(Weitergeleitet von Autistisch)
von griechisch: αὐτός ("autós") - selbst
Englisch: autism
Der Autismus bzw. die Autismus-Spektrum-Störung ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung, deren genaue Ursache unbekannt ist. Sie wird als genetisch bedingte Veränderung der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung des Gehirns beschrieben, die sich bereits im frühen Kindesalter bemerkbar machen kann.
Seit der Klassifikation nach DSM-5 und ICD-11 werden die einzelnen autistischen Unterformen nicht mehr als einzelne Diagnosen erfasst, sondern die Hauptdiagnose Autismus-Spektrum-Störung vergeben. Mit der Vergabe der einheitlichen Hauptdiagnose für alle autistischen Personen soll verdeutlicht werden, dass das autistische Spektrum fließend ist und zur Zeit (2019) keine klare Abgrenzung von Subtypen möglich ist.
Die Angaben zur Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen schwanken in den USA zwischen 6 und 11 Fällen pro 1.000 Einwohner.[1] Aufgrund der schwierigen Abgrenzung der Diagnose bieten diese Zahlen allerdings bestenfalls einen Anhaltspunkt für die tatsächliche Häufigkeit. Weltweit sollen Schätzungen zufolge etwa 62,2 Millionen Menschen von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen sein.[2]
Autismus zeigt sich vor allem in drei übergeordneten Lebensbereichen:
Aufgrund dieser Veränderungen werden Autisten häufig als "gestört" bzw. "sozial unfähig" stigmatisiert. Gerade bei gering ausgeprägten Autismusformen entspricht dies jedoch nicht der Realität und ist diskriminierend, da Autismus nur eine extreme Verstärkung eines Teils des menschlichen Verhaltensrepertoires darstellt.
Autismus ist im Wesentlichen unabhängig von der Intelligenzentwicklung, bei ausgeprägtem Autismus können jedoch auch eine Intelligenzminderung und weitere Einschränkungen auftreten. In diesen Fällen benötigen die Betroffenen meist eine lebenslange Unterstützung.
Man geht heute (2019) davon aus, dass es einen fließenden Übergang zwischen den alten, im ICD-10 definierten Autismus-Subtypen sowie zwischen Autismus und Nicht-Autismus gibt. Eine Klassifikation im Sinne genau umschriebener Subtypen ist deshalb weitgehend obsolet. Dennoch werden im klinischen Alltag bzw. in der medizinischen Umgangssprache teilweise noch die alten Subtypen verwendet, die im Folgenden aufgeführt werden.
Der frühkindliche Autismus zeichnet sich durch eine Manifestierung der Symptome vor dem 3. Lebensjahr aus. Er wird auch als Kanner-Autismus, Kanner-Syndrom oder infantiler Autismus bezeichnet. Er manifestiert sich früher als das Asperger-Syndrom und führt zu einer Sprachentwicklungsverzögerung mit Echolalien, Neologismen und Iterationen. In etwa 30% der Fälle ist den Betroffenen keine Lautsprache möglich. Die Intelligenz kann - im Gegensatz zum Asperger-Syndrom - vermindert sein. Dieser Subtyp manifestiert sich meist ab dem 10. und 12. Lebensmonat. Er lässt sich nach dem Ausmaß der Einschränkungen in zwei weitere Subtypen unterteilen, den niedrigfunktionalen Autismus (LFA) und den hochfunktionellen Autismus (HFA).
Der niedrigfunktionale Autismus (LFA, low functioning autism) geht mit deutlicherer Ausprägung der o.a. Symptomatik und Intelligenzminderung einher. Die klinische Einordnung ist jedoch nicht selten falsch, da bei einer ausgeprägten Verzögerung der Sprachentwicklung die Intelligenz fälschlicherweise zu niedrig eingeschätzt werden kann.
Einen frühkindlichen Autismus mit normaler oder hoher Intelligenz bezeichnet man als hochfunktionalen Autismus (HFA, high functioning autism). Er wird im Autismusspektrum zwischen Nichtautismus und LFA verortet. HFA-Autisten sind als Erwachsene häufig nicht von Asperger-Autisten zu unterscheiden, die autistischen Symptome sind aber ausgeprägter als beim Asperger-Syndrom. Auch bei stark eingeschränkter Sprachentwicklung kann ein HFA-Autismus vorliegen - die Betroffenen können sich dann schriftlich äußern.
Das Asperger-Syndrom ist nach traditioneller Vorstellung eine in der Regel ab dem dritten Lebensjahr auftretende Form des Autismus ohne Sprachentwicklungsverzögerung und ohne Intelligenzminderung. Es ist nach dem österreichischen Mediziner Hans Asperger benannt. Das Asperger-Syndrom kann in Einzelfällen mit überdurchschnittlicher Intelligenz oder Inselbegabungen einhergehen. Leichtere Fälle des Asperger-Syndroms werden im Englischen auch als „Little Professor Syndrome“, „Geek Syndrome“ oder „Nerd Syndrome“ bezeichnet.
Unter dem Begriff "atypischer Autismus" wurden früher alle Autismusformen zusammengefasst, deren Manifestationsalter oder Symptomatik sich vom "typischen" Autismus unterschieden. Autistische Kinder mit atypischem Erkrankungsalter weisen alle Symptome eines frühkindlichen Autismus auf, die sich bei ihnen aber nach dem 3. Lebensjahr manifestieren. Autistische Kinder mit atypischer Symptomatik legen nur einen Teil der autistischen Auffälligkeiten an den Tag und erfüllen die Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus nicht vollständig. Dabei können sich die Symptome sowohl vor als auch nach dem 3. Lebensjahr verfestigen.
Das DSM-5 teilt die Diagnosekriterien der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in fünf Teilbereiche (A bis E) auf:
Bei den Kategorien A und B werden zusätzlich drei Schwergrade unterschieden:
Zu den Differentialdiagnosen von Autismus-Spektrum-Störungen zählen u.a.:
Die Verhaltenstherapie hilft den Betroffenen dabei, subjektiv störende, übermäßige Stereotypien abzubauen und andererseits fehlende kommunikative Fähigkeiten aufbauen. Erwünschtes Verhalten wird durchgängig und deutlich erkennbar belohnt. Verhaltenstherapien können entweder ganzheitlich oder auf einzelne Symptome gerichtet sein, sie werden individuell angepasst.
Die Applied Behavior Analysis (ABA) ist eine ganzheitlich ausgerichtete Therapieform, die auf die Frühförderung ausgerichtet ist. Zuerst wird festgestellt, welche Fähigkeiten und Funktionen das Kind bereits besitzt und welche nicht. Hierauf aufbauend werden spezielle Programme erstellt, die das Kind befähigen sollen, die fehlenden Funktionen zu erlernen. Das Verfahren der ABA basiert hauptsächlich auf den Methoden der operanten Konditionierung. Man motiviert die Betroffenen bei richtigem Verhalten, belohnt mit positiver Verstärkung und versucht zugleich das unerwünschte Verhalten durch Bestrafung "auszulöschen“. Als Belohnung werden primäre, positive Verstärker (z.B. Nahrungsmittel) und materielle Verstärker (z.B. Spielzeug) eingesetzt.
Die Wirksamkeit der ABA wird kontrovers diskutiert. Reviews der vorliegenden Studien kommen zu keinen klaren Aussagen und sehen teilweise nur eine geringe Evidenz für die beschriebenen Therapieeffekte. Die ABA steht darüber hinaus unter starker Kritik der Autismus-Community.
Das Elterntraining versucht, den Stress der Eltern zu reduzieren, der durch den Autismus ihres Kindes ausgelöst wird und sich im Gegenzug auf das Kind überträgt. Es wurde nachgewiesen, dass eine Stressreduktion zu deutlichen Verbesserungen im Verhalten autistischer Kinder führt, unabhängig davon, wie ausgeprägt die Symptome sind.
Menschen mit einer geringgradig ausgeprägten Autismus-Spektrum-Störung, die sprachlich und kognitiv nicht beeinträchtigt sind, können gezielt fehlende soziale und kommunikative Fähigkeiten trainieren. Anhand von Rollenspielen werden für das Alltagsleben relevante Kommunikationsformen intensiv erklärt und trainiert.
Zur Zeit (2019) gibt es keine medikamentöse Kausaltherapie von Autismus-Spektrum-Störungen. Medikamente werden nur gegen Begleitsymptome bzw. Komorbiditäten wie Angst, Depressionen, Aggressivität oder Zwänge eingesetzt. Hier kommen u.a. Psychopharmaka wie Antidepressiva, Neuroleptika oder Antikonvulsiva (z.B. Pregabalin gegen generalisierte Angststörungen) zum Einsatz. Benzodiazepine werden ebenfalls gegeben, sind aber wegen des hohen Abhängigkeitspotentials nur zur Kurzzeittherapie in der Akutphase vertretbar.
Bei der Pharmakotherapie von Autismus-Spektrum-Störungen ist das subjektive Empfinden des Patienten unter der Medikation ein wichtiger Entscheidungsfaktor.
Zur Therapie des Autismus werden unter anderem auch Musik-, Kunst-, Reit- und Delfintherapie eingesetzt. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen ist umstritten.
Tags: Autismus, Entwicklungsstörung
Fachgebiete: Kinderheilkunde, Neurologie, Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie
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