Narkolepsie
Synonyme: Schlummersucht, Sidd'sches Syndrom
Englisch: narcolepsy, hypnolepsy
Definition
Unter der Narkolepsie versteht man eine Hypersomnie zentraler Ursache, die zu den Schlaf-Wach-Störungen gezählt wird.
- ICD10-Code: G47.4 Narkolepsie und Kataplexie
Epidemiologie
Die Prävalenz der Narkolepsie wird auf 25-50/100.000 Einwohner geschätzt, die Inzidenz auf 0,5-1/100.000/Jahr. Die genauen Zahlen sind jedoch unbekannt, da die Erkrankung vermutlich unterdiagnostiziert ist. Die Latenz vom Erstsymptom bis zur Diagnosestellung beträgt durchschnittlich 5-15 Jahre.
Die ersten Symptome treten, je nach Ursache, bis zur fünften Lebensdekade auf. Etwa 20 % der Erstmanifestationen zeigen sich schon in den ersten 10 Lebensjahren. Männer sind häufiger betroffen.[1]
Einteilung
Man unterscheidet zwischen folgenden Formen:
- primäre Narkolepsie: unklare Ursache (idiopathisch)
- Typ 1: Narkolepsie mit Kataplexie (80-90 %)
- Typ 2: Narkolepsie ohne Kataplexie
- sekundäre Narkolepsie: bei strukturellen Läsionen von Hypothalamus oder Hirnstamm, z.B. bei Trauma, Ischämie, Tumor, Enzephalitis, multipler Sklerose, Neurosarkoidose oder Morbus Parkinson.
Ätiopathogenese
Die genaue Ursache der Narkolepsie ist derzeit (2020) unklar.
Genetische Prädisposition
Die Narkolepsie hat die stärkste bekannte HLA-Assoziation. Bei > 90 % der Patienten mit Narkolepsie Typ 1 und 50 % mit Typ 2 findet sich HLA-DQB1*0602, das in der Allgemeinbevölkerung mit einer Häufigkeit von 12-30 % auftritt. Weiterhin kann z.T. eine Assoziation zu HLA-DRB1*1501 festgestellt werden.
Eine familiäre Narkolepsie ist sehr selten.
Exogene Auslöser
Verschiedene Umwelteinflüsse können mögliche Auslöser der Narkolepsie darstellen, z.B.:
- Streptokokkeninfektionen: Assoziation zu Antistreptolysin-O-Antikörpern
- Influenzainfektion: Anstieg der Diagnose einer Narkolepsie nach Epidemien
- Impfstoff gegen Influenza-A-(H1N1) (Pandemrix®)
Die Bedeutung der exogenen Faktoren sowie ihr Pathomechanismus sind weitgehend unklar.
Pathophysiologie
Die genaue Pathophysiologie der Narkolepsie ist noch unerforscht. Bei der Narkolepsie Typ 1 scheint es sich um eine Autoimmunreaktion (molekulare Mimikry) zu handeln. Dabei führen T-Zellen zum Untergang von Neuronen im Hypothalamus, die Hypocretine (Orexine) produzieren.
Hypocretine sind Polypeptide, die verschiedene Bahnen der Formatio reticularis beeinflussen, die für den allgemeinen Grad der ZNS-Aktivierung (Arousal) verantwortlich sind. Sie regulieren das Schlaf-Wach-Verhalten, indem sie lange Wachepisoden fördern und den REM-Schlaf unterdrücken. Weiterhin finden sich Störungen in cholinergen, noradrenergen und histaminergen Transmittersystemen.
Bei der Narkolepsie Typ 2 findet sich keine erniedrigte sondern eine normale Hypocretinkonzentration im Liquor.
Klinik
Bei ca. 2/3 der Patienten mit Narkolepsie treten die Symptome akut auf, während sie sich bei den restlichen Betroffenen schleichend entwickeln.
