Asperger-Syndrom
nach dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger (1906-1980)
Englisch: Asperger's syndrome
Definition
Das Asperger-Syndrom ist eine in der Regel ab dem dritten Lebensjahr auftretende Form des Autismus ohne Sprachentwicklungsverzögerung und ohne Intelligenzminderung.
Nomenklatur
Das Asperger-Syndrom ist nach Hans Asperger (1906–1980) benannt, einem österreichischen Kinderarzt, der auch in der Zeit des Nationalsozialismus tätig war. Er gehörte u.a. einer siebenköpfigen Kommission an, die behinderte Kinder nach ihrer "Bildungsfähigkeit" kategorisieren sollte und war so indirekt für die spätere Ermordung einiger als "aussichtslose Fälle" eingestufter Kinder verantwortlich.[1]
Einordnung
Im DSM-5 und in der ICD-11 wird das Asperger-Syndrom als eigene Entität aufgegeben und den Autismus-Spektrum-Störungen zugeordnet.
Es handelt sich um eine Entwicklungsstörung, die bereits von Geburt an besteht, aber durch eine relativ normale Sprach- und Intelligenzentwicklung gekennzeichnet ist. Ob es sich beim Asperger-Syndrom um eine Krankheit oder ein Syndrom ohne Krankheitswert handelt, ist umstritten.
Epidemiologie
Verlässliche Zahlen für das Asperger-Syndrom existieren nicht, weil es keine allgemein anerkannten Diagnosekriterien gibt. Verschiedene Studien geben eine Häufigkeit von
- 0,16 % (Szatmari-Kriterien) und
- 0,27 % (Gillberg-Kriterien) in der Bevölkerung an.
Das bedeutet, dass statistisch betrachtet, etwa 16 bis 27 Personen pro 10.000 Einwohner vom Asperger-Syndrom betroffen sein können. Repräsentative Untersuchungen zur Häufigkeit des Asperger-Syndroms im Erwachsenenalter liegen jedoch zur Zeit (2019) noch nicht vor.
In den 1990er Jahren galt beim Asperger-Syndrom ein Geschlechter-Verhältnis (m/w) von 8:1. Später wurde ein Verhältnis von 4:1 angegeben. Inzwischen geht man von einem Verhältnis von etwa 3:1 aus. Diese variablen Verteilungsangaben beruhen darauf, dass das Asperger-Syndrom bei Frauen schwerer zu diagnostizieren ist als bei Männern, da bisherige Studien und die diagnostischen Kriterien primär auf Männer bzw. Jungen ausgerichtet waren. Das Asperger-Syndrom wurde aufgrund der meist besseren Kompensationsfähigkeit nach außen und der nicht so offensichtlich ausgeprägten autistischen Kernsymptomatik bei Frauen und Mädchen häufiger übersehen.
Ätiologie
Die genauen Ursachen des Asperper-Syndroms sind zur Zeit (2023) noch unklar und Gegenstand der Forschung. Eine genetische Komponente des Asperger-Syndroms gilt als weitgehend gesichert, da es familiär gehäuft auftritt. Dabei handelt es sich meist um die väterliche Linie. Das Syndrom ist aber multigenetisch determiniert, sodass bislang kein typisches Genmuster identifiziert werden konnte. Etwa 15 % aller Autismus-Spektrum-Störungen werden verschiedenen genetischen De-Novo-Mutationen bzw. Genkopiepolymorphismen zugeordnet.
Eine Auslösung durch verschiedene Teratogene (z.B. Pestizide) in der Frühschwangerschaft wird diskutiert, es fehlen jedoch konkrete wissenschaftliche Belege. Kinder von Müttern, die in der Schwangerschaft Valproinsäure eingenommen haben, zeigen eine erhöhte Inzidenz von Autismus-Spektrum-Störungen.[2]
Pathomechanismus
Als ein möglicher Pathomechanismus des Asperger-Syndroms wird eine abnorme Zellmigration in der frühen Phase der Gehirnentwicklung des Embryos angenommen, die zu einem veränderten Konnektom führt. Andere Theorien gehen davon aus, dass die mangelnden sozialen Fähigkeiten durch eine Fehlfunktion der so genannten Spiegelneuronen ausgelöst wird.
