrinde verbunden und ein äußerst komplexes physiologisches Geschehen. Dementsprechend kommt es bei Läsionen bzw. Reizungen einzelner Teile dieses Systems zu entsprechenden Ausfalls- oder Überreaktionserscheinungen. Durch das Erheben des spontanen sowie reaktiven Verhaltens können erste Verdachtsdiagnosen aufgestellt werden.
Beurteilt werden entweder ein vermindertes oder ein gesteigertes reaktives Verhalten, wobei die Beobachtung in gewohnter sowie ungewohnter Umgebung stattfinden sollte.
- Pathologische Befunde: Vorwärtsdrängen, Kopfpressen, Kreisgehen, zwanghaftes Ablecken von Gegenständen, übertriebene Schreckhaftigkeit, Desorientierung, Ängstlichkeit, Aggressivität, vermindertes Verhalten (Apathie, Stupor, Koma), gesteigertes Verhalten (Nervosität, Krämpfe, Exzitation) u.ä.
- Physiologischer Befund: ruhig und aufmerksam (adult) bzw. lebhaft und aufmerksam (Jungtier)
Untersuchung von Kopf und Wirbelsäule
Bei der adspektorischen und palpatorischen Untersuchung des Kopfes wird auf offensichtliche Schwellungen oder Asymmetrien geachtet. Die Haut wird auf Verletzungen und subkutanen Emphysemen abgesucht und der Gesichts- und Gehirnschädel genau abgetastet.
Anschließend wird auf Veränderungen der Halswirbelsäule geachtet. Bei der weiteren Untersuchung der restlichen Wirbelsäulenabschnitte wird - neben dem Tier stehend - mit der Hand unter mäßig bis kräftigem Druck (je nach Größe des Tieres) seitlich der Dornfortsätze vom Widerrist bis zum Schwanzansatz abgetastet. Dabei achtet man besonders auf Abwehrverhalten oder auf eine allzu starkes Durchbiegen sowie auf Ödeme bzw. morphologische Änderungen. Lendenteil sowie Kreuzgegend können auch rektal abgetastet werden. Letztendlich wird der Hals passiv nach oben, unten, links und rechts bewegt.
- Pathologische Befunde: Kyphose, Lordose, Skoliose, Resistenzen (z.B. Tumoren, Hämatome), Konturänderungen, höhere Temperatur, Konsistenzänderung der Schädeldecke, Stufenbildung, erhöhte Druck- bzw. Schmerzempfindung, abnorme bzw. verminderte Beweglichkeit, Krepitation der Wirbelsäule
- Physiologischer Befund: ohne Besonderheit (o.B.)
Körperhaltung, Muskeltonus und Bewegungsablauf
Eine veränderte Körperhaltung, ein abnormer Muskeltonus oder ein veränderter Gang können aufgrund sensorischer oder motorischer Störungen auftreten.
Die Regulierung der Körperhaltung ist eine komplexe Funktion des Nervensystems, die aus Rezeptoren, leitenden Bahnen und verarbeitenden Zentren besteht. Sie ist als physiologisch zu bewerten, wenn sich das Tier mit allen vier Gliedmaßen entgegen der Schwerkraft mit einem normalem Muskeltonus aufrecht halten kann.
Um den komplexen Bewegungsablauf eines Ganges ausführen zu können, müssen mehrere Systeme des ZNS korrekt zusammenarbeiten. Dementsprechend werden die Körperhaltung, der Muskeltonus und der Bewegungsablauf sowohl in Ruhe als auch in aktivem Zustand beurteilt. Hierbei betrachtet man folgende Punkte in gegebener Reihenfolge: Körperhaltung in Ruhe, Bewegungsablauf (Schritt, Trab, bergauf, bergab), Untersuchung auf Krämpfe (tonisch, klonisch) sowie auf Lähmungen (Parese, Paralyse) sowie Bewegungsstörungen (Zeigerbewegungen, Ataxien, Kreisgehen, Schwanken, Stolpern, Hypermetrie).
- Pathologische Befunde: Krämpfe, Lähmungen, Paresen, Paralyse, Torticollis, Kopfschiefhaltung, Schwanken, Stolpern u.ä.
- Physiologischer Befund: Haltung und Gang ohne Besonderheit (o.B.)
