Antikonvulsivum
Synonyme: Antiepileptikum, Anfallssuppressivum
Englisch: anticonvulsive, anticonvulsive drug, anticonvulsive agent
Definition
Antikonvulsiva sind Arzneimittel zur symptomatischen Behandlung epileptischer Anfälle. Sie können die Erregbarkeit von Neuronen unterdrücken oder die Erregungsausbreitung im ZNS hemmen. Antikonvulsiva werden sowohl prophylaktisch als auch zur Behandlung eines akuten Anfalls angewendet.
Nomenklatur
Häufig wird synonym der Begriff "Antiepileptikum" verwendet. Er ist jedoch irreführend, da die Medikamente nicht die Epileptogenität im eigentlichen Sinne beeinflussen, sondern lediglich die sogenannte Krampfschwelle heraufsetzen. Dadurch können Anfälle beendet und ihr Auftreten verhindert werden.
Auch der Begriff "Antikonvulsivum" steht unter Beschuss, da er semantisch nur motorische Anfälle erfasst. In Analogie zum englischen Begriff "anti-seizure medication" wurden von den deutschsprachigen epileptologischen Fachgesellschaften als Alternative die Begriffe "anfallssuppressives Medikament" bzw. "Anfallssuppressivum" vorgeschlagen.[1] Sie haben sich in der medizinischen Alltagssprache jedoch bislang (2023) noch nicht durchgesetzt.
Geschichte
Kaliumbromid wurde 1857 als erstes Antikonvulsivum therapeutisch eingesetzt, es wird heute fast nicht mehr verwendet. Phenobarbital wurde erstmals 1912 durch den deutschen Neurologen Alfred Hauptmann als Antikonvulsivum eingesetzt. Danach folgte 1937 die Einführung von Phenytoin. Als von der Phenytoin-Struktur abgeleitete Wirkstoffe wurden Ethosuximid und Mesuximid, aber auch Carbamazepin entwickelt. Eher zufällig wurde die antikonvulsive Wirkung von Valproat und der Benzodiazepine Anfang der 1960er Jahre entdeckt. Die neueren Antikonvulsiva werden erst seit Ende der 1980er Jahre angewendet.
Einteilung
Antikonvulsiva können nach dem Zeitpunkt ihrer Entwicklung in Generationen oder aber nach dem zugrundeliegenden Wirkmechanismus unterteilt werden.
Einteilung in Generationen
Generation | Wirkstoffe |
---|---|
Klassische Antikonvulsiva: 1. Generation |
Carbamazepin, Ethosuximid, Phenytoin, Valproat, Phenobarbital, Primidon |
Neuere Antikonvulsiva:
2. Generation |
Gabapentin, Lacosamid, Lamotrigin, Levetiracetam, Pregabalin, Topiramat, Vigabatrin, Zonisamid, Felbamat, Oxcarbazepin, Tiagabin |
Neuere Antikonvulsiva:
3. Generation |
Brivaracetam, Eslicarbazepin, Perampanel, Rufinamid, Stiripentol |
Die Wirkstoffe der 1. Generation haben in der Regel eine geringere therapeutische Breite als jene der 2. und 3. Generation. Aufgrund der guten Wirksamkeit und langen Erfahrung kommen sie heutzutage dennoch weiter zur Anwendung.
Generell sollte bei der Auswahl des Wirkstoffs auf das Nebenwirkungsprofil sowie potentielle Arzneimittelinteraktionen geachtet werden.
Einteilung nach Wirkmechanismen
Für die einzelnen Antikonvulsiva gibt es teilweise mehrere neuronale Angriffspunkte. Bei der folgenden Aufstellung wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.