Symptome
Das Asperger-Syndrom manifestiert sich meist nach dem 3. Lebensjahr. Das Symptombild ist sehr variabel, wobei das gemeinsame Hauptmerkmal eine Störung der sozialen Interaktion im Vergleich zu neurotypischen Menschen ist. Bei Menschen mit Asperger-Syndrom läuft die Informations-und Reizverarbeitung anders ab. Dies führt unter anderem zu einer ungefilterten Aufnahme von Reizen aus dem Umfeld und nicht selten zu einer Reizüberflutung, dem so genannten Overload. Die Reizüberflutung kann so stark sein, dass sie zu einem Meltdown bzw. Shutdown führt.
Darüber hinaus ist die autistische Wahrnehmung der Umwelt durch das primär kognitive, vorurteilsfreie, lösungsorientierte und logikbasierte Denken geprägt.
Da jeder Mensch autistische Wesenszüge hat, ist eine klare Abgrenzung des Asperger-Syndroms häufig schwierig. Die Symptome können im Einzelfall so gering ausgeprägt sein, dass sie als "normal" gelten. Mögliche Symptome sind u.a.:
Verbale Kommunikation
- Kommunikation ohne Informationsgehalt (z.B. Smalltalk) wird vermieden
- In der Regel normale Sprachentwicklung, manchmal pedantische, antiquierte Sprechweise erkennbar, manchmal Echolalie in der Kindheit
- Auffällige Sprachmelodie und Intonation, langsame Sprechweise (Prosodie), teilweise emotionslose und "roboterhaft" wirkende Sprechweise
- Betroffene Kinder können altklug erscheinen (sog. Little-Professor-Syndrom)
- Probleme mit der Wertung von zweideutigen Aussagen, Sarkasmus, Ironie, Witzen; häufig wörtliches Auffassen von Aussagen und Redewendungen
Nonverbale Kommunikation
- Reduzierte nonverbale Kommunikation (Gestik, Mimik), da diese als unwichtig erscheint, nur das gesproche Wort zählt
- Fremde nonverbale Signale werden nicht erfasst oder fehlgedeutet, eigene Signale nicht richtig gesetzt.
- Das "Spiegeln" in einer sozialen Interaktion ist defizitär - auf ein Lächeln der Eltern reagiert das Kind z.B. nicht mit einem Zurücklächeln.
- Abweichendes Blickverhalten - Blickkontakt wird von manchen Autisten komplett vermieden. Manchmal wird der Blickkontakt jedoch von den Betroffenen erlernt. Sie blicken auf die Nasenwurzel oder vermeiden die Fokussierung. Wird ein direkter Blickkontakt erzwungen, fehlt meist die Konzentration bzw. die Merkfähigkeit auf den Inhalt des Gesprochenen.
Emotionalität
- Verminderte oder in Teilbereichen auch verstärkte emotionale Schwingungsfähigkeit und Empathie.
- Die Emotionale Intelligenz kann in Teilbereichen eingeschränkt sein. Forschungsergebnisse des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie weisen darauf hin, dass die emotionale Empathie der neurotypischer Menschen entspricht. Bei der kognitiven Empathie zeigen sich hingegen Unterschiede, die interindividuell verschieden ausfallen.
Individualverhalten
- Stereotypes Sortieren von Gegenständen nach für Außenstehende nicht oder nicht sofort erkennbaren Systemen (bei anderer Anordnung dieser Gegenstände Stressreaktionen) Dieser Aspekt ist jedoch nicht zwingend dem Autismus zuzuordnen, da das stereotype Anordnen von Gegenständen teilweise auch bei anderen psychischen Störungen im Kindesalter vorkommt.