Tagesschläfrigkeit
Hauptsymptom der Narkolepsie ist eine exzessive Tagesschläfrigkeit mit imperativem Schlafdrang. Entsprechend kommt es bei den Patienten zu ungewollten, nicht unterdrückbaren Schlafattacken. Sie treten insbesondere in monotonen Situationen, aber auch während sozialen Interaktionen (z.B. beim Essen oder im Gespräch) auf. Nach der Schlafepisode zeigt sich meist eine deutliche Erholung, bis es erneut zur Schläfrigkeit kommt. Bei Kleinkindern kann sich die Narkolepsie auch in Form von verlängertem nächtlichem Schlafbedarf als reaktive Hyperaktivität manifestieren.
Kataplexie
Hinzu kommen bei den meisten Patienten kataplektische Anfälle, häufig getriggert durch die Ausschüttung von Katecholaminen bei emotionellen Stresssituationen (Aufregung, Freude, Ärger, Überraschung). Der plötzliche Verlust des Muskeltonus bei vollem Bewusstsein hält für Sekunden bis 2 Minuten an und kann zu Sturzeignissen führen. Auch einseitige und inkomplette Kataplexien sind möglich und zeigen sich z.B. durch verwaschene Sprache, Schließen der Augenlider, nach-vorn-Kippen des Kopfes oder durch komplettes Verharren. Während der Kataplexie besteht eine Areflexie. Inkomplette Kataplexien werden im Diagnoseprozess nicht selten übersehen.
Halluzinationen
Narkoleptiker erleiden in ca. 50 % d.F. visuelle, akustische oder taktile Halluzinationen beim Einschlafen (hypnagog) oder beim Aufwachen (hypnopomp). Diese kurzfristigen "Traumepisoden" treten aber auch bei bis zu 20% der Schlafgesunden auf und sind dann ohne Krankheitswert.
Schlaflähmungen
Ebenfalls ca. 50 % der Narkoleptiker weisen Schlafparalysen bzw. Wachanfälle auf. Dabei zeigt sich eine komplette Muskelatonie bei vollem Bewusstsein beim Einschlafen bzw. direkt nach dem Aufwachen. Die Patienten können sich dabei weder bewegen noch sprechen. Schlaflähmungen treten auch bei bis zu 20% der Schlafgesunden auf und sind dann ohne Krankheitswert.
Weitere Symptome
Zu den weiteren möglichen Symptomen zählen:
- automatisches Verhalten: stereotypes Fortsetzen begonnener Handlungen ohne bewusste Wahrnehmung und ohne Erinnerung daran
- Fragmentierung des Nachtschlafs: zahlreiche lange Wachphasen und frühes morgendliches Erwachen, ggf. assoziiert mit periodischen Beinbewegungen (PLM), Parasomnien, REM-Schlaf-Verhaltensstörungen oder obstruktivem Schlafapnoesyndrom (OSAS). Die Folge ist eine Verstärkung der Tagesschläfrigkeit
- Gewichtszunahme
- Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen
- Depression
- Potenzstörungen
- Kopfschmerzen
Diagnostik
Grundlegend für die Diagnose einer Narkolepsie sind eine ausführliche Anamnese sowie eine körperliche Untersuchung. Die Kataplexie ist diagnostisch sehr hilfreich, da sie bei fast keiner anderen Krankheit auftritt. Zur schlafmedizinischen Anamnese können strukturierte Fragebögen verwendet werden, z.B. der Epworth Sleepiness Scale (ESS) bzw. für Kinder ESS-K.[2]
Aktigraphie
Bei der Aktigraphie werden nicht-invasiv über ein am Handgelenk getragenes Gerät Bewegungen, Helligkeit und Umgebungstemperatur gemessen, sodass Aktivitäts- und Ruhezyklen bzw. indirekt Schlafdauer und Schlaf-Wach-Rhythmus beurteilt werden können. Alternativ kommen Schlaf-Wach-Protokolle in Frage, in denen die Schlaf-Wach-Phasen festgehalten werden. Durch diese Methoden soll die Schlafhygiene geprüft und ein Schlafmangel ausgeschlossen werden.
Polysomnographie
Zur Basisdiagnostik gehört außerdem eine Polysomnographie (PSG). Bei der nächtlichen PSG in zwei aufeinanderfolgenden Nächten im Schlaflabor werden Hirnströme mittels Elektroenzephalographie (EEG), Augenbewegungen mittels Elektrookulographie (EOG) und Muskelaktivität mittels Elektromyographie (EMG) gemessen. Zusätzlich werden Atemfluss, Atempausen, Sauerstoffsättigung im Blut, Herzfrequenz, Schnarchgeräusche und Atembewegungen von Thorax und Abdomen registriert. Die Untersuchung dient der Beurteilung der Schlafdauer, Schlafstruktur, dem Ausschluss von anderen Schlafstörungen sowie dem Nachweis von Narkolepsie-typischen Befunden.
Am Tag nach der nächtlichen PSG wird meist der multiple Schlaflatenztest (MSLT) duchgeführt. Er dient der Objektivierung der Einschlafneigung. Der MSLT besteht aus 5 PSG-Episoden über je 30 Minuten im Abstand von jeweils 2 Stunden, wobei der Patient aufgefordert wird, sich hinzulegen und einzuschlafen. Psychoaktive Medikamente sollten eine Woche, Antidepressiva 3 Wochen vor Durchführung abgesetzt werden.
Alternativ kann auch ein multipler Wachhaltetest (MWT) durchgeführt werden, bei dem der Patient nicht einschlafen darf. Die Polysomnographie sollte bei unklarer Diagnose ggf. nach einigen Monaten wiederholt werden.
Typische Befunde bei Narkolepsie sind:
- verkürzte mittlere Einschlaflatenz: Einschlafen < 8 Minuten nach dem Hinlegen
- SOREMP (Sleep-Onset-REM-Periode): REM-Latenz < 15 Minuten nach dem Einschlafen in mindestens 2 der 5 Testphasen. Wurde in der nächtlichen PSG bereits eine SOREM nachgewiesen, reicht eine weitere Periode während der Testphasen. Beim Gesunden tritt REM-Schlaf i.d.R. erst nach 60 Minuten auf.
Erweiterte Diagnostik
Eine HLA-Typisierung zum Nachweis von HLA-DQB1*0602 und -DRB 1*1501 ist möglich. Dabei muss berücksichtigt werden, dass ein Nachweis keinenfalls eine Narkolepsie beweist und umgkehrt das Fehlen kein Ausschlusskriterien darstellt.
Weiterhin sollten zum Ausschluss von strukturellen Ursachen eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels sowie zur Abgrenzung einer Epilepsie ein EEG angefertigt weden. In unklaren Fällen kann eine Liquoruntersuchung mit Messung der Hypocretinkonzentration erwogen werden.
Diagnosekriterien
Zur Diagnose einer Narkolepsie können folgende Kriterien angewendet werden:
- Tagesschläfrigkeit mit imperativer Einschlafneigung: täglich für mindestens 3 Monate
- bei Typ 1:
- Kataplexie
- und mittlere Einschlaflatenz < 8 Minuten im MSLT mit mindestens 2 SOREMP
- und/oder Hypocretin-1 im Liquor < 110 pg/ml
- bei Typ 2:
- keine Kataplexie
- und mittlere Einschlaflatenz < 8 Minuten im MSLT mit mindestens 2 SOREMP
- und Hypocretin-1 im Liquor > 110 pg/ml
- fakultativ:
- Schlaflähmungen
- hypnagoge und/oder hypnopompe Halluzinationen
- automatisches Handeln
- Nachtschlaf-Fragmentierung
Differenzialdiagnosen
Es sind zahlreiche Erkrankungen differenzialdiagnostisch zu bedenken:
Symptom | Differenzialdiagnosen |
---|---|
Tagesschläfrigkeit |
|
Kataplexie |
|
Halluzinationen |
|
Schlaflähmungen |
|
Handlungsautomatismen | |
‡: Symptome wie Narkolepsie Typ 2 aber keine verkürzte REM-Latenzzeit. Leitsymptome sind lange Schlafzeiten, schwere Erweckbarkeit, Tiefschlafüberhang und Tagesschläfrigkeit |
Die reaktive Hyperaktivität bei Kindern kann zur Fehldiagnose ADHS führen.
Therapie
Grundsätzlich sollte bei einer Narkolepsie auf eine gesunde Lebensweise mit adäquater Schlafhygiene geachtet werden. Geplante Tagesschlafphasen können manchen Patienten helfen, den imperativen Schlafdrang zu reduzieren. Da sich die meisten Patienten nach dem Schlafen wacher fühlen, wird empfohlen, jede Nacht ausreichend zu schlafen und am Nachmittag für 20 Minuten zu schlafen. Diese kurze Schlafepisode reicht bei einigen Patienten mit leichter Narkolepsie aus. Begleitend kann eine psychosozialen Beratung oder eine supportive (nicht kurative) Psychotherapie hilfreich bei der Krankheitsbewältigung sein. Patienten mit der Gefahr von Selbstverletzungen durch häufige Kataplexien können mit Orthesen und ähnlichen Stütz- und Schutzhilfsmitteln versorgt werden.
Medikamentöse Therapie
Die Tagesschläfrigkeit wird mit Stimulanzien behandelt. Dabei stellt Modafinil die Therapie der Wahl dar. Der Wirkstoff wird i.d.R. in einer Dosis von 200-400 mg/d p.o. eingesetzt. Bei der Anwendung bei Frauen im gebärfähigen Alter sollte eine sichere Verhütung gewährleistet sein, wobei Modafinil die Wirksamkeit oraler hormoneller Kontrazeptiva beeinträchtigen kann. Es ist kontraindiziert bei Hypertonie, Herzrhythmusstörungen, Niereninsuffizienz sowie in Schwangerschaft und Stillzeit.
Alternative Stimulanzien sind Methylphenidat sowie off-label Dexamphetamin (Methamphetamin), Ephedrin und Selegilin.
Weiterhin kommt Natrium-Oxybat (Gamma-Hydroxybuttersäure) zum Einsatz. Es ist zur Behandlung aller Kernsymptome der Narkolepsie zugelassen und stellt bei Patienten, bei denen eine schwere Kataplexie zusätzlich zur Tagesschläfrigkeit vorliegt oder bei denen Kataplexie, fragmentierter Nachtschlaf und exzessive Tagesschläfrigkeit äquivalent vorhanden sind, das Medikament der ersten Wahl dar. Eine Kombination von Natrium-Oxybat und Modafinil ist möglich.
Die Kataplexie bessert sich weiterhin oft deutlich durch Antidepressiva, die den noradrenergen oder serotoninergen Tonus erhöhen. Clomipramin ist als einzigens Antidepressivum für die Behandlung der Narkolepsie zugelassen. Weitere Wirkstoffe wie Venlafaxin, Fluoxetin, Reboxetin oder MAO-Hemmer sind jedoch off-label einsetzbar. Weiterhin ist der H3-Rezeptorantagonist Pitolisant zugelassen.
Für Kinder sind derzeit nur Methylphenidat und Clomipramin zugelassen.
Prognose
Eine Narkolepsie ist eine chronische Erkrankung mit variablem Verlauf und geht mit einer normalen Lebenserwartung einher. Narkoleptische und kataplektische Anfälle bergen jedoch ein bedeutsames Risiko im Alltag des Patienten. Das Führen von Kraftfahrzeugen, ungesicherte Arbeiten z.B. auf Leitern, Wanderungen in alpinem Gelände etc. können besonders im Rahmen kataplektischer Anfälle zu Verletzungen führen. Die Arbeitsfähigkeit ist bei mäßigen bis schweren Verläufen meist nachhaltig eingeschränkt. Des Weiteren führt die unbehandelte Narkolepsie zur deutlichen Einschränkung der Lebensqualität.
Literatur
- Young P, Heidbreder A. https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs11818-018-0151-y, Somnologie 22, 209–220 (2018), abgerufen am 05.08.2020
- Deutsche Narkolepsie Gesellschaft e.V., abgerufen am 05.08.2020
- DGN S1-Leitlinie Narkolepsie, Stand 2012, abgerufen am 05.08.2020
Quellen
- ↑ Oberle D et al. Incidence of Narcolepsy in Germany, Sleep, Volume 38, Issue 10, 1 October 2015, Pages 1619–1628, abgerufen am 05.08.2020
- ↑ Johns MW A new method for measuring daytime sleepiness: the Epworth sleepiness scale, Sleep. 1991 Dec;14(6):540-5, abgerufen am 05.08.2020
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