- Blockade spannungsabhängiger Na+-Kanäle: z.B. Phenytoin, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Eslicarbazepin, Lamotrigin, Lacosamid
- Blockade spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle (zu den Angriffspunkten an den unterschiedlichen Kanal-Typen siehe die einzelnen Wirkstoffe): z.B. Gabapentin, Pregabalin, Ethosuximid, Zonisamid, Lamotrigin
- Verstärkung von GABA-vermittelten Hemmungsmechanismen durch
- Modulation postsynaptischer GABA-Rezeptoren: z.B. Benzodiazepine, Phenobarbital,
- GABA-T-Blocker: Vigabatrin
- GABA-Reuptake-Hemmer: Tiagabin
- Hemmung des GABA-Abbaus: z.B. Valproat, Vigabatrin
- Modulation postsynaptischer exzitatorischer Glutamatrezeptoren: Felbamat, Topiramat, Perampanel
- Bindung an das synaptische Vesikelprotein SV2A: Levetiracetam, Brivaracetam
Pharmakokinetik
Fast alle Antikonvulsiva werden nach oraler Applikation gut resorbiert und haben eine hohe Bioverfügbarkeit. Weitere pharmakokinetische Daten sind bei den einzelnen Wirkstoffen aufgeführt. Aufgrund der teilweise sehr geringen therapeutischen Breite und der möglichen Arzneimittelwechselwirkungen wird für Antikonvulsiva ein therapeutisches Drug Monitoring empfohlen.[2]
Indikationen
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen der prophylaktischen Dauertherapie einer Epilepsie und der Akuttherapie eines nicht selbstlimitierenden epileptischen Anfalls (Status epilepticus).
Dauertherapie
Eine medikamentöse Dauertherapie wird in der Regel in folgenden Fällen begonnen:
- nach einem erstmaligen Anfall, wenn ein erhöhtes Rezidivrisiko besteht (z.B. strukturelle Hirnläsionen)
- nach 2 oder mehr epileptischen Anfällen im Abstand von mindestens 24 Stunden
Handelt es sich jedoch um einen provozierten epileptischen Anfall (z.B. bei Schlafentzug), so ist eine antikonvulsive Behandlung in der Regel nicht indiziert.
Therapiegrundsätze
Die Wahl des Wirkstoffs richtet sich nach der Art der Epilepsie (fokal oder generalisiert) sowie nach der individuellen Verträglichkeit. Zudem sollte auf eventuelle Langzeiteffekte geachtet werden, da eine Mehrzahl der Patienten eine Langzeittherapie benötigt.
Mithilfe von Spiegelkontrollen kann die individuell benötigte Dosis, vor allem auch im Zusammenspiel mit eventuell bestehender Komedikation, titriert werden. Originalpräparate sollten nicht willkürlich gegen Generika ausgetauscht werden. Ebenso sollte die Medikation niemals abrupt abgesetzt werden, da sonst ein akuter Krampfanfall auftreten kann.[3]
Es wird in der Regel mit einer Monotherapie begonnen. Bleibt eine Wirkung aus oder treten Nebenwirkungen auf, wird zunächst auf eine andere Monotherapie umgestellt. Kommt es zu keiner Reduktion der Anfallsfrequenz ohne Nebenwirkungen, kann eine Kombinationstherapie begonnen werden, um eine Anfallsfreiheit zu erreichen.
Detaillierte Informationen zu den jeweiligen Wirkstoffen finden sich in den einzelnen Artikeln und sind der jeweiligen Fachinformation zu entnehmen.
Anfälle mit fokalem Beginn
Da sich die Wirksamkeit der meisten zugelassenen Antikonvulsiva in klinischen Studien nicht relevant unterscheidet. Daher wird bei der Wahl des Wirkstoffs vor allem auf die Verträglichkeit und individuelle Situation des Patienten geachtet. Zudem sind Wirkstoffe, die wenige Wechselwirkungen aufweisen, bevorzugt einzusetzen.
Bei fokalen Anfällen gehören folgende Wirkstoffe zur 1. Wahl:
- Lamotrigin
- Levetiracetam
Weiterhin Wirkstoffe der 2. Wahl sind z.B. Lacosamid, Carbamazepin, Brivaracetam, Gabapentin, Oxcarbazepin, Perampanel, Pregabalin, Valproat oder Zonisamid.
Wirkstoffe der 3. Wahl sind teils nur zur Behandlung eines Status epilepticus zugelassen (Clonazepam), können zu Entzugsanfällen führen (z.B. Clonazepam, Primidon, Phenobarbital) oder sogar einen Status epilepticus auslösen (Tiagabin) und werden daher nur nach einer ausführlichen Nutzen-Risiken-Abwägung eingesetzt.
Anfälle mit generalisiertem Beginn
Bei der Behandlung der primär generalisierten Epilepsien gehören folgende Wirkstoffe zur 1. Wahl:
- Valproat
- Ethosuximid (nur bei Absencen eingesetzt)
Weiterhin können Wirkstoffe der 2. Wahl genutzt werden (z.B: Lamotrigin, Levetiracetam, Perampanel, Topiramat, Zonisamid).
Zu den Wirkstoffen der 3. Wahl gehören z.B. Clobazam und Phenobarbital.
Einsatz bei Epilepsie-Syndromen
Einige Wirkstoffe haben spezifische Indikationen bei seltenen Epilepsie-Sydnromen. Beispiele hierfür sind:
- Everolimus bei der tuberösen Sklerose
- Rufinamid beim Lennox-Gastaut-Syndrom
- Cannabidiol beim Dravet- oder Lennox-Gastaut-Syndrom
Akuttherapie
Beim Status epilepticus ist es lebenswichtig, diesen so schnell wie möglich zu durchbrechen, da es sonst zu bleibenden neuronalen Schädigungen kommen kann. Als Status epilepticus wird ein Anfall bezeichnet, der länger als 5 Minuten anhält, bzw. eine Anfallsserie, ohne zwischenzeitliches vollständiges Wiedererlangen des Bewusstseins. Das Vorgehen bei einem Status epilepticus ist durch ein Stufenschema standardisiert.
- Stufe 1: Benzodiazepine (z.B. Lorazepam oder Midazolam)
- Stufe 2: Bei Unwirksamkeit von Benzodiazepinen kommen Antikonvulsiva wie Levetiracetam oder Valproat zum Einsatz
- Stufe 3: Bei therapierefraktärem Status epilepticus erfolgt die Behandlung mit Anästhetika (z.B. Propofol oder Midazolam) unter Intubation.
- Stufe 4: Die Stufe 4 kommt beim superrefraktären Status epilepticus zum Einsatz. Aktuell (2023) gibt es zu dieser Stufe wenig Evidenz. Es kann beispielsweise der Einsatz von hochdosierten Barbituraten (z.B. Thiopental) erwogen werden.
Nebenwirkungen
Aufgrund der unterschiedlichen Wirkmechanismen sind auch die unerwünschten Wirkungen der Antikonvulsiva sehr heterogen. Insgesamt ist die therapeutische Breite der Antikonvulsiva gering. Die Wirkstoffe der 2. und 3. Generation sind aber meist besser verträglich.
Neurotoxische Nebenwirkungen
Alle Wirkstoffe der 1. Generation und die Wirkstoffe, die in die GABAerge Neurotransmission eingreifen, führen zu einer dosisabhängig zunehmenden Vigilanzstörung und Einschränkungen der Reaktionsfähigkeit (Beeinträchtigung der Alltagsbewältigung, Einschränkung der Fahrtauglichkeit und der Fähigkeit, Maschinen zu bedienen), Gangstörungen (Ataxie), Sehstörungen (Nystagmus, Doppelbilder), Sedierung und Somnolenz.
Darüber hinaus kann es zur Antriebsverminderung, Apathie, Dysphorie, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsschwäche, emotionaler Labilität und psychotischen Episoden kommen.
Hämatotoxische Nebenwirkungen
- Granulozytopenie, Thrombozytopenie (CAVE Carbamazepin)
Hepatotoxische Nebenwirkungen=
- Anstieg der Leberenzyme (CAVE Valproinsäure)
Metabolische Nebenwirkungen
- Osteopathia antiepileptica (Calcitrioldefizit, Hypokalzämie, Symptome einer floriden Rachitis) (CAVE Carbamazepin, Phenytoin, Phenobarbital, Primidon)
- Folsäuremangelanämie (CAVE Phenytoin)
Wechselwirkungen
Eine Reihe von Antikonvulsiva sind starke Induktoren bestimmter Cytochrom-P450-Isoenzyme, was bei Arzneistoffen, die auf diesem Weg metabolisiert werden, zum Wirkungsverlust kommen kann:
- Carbamazepin, Phenobarbital, Phenytoin und Primidon induzieren CYP2C, CYP3A, UGT
- Oxcarbazepin, Felbamat, Topiramat, Eslicarbazepin, Rufinamid induzieren CYP3A4
Weitere Wechselwirkungen sind bei den einzelnen Wirkstoffen aufgeführt.[4]
Kontraindikationen
- Überempfindlichkeit gegen den betreffenden Wirkstoff oder einen der sonstigen Bestandteile des betreffenden Arzneimittels.
Weitere Kontraindikationen sind bei den einzelnen Wirkstoffen aufgeführt.
Schwangerschaft und Stillzeit
Grundsätzlich ist bezüglich einer Behandlung mit Antikonvulsiva in der Schwangerschaft und Stillzeit zu empfehlen, das Pharmakovigilanz - und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin zu konsultieren.[5]
Vor dem Beginn einer antikonvulsiven Behandlung ist bei Frauen im gebärfähigen Alter ein Schwangerschaftstest durchzuführen. Carbamazepin, Lamotrigin, Phenytoin Topiramat und Valproinsäure haben embryo- bzw. fetotoxische Wirkungen. Werden diese Wirkstoffe Frauen im gebärfähigen Alter verordnet, wird die Anwendung einer hochwirksamen Verhütungsmethode, eine vollständige Aufklärung über die bekannten Risiken einer unkontrollierten Epilepsie und die potentiellen Risiken des Arzneimittels für den Fötus empfohlen.
Ob während einer antikonvulsiven Behandlung gestillt werden kann, ist im Einzelfall zu entscheiden.
Toxikologie
Überdosierungen oder akute Vergiftungen sind i.d.R. durch zunehmende Störungen der Vigilanz und motorische Störungen bis zur Bewusstlosigkeit und zum Koma mit Krampfanfällen gekennzeichnet. Hypotonie und Herzrhythmusstörungen können zur vitalen Bedrohung führen. Weitere Symptome sind bei den einzelnen Wirkstoffen aufgeführt.
ATC-Klassifikation
Antikonvulsiva sind eine strukturell heterogene Stoffgruppe mit unterschiedlichen physikochemischen Eigenschaften. Sie werden anhand der ATC-Klassifikation gliedert:
ATC-Nummer | Wirkstoffgruppe | Wirkstoffe |
---|---|---|
N03AA | Barbiturate und Derivate | Methylphenobarbital, Phenobarbital, Primidon, Barbexaclon, Cathin-Phenobarbital, Metharbital |
N03AB | Hydantoin-Derivate | Ethotoin, Phenytoin, Amino(diphenylhydantoin)valeriansäure, Mephenytoin, Fosphenytoin |
N03AC | Oxazolidin-Derivate | Paramethadion, Trimethadion, Ethadion |
N03AD | Succinimid-Derivate | Ethosuximid, Phensuximid, Mesuximid |
N03AE | Benzodiazepin-Derivate | Clonazepam, Midazolam |
N03AF | Carboxamid-Derivate | Carbamazepin, Oxcarbazepin, Rufinamid, Eslicarbazepin |
N03AG | Fettsäure-Derivate | Valproinsäure, Valpromid, Aminobuttersäure, Vigabatrin, Progabid, Tiagabin |
N03AX | Andere Antiepileptika | Sultiam, Phenacemid, Lamotrigin, Felbamat, Topiramat, Pheneturid, Levetiracetam, Zonisamid, Stiripentol, Lacosamid, Carisbamat, Retigabin, Perampanel, Brivaracetam, Cannabidiol, Cenobamat, Fenfluramin, Ganaxolon, Beclamid, Kaliumbromid |
Quellen
- ↑ [1] Holtkamp M et al. Neue Terminologie: anfallssuppressives Medikament/ Anfallssuppressivum. Clinical Epileptology 2023;
- ↑ Selim M et al. Antiepileptic Drug Monitoring. StatPearls, 2023 Jan 21
- ↑ Strzelczyk A et al. Erster epileptischer Anfall. Dtsch Med Wochenschr 2022
- ↑ Perucca E. Clinically relevant drug interactions with antiepileptic drugs. Br J Clin Pharmacol. 2006
- ↑ Pharmakovigilanz - und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Abgerufen am 19.06.2023
Literatur
- Aktories K et al. Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 13. Aufl., München: Elsevier 2022
- Freissmuth M, Offermanns S, Böhm S. Pharmakologie und Toxikologie. 3. Aufl., Berlin : Springer 2020
- Geisslinger G et al. Mutschler Arzneimittelwirkungen: Pharmakologie - Klinische Pharmakologie - Toxikologie. 11. Aufl., Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2020
- Zettl et al., Diagnostik und Therapie neurologischer Erkrankungen – State of the Art, Elsevier Verlag, 3. Auflage, 2021
- AWMF online – S1-Leitlinie Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter, abgerufen am 29.06.2023
Weblinks
- Gelbe Liste Wirkstoffe - Antiepileptika (Antikonvulsiva), abgerufen am 22.02.2024
- MeSH: D000927 - Anticonvulsants