- Stereotype, ritualisierte Handlungen und Festhalten an gleichen Vorgehensweisen
- Stressreaktionen bei plötzlichen Änderungen in Vorgehensweise und Planung. Im Kindesalter kommt es dabei häufig zu einem Meltdown, der von außen betrachtet wie ein Wutanfall aussieht, aber für das autistische Kind eine Art "Notreaktion" darstellt.
- Überraschungen bzw. Spontanität führen zu Überforderung bzw. Overload.
Sozialverhalten
- Häufig Introvertiertheit. Wenn die Betroffenen Kontakt suchen, dann zu älteren Kindern oder Erwachsenen, statt zu Gleichaltrigen
- Probleme auf soziale Interaktionen so zu reagieren, wie es der neurotypischen Norm entspricht und von der Gesellschaft erwartet wird. Es zeigen sich Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion. Soziale Regeln werden nicht oder nur ungenügend wahrgenommen, da diese häufig auf nonverbaler Ebene stattfinden und somit nicht wahrgenommen werden.
- Häufig fühlen sich Autisten deplaziert und andersartig unter neurotypischen Menschen (Wrong-Planet-Syndrom).
- Betroffene Kinder sagen oft geradeaus, was sie denken, ohne Rücksicht auf Gefühle anderer.
- Starkes Bedürfnis nach Ehrlichkeit und Wahrheit, teilweise stark gesteigerter Gerechtigkeitssinn (die eigene Ehrlichkeit wird bei anderen ebenfalls angenommen, weshalb Asperger-Betroffene manchmal naiv und leichtgläubig erscheinen)
Kognition
- Notwendigkeit und Bedürfnis nach klaren Strukturen und Regeln - sie vermitteln den Betroffenen Sicherheit
- Theory-of-Mind-Defizit (Schwierigkeit, sich in Gefühls- und Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen)
- Veränderte Wahrnehmung, Filterung und Verarbeitung von sensorischen Reizen (Hyper- oder Hyporeaktivität)
- Vermeidung von Berührungen/Umarmungen und Händeschütteln bei der Begrüßung
- In der Regel durchschnittliche Intelligenz, in Teilbereichen auch überdurchschnittliche Intelligenz beobachtbar
- Überdurchschnittliches Erkennen von Mustern, Strukturen, Fehlern, Zahlen sowie bessere Wiedererkennung von Bildern
- Eingeengte Interessen oder in ihrer Intensität abnorme Spezialinteressen, so dass der Alltag nicht bewältigt werden kann
- Schwierigkeiten bei der zeitlichen und räumlichen Gliederung komplexer Abläufe.
Motorik
- Beeinträchtigung/Störung in der Grob-/Feinmotorik (Betroffene erscheinen ungeschickt)
Einzelne Symptome werden häufig überbewertet. Dass ein Kind sein Spielzeug auf eine bestimmte Art anordnet, muss nicht auf autistische Züge oder Autismus hinweisen. Ebenso bedeutet eine hohe Rechenfähigkeit im Vorschulalter nicht, dass ein Kind das Asperger-Syndrom hat oder gar hochbegabt ist. Die Symptome sollten daher von erfahrenen Spezialisten bewertet werden.
Das Asperger-Syndrom wird auch "unsichtbarer Autismus" genannt, weil das Syndrom bei betroffenen erwachsenen Menschen nicht sofort sichtbar wird. Sie haben gelernt, ihre Einschränkungen erfolgreich vor anderen Menschen zu verstecken. Dennoch können auch nach außen hin "normal" erscheinende Erwachsene mit dem Asperger-Syndrom massiv unter ihrem Alltag und diversen Situationen leiden - vor allem an Ausgrenzung und Feindseligkeit der Umwelt.
Diagnostik
Die Diagnostik des Asperger-Syndroms ist komplex und erfordert ein interdisziplinäres Vorgehen, das die Bewertung genetischer, neurologischer, psychomotorischer, kognitiver und sozialer Faktoren einbezieht und das Kind in verschiedenen Situationen in Bezug auf sein Verhalten, seine Interessen, seine Aktivitäten und seine Alltagskompetenz bewertet.