Funktion der Kopfnerven
Die Kopfnerven (Nervus III bis XIII) entstammen dem Hirnstamm, sodass die Evaluierung ihrer Funktion hilft, Funktionsstörungen im Hirnstamm bzw. intrakranial zu lokalisieren. Folgende Hirnnerven bzw. folgende Parameter sollten untersucht werden:
- Nervus olfactorius: Geruchssinn (z.B. an Futter riechen lassen)
- Nervus opticus: Sehsinn (gegen Hinderniss führen, Drohantwort, optische Tischkantenprobe, Wattebauschtest)
- Nervus oculomotorius: Beurteilung der Pupille bzgl. Größe, Symmetrie; direkter und konsensueller Pupillenreflex
- Nervus oculomotorius, trochlearis und abducens: Augenbewegungen (Ausfälle, Strabismus)
- Nervus trigeminus: Kaubewegungen sowie Sensibilität und Schmerzempfindung im Kopfbereich
- Nervus facialis: Gesichtsausdruck (Ohren, Augenlider, Nüstern, Lippen) sowie Droh-, Korneal-, Lidschlag- und Zervikoaurikularrelfex, Geschmackssinn, Tränen- und Speichelfluss
- Nervus vestibulocochlearis: Gleichgewicht (Kopfschiefhaltung, Nystagmus, vestibulärer Strabismus)
- Nervus glossopharyngeus: Schlucken, Schluckreflex, Geschmackssinn
- Nervus vagus: Schlucken, Schluckreflex, Sensibilität und Schmerzempfindung im äußeren Gehörgang, Stimme, viszerale Funktionen
- Nervus accessorius: Stimme, Hals- und Schultermuskulatur
- Nervus hypoglossus: Zungenbewegung (Schwierigkeiten bei Futter- und Wasseraufnahme)
- Physiologischer Befund: ohne Besonderheit (o.B.) bzw. Reflex prompt
Haltungs- und Stellreaktionen
Die Haltungs- und Stellreaktionen sind komplexe Antworten, welche die zentrale Koordination für den normalen Bewegungsablauf und die Körperhaltung beinhalten. Sowohl die Motorik als auch die Sensorik sind hierbei beteiligt. Aufgrund des komplexen Ablaufs ist es nicht möglich, abnorme Haltungs- und Stellreaktionen einer spezifischen Läsion im Nervensystem zuzuordnen. Abweichungen sind jedoch sensible Indikatoren für eine Störung im Nervensystem und ermöglichen - kombiniert mit den vorangegangenen Untersuchungen - eine Diagnosestellung.
Undeutliche Bewegungsstörungen können durch verschiedene Untersuchungen demaskiert werden. Mögliche Abweichungen sind:
- vermehrte Belastung der Extremität
- Seitenunterschiede
- Störungen der Bewegung der Vorder- oder Hinterextremität
Die einzelnen Untersuchungspunkte sind von der Tierart abhängig und müssen daher dementsprechend abgewandelt werden. Folgende Reaktionen sind zu beurteilen:
- Korrekturreaktion (bewusst): erfolgt beim Pferd durch das aktive Kreuzen der Vorder- und Hintergliedmaßen und bei anderen Tierarten durch ein gezieltes Überköten der einzelnen Extremität
- Hüpfreaktion (unbewusst): durch Anheben einer Gliedmaße und gleichzeitiger Druckausübung auf Schulter und Becken wird das Tier in seitwärts gerichteten Hüpfbewegungen versetzt; beim Kleintier können beide Gliedmaßen einer Seite angehoben werden, sodass das Tier bei Gegendruck seitwärts hüpfen sollte
- Reaktion bem Gang: beim Pferd kann durch Zug am Schweif (Schiefstellen) oder durch Druck am Hüfthöcker die Funktion der Hinterhand bzw. durch Seitwärtsdrücken des Widerristes die Vorderhand geprüft werden; beim Kleintier kann mittels Schubkarrenreaktion die entsprechende Prüfung durchgeführt werden
- Rückwärtsrichten beim Pferd
- Physiologischer Befund: das Tier korrigiert unphysiologische Stellungen prompt, alle Haltungs- und Stellreaktionen sind ohne Besonderheit (o.B.)
Spinale Reflexe
Damit ein spinaler Reflex physiologisch ausgeführt werden kann, müssen alle Bestandteile des Reflexbogens intakt sein. Dieser besteht aus unterschiedlichen anatomischen Elementen (Rezeptor, zentripetale Nervenbahn, Synapse im ZNS, zentrifugale Nervenbahn, Erfolgsorgan) und setzt sich aus einem afferenten Teil, einem Reflexzentrum und einem efferenten Teil zusammen.
Bei der Überprüfung spinaler Reflexe werden Oberflächen- und myotaktische Reflexe beurteilt. Da ein Reflex eine unwillkürliche Reaktion auf einen adäquaten Reiz ist, kann dieser mittels verschiedener Prüfmethoden untersucht werden. Dadurch kann die Funktion gewisser Segmente der grauen Substanz des Rückenmarks und der dazugehörigen Nervenwurzeln sowie die motorischen und sensiblen Nerven überprüft werden. Folgende Reflexe werden beurteilt:
- Hautreflex: segmentweises und symetrisches Abstreichen der Haut am Rücken von kranial nach kaudal
- Pannikulusreflex: auf einen lokalen Reiz (Zwicken) beidseits der Wirbelsäule erfolgt als Antwort eine Kontraktion der Hautmuskeln des Rumpfes
- Rückenreflex: durch Streichen rechts und links der Wirbelsäule kann eventuell eine Schmerzreaktion ausgelöst werden
- Slap-Test: durch leichtes Beklopfen der Sattellage wird reflektorisch ein Zucken des kontralateralen Musculus cricoarytenoideus lateralis erzeugt
- Bauchdeckenreflex: durch Streichen über den Unterbauch wird der Rücken reflektorisch gekrümmt
- Zervikofazialisreflex: durch leichtes Bekopfen lateral im Bereich des Halses zwischen Atlas und Schulterregion wird ein reflektorisches Zucken der Lippenmuskulatur im ipsilateralen Mundwinkel ausgelöst
- Reflexe der Vorderhand: Extensor-carpi-radialis-Reflex, Trizepsreflex, Flexorreflex, Zwischenzehenreflex
- Reflexe der Nachhand: Patellarreflex, Tibialis-cranialis-Reflex, Achillessehnenreflex, Flexorreflex, Analreflex, Perinealreflex, Vulvareflex, Schweif-After-Reflex
- Pathologische Befunde: abnorme Reflexe, abgeschwächte/verstärkte Reflexe, Massenreflexe
- Physiologischer Befund: Reflexe beidseits symmetrisch und prompt vorhanden
Schmerzempfindung
Die Schmerzwahrnehmung hat eine protektive Funktion, die den Körper vor potenzieller Schädigung durch äußere Noxen bewahrt oder ihn zur Schonung bereits lädierter Teile zu veranlasst.
Durch spezielle Untersuchungsmethoden wird die Oberflächen- und Tiefensensibilität systematisch und segmentweise überprüft. Die Hautoberfläche wird schrittweise mit einer stumpfen Nadel abgetastet oder mit einer Arterienklemme gezwickt. Die Gliedmaßen hingegen sind von distal nach proximal zu überprüfen. Lokale Haut- und Muskelkontraktionen werden als physiologisch eingestuft, wobei deutliche Abwehr- oder Ausweichbewegungen sowie Anlegen der Ohren und Vokalisation als Schmerzempfindung zu deuten sind.
- Pathologische Befunde: Hyperästhesie, Hyperalgesie, Parästhesie u.ä.
- Physiologischer Befund: ohne Besonderheit (o.B.)
Prüfung bei der Arbeit
Bei Großtieren, allen voran beim Pferd und beim Hund, sollte auch das Verhalten des Tieres während der Arbeit beurteilt werden. Beim Pferd kann durch das Einspannen oder Aufsatteln die Reaktion beobachtet werden. Beim Hund wird die Gehorsamkeit auf Zurufe und Lenkbarkeit überprüft.
- Pathologische Befunde: jegliche Abweichungen vom normalen, gewohnten Verhalten
- Physiologischer Befund: ohne Besonderheit (o.B.)
Futter- und Wasseraufnahme, Kot- und Harnabsatz
Neurologische Erkrankungen können zu Störungen der Futter- und Wasseraufnahme sowie des Harn- und Kotabsatzes führen. Daher sind diese Punkte ebenso zu überprüfen.
- Pathologischer Befund: fehlende Futter- oder Wasseraufnahme, fehlender Harn- oder Kotabsatz
- Physiologischer Befund: ohne Besonderheit (o.B.)
Literatur
- Baumgartner, Walter. Klinische Propädeutik der Haus- und Heimtiere. 8., aktualisierte Auflage. Enke-Verlag, 2014.
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