Dissoziative Fugue
von lateinisch: fugere - flüchten
Synonyme: Fugue, Dromomanie, psychogene Fugue
Englisch: Dromomania, travelling fugue
Definition
Unter einer dissoziativen Fugue versteht man das plötzliche, unerwartete Weglaufen einer Person ohne objektiv feststellbaren Grund. Es ist nicht von Neugier oder Abenteuerlust getrieben, sondern ereignet sich losgelöst vom Willen des Patienten. Für die Zeit des Weglaufens und danach kann eine dissoziative, teils reversible Amnesie auftreten.
Hintergrund
Viele Patienten verspüren während des Weglaufens große Angst und Heimweh. Oft verlassen die Betroffenen die Landesgrenzen und reisen tausende von Kilometern. Die Fluchtzustände dauern in der Regel wenige Stunden bis Tage an und klingen dann spontan ab. In Einzelfällen wurde von monatelangen Wanderungen berichtet. Häufig werden rezidivierende Verläufe beobachtet.
Epidemiologie
Die dissoziative Fugue gehört zu den eher seltenen Erkrankungen. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 0,2-0,3 % der Allgemeinbevölkerung. Die Prävalenz kann in Kriegszeiten und bei Naturkatastrophen ansteigen.
Entstehungsmodell
Menschen mit dissoziativer Fugue sehen sich meistens mit extrem unangenehmen Situationen konfrontiert, aus denen sie keinen Ausweg finden können. Das Stresslevel steigt dabei auf ein so intolerables Ausmaß an, dass Erinnerungen an die stressbehaftete Situation unterdrückt werden.
Symptome
Bei einer dissoziativen Fugue kann sich um ein zielloses Umherirren, aber auch um eine zielgerichtete Ortsveränderung handeln. Der aufgesuchte Ort hat manchmal für die Person besondere Bedeutung.
Während einer dissoziativen Fugue präsentiert sich der Patient psychopathologisch unauffällig, seine sozialen Kompetenzen bleiben unberührt. Klinisch fallen allein die retrograde Amnesie und das verminderte Persönlichkeitsbewusstsein auf.
In sehr seltenen Fällen kommt es während einer dissoziativen Fugue zur Heranbildung einer neuen Identität. Diese Identität wählt meist einen komplett neuen Lebensstil. So nimmt der Patient beispielsweise einen anderen Namen an, bezieht eine neue Wohnung und nimmt an verschiedenen sozialen Aktivitäten teil, die früher für ihn undenkbar gewesen wären.
Diagnose
Die Diagnose umfasst folgende Kriterien:
- Plötzliches, unerwartetes Weglaufen aus der gewohnten Umgebung verbunden mit der Unfähigkeit sich an seine Vergangenheit zu erinnern.
- Unsicherheit und Verwirrung bezüglich der eigenen Identität (oder Annahme einer anderen Identität)
- Die Störung ist nicht auf psychotrope Substanzen oder Medikamente zurückzuführen, sie tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer dissoziativen Identitätsstörung auf und ist nicht auf eine organische Grunderkrankung zurückzuführen (z.B. Temporallappenepilepsie)
- Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
Differentialdiagnosen
Differentialdiagnostisch kommen u.a. folgende Erkrankungen in Betracht:
- dissoziative Konversionsstörung
- psychogene Amnesie mit Ich-Störung vom Borderline-Typ
- multiple Persönlichkeitsstörung
- organische Ursachen (Kopfverletzungen, SHT, TIA, Enzephalitis, Hirnabszess, Vaskulitis, Tumore)
- epileptische Fugue (diese ist im Gegensatz zur dissoziativen Fugue durch vorangehende Aura, stereotypes Verhalten, motorische Auffälligkeiten etc. gekennzeichnet)
- psychische Beeinflussung durch Medikamente und Drogen
- toxisch-metabolische Entgleisung (Urämie, Hypoglykämie)
- Manie
- Schizophrenie
- Demenz (Alzheimer-Typ, Pick-Typ)
- Chorea Huntington
- Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung
- Migräne
- Simulation der Erkrankung durch den Patienten, um rechtlichen, finanziellen oder persönlichen Schwierigkeiten zu entgehen
Therapieansätze
Im Vordergrund steht eine psychotherapeutische Behandlung an den psychischen Auslösern der Erkrankung. Die Amnesie soll vermindert und schließlich aufgelöst werden.