Meist wird die Diagnose in einem Alter zwischen 4 und 11 Jahren gestellt. Mögliche Diagnosekriterien wurden u.a. von Gillberg und Szatmari vorgeschlagen.
Als Screening-Verfahren sind einsetzbar:
- Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)
- Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK)
- Autismus-Spektrum-Quotient-Test (AQ-Test)
Für eine weitere Diagnosesicherung stehen folgende strukturierte Interviewverfahren zur Verfügung:
Bekannte Probleme bei der Diagnostik des Asperger-Syndroms sind Unterdiagnostik, Überdiagnostik und Fehldiagnosen, die für das Kind ebenso traumatisch sein können wie für die Familien.
Komorbiditäten
...mit dem Asperger-Syndrom
- ADS/ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom/Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom)
- Dyspraxie
- Tourette-Syndrom (motorische und verbale Tics)
- Legasthenie (Lese-/Rechtschreibschwäche)
- Akalkulie/Dyskalkulie (Zahlen-/Rechenschwäche)
- Synästhesie (Kopplung verschiedener Sinneswahrnehmungen)
- Prosopagnosie ("Gesichtsblindheit")
- Fragiles-X-Syndrom
...mit Autismusspektrumstörungen allgemein
- Depressionen
- Angststörungen
- Zwangsstörungen
- Schlafstörungen
- Lernbehinderungen
- Störung der sensorischen Integration
- Epilepsie
- Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS)
- selektiver Mutismus
- Misophonie: Intensiv empfundene Abneigung gegenüber bestimmten, meist wiederkehrenden Geräuschen (z.B. Räuspern, Schniefen, Kaugeräusche, Laubbläser, Aufheulen von Motorrädern).
Differentialdiagnosen
Zu den möglichen Differentialdiagnosen gehören:
- ADS/ADHS
- Sprachstörungen und soziale Kommunikationsstörung
- Stereotype Bewegungsstörung
- Sozialphobie
- Rett-Syndrom
- Selektiver Mutismus
- Schizoide Persönlichkeitsstörung
- Schizotype Persönlichkeitsstörung
- Schizophrenie
- Schizophrenes Residuum
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
- Soziale Bindungsstörung
Therapien
Da die genauen Ursachen des Asperger-Syndroms unbekannt sind, gibt es zur Zeit (2023) keine kausale Therapie. Die sozialen Fähigkeiten können durch Training zumindest ausgebaut werden. In Europa existieren in größeren Städten zudem diverse Selbsthilfegruppen für Menschen mit Asperger-Syndrom sowie eine Reihe von Foren. Der Austausch von Betroffenen untereinander kann sehr hilfreich sein.
Asperger-Syndrom als "Modediagnose"
In den letzten 10 bis 15 Jahren ist zu beobachten, dass sich das Asperger-Syndrom zu einer Art "Modediagnose" entwickelt hat. Ein Beispiel ist der Physiker Sheldon Cooper aus der Serie "The Big Bang Theory", der witzig und reizvoll dargestellt wird. Diese Darstellung verharmlost jedoch die Auswirkungen des Asperger-Syndroms für die wirklich Betroffenen stark.
Quellen
- ↑ Das Kindermordhaus - Süddeutsche Zeitung
- ↑ Jakob Christensen, PhD, Therese Koops Grønborg, MSc, Merete Juul Sørensen, PhD, Diana Schendel, PhD, Erik Thorlund Parner, PhD, Lars Henning Pedersen, PhD, and Mogens Vestergaard, PhD: Prenatal Valproate Exposure and Risk of Autism Spectrum Disorders and Childhood Autism. JAMA. 2013 Apr 24; 309(16): 1696–1703. doi: 10.1001/jama.2013.2270 PMCID: PMC4511955 NIHMSID: NIHMS701432 PMID: 23613074
Weblinks
- Weitere Informationen zum Asperger Syndrom
- Forum für Partner betroffener Menschen
- Einfach anders - Forschungszentrum Jülich, abgerufen am 22.10.2021
- ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics, abgerufen am 22.10.2021
- Auswahl von Foren für Menschen mit Asperger-Syndrom: