Fragiles-X-Syndrom
Synonyme: Syndrom des fragilen X-Chromosoms, Marker-X-Syndrom, Martin-Bell-Syndrom
Englisch: fragile X syndrome
Definition
Fragiles-X-Syndrom, kurz fra(X)-Syndrom, ist eine Erbkrankheit, die vor allem – jedoch nicht ausschließlich – bei Männern auftritt und bei den Betroffenen unter anderem zu einer Intelligenzminderung unterschiedlicher Ausprägung führt.
Hintergrund
Beim fra(X)-Syndrom ist eine genetische Antizipation möglich. Das bedeutet, dass die Erkrankung bei nachfolgenden Generationen immer früher auftritt und schwerer verläuft.
Unter bestimmten Bedingungen kann eine Bruchstelle am X-Chromosom (fragiler Bereich) nachgewiesen werden, die dem Syndrom seinen Namen gibt.
Ätiologie
Ursache der Erkrankung ist eine Mutation auf dem X-Chromosom, die das FMR1-Gen am Genlokus Xq27.3 betrifft. FMR1 ist essentiell für die Neurogenese und neuronale Plastizität.
Es handelt sich um eine dynamische Mutation innerhalb der Promoterregion, die zur Expansion der CGG-Repeats (sich wiederholende Abfolge von drei Nukleotiden) führt. Dabei ist die Häufigkeit dieser Repeats entscheidend für eine Erkrankung:
- 5 bis 44 Repeats: Diese Anzahl liegt bei einer gesunden Person vor
- 45 bis 54 Repeats: Dieser Bereich wird als Grauzone bezeichnet und weist keine klinische Relevanz auf.
- 55 bis 200 Repeats: Hier spricht man von einer Prämutation.
- Die Prämutation ist noch kein Auslöser für das fra(X)-Syndrom, das Allel ist allerdings vererblich und erhöht das Risiko der Erkrankung bei den Nachkommen.
- Bei ca. 20 % der Trägerinnen kommt es zur Fragile-X-assoziierten prämaturen Ovarialinsuffizienz (FXPOI). Sie ist als hypergonadotroper Hypogonadismus definiert, der vor dem 40. Lebensjahr mit möglichen Auswirkungen auf die Fertilität auftritt.
- Bei beiden Geschlechtern kann ein Fragiles-X-assoziiertes Tremor-/Ataxie-Syndrom (FXTAS) ausgelöst werden. Männliche Träger mit hemizygoter Anlage sind häufiger (ca. 40 %) betroffen, als weibliche, heterozygote Trägerinnen (16 - 20 %).
- > 200 Repeats: Es liegt eine Vollmutation vor, die das fra(X)-Syndrom auslöst. Ab dieser Repeatanzahl wird die Expression von FMR1 unterdrückt und kein Protein mehr gebildet.
In seltenen Fällen wurden andere Mutationen (Deletionen oder Punktmutationen) im FMR1-Gen als Auslöser für das fra(X)-Syndrom beschrieben.
Epidemiologie
Für die Häufigkeit des Syndroms gibt es in der Literatur sehr unterschiedliche Angaben. Die Angaben zur Inzidenz schwanken zwischen 1:1.200 bis 1:4.000 bei Männern und 1:2.500 bis 1:6.000 bei Frauen. Damit ist es nach der Trisomie 21 die zweithäufigste Form einer genetisch bedingten geistigen Behinderung. Bei 7 % der betroffenen Kinder ist das fragile X-Chromosom Ursache für schwerste geistige Behinderung, in 4 % der Fälle die Ursache für einen leichten Intelligenzdefekt.
Männer, die ein fragiles X-Chromosom haben, jedoch gesund sind, übertragen das Gen auf ihre Nachkommen: Söhne tragen hierbei kein Krankheitsrisiko, Töchter werden jedoch Trägerinnen der Prämutation, zum Teil auch der Vollmutation.
Symptome
Leitsymptom des fra(X)-Syndroms ist eine Intelligenzminderung, die bei den Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Dazu kommen häufig weitere Auffälligkeiten des Verhaltens und der Gehirnfunktion, u.a.:
- Lernschwäche
- Sprachstörungen und Störungen der Sprachentwicklung
- Aufmerksamkeitsdefizit
- Hyperaktivität
- Aggressivität
- Autismus
- Epilepsie
- Verzögerung der geistigen Entwicklung
- Verzögerung der motorischen Entwicklung
Darüber hinaus gibt es körperliche Auffälligkeiten beim fra(X)-Syndrom:
- auffälliges Gesicht
- lange, ovale Gesichtsform
- große und abstehende Ohren
- Progenie: Vorstehen des Kinns
- hervorspringende Stirn
- Hodenvergrößerung (bei Jungen)
- gelegentlich Skoliose und Fußdeformitäten
All diese Symptome können, müssen aber nicht, im Rahmen eines fra(X)-Syndroms auftreten.
Die Erkrankung kann sowohl bei Männern als auch bei Frauen auftreten. Da bei Frauen jedoch eines der beiden X-Chromosomen in den Körperzellen inaktiviert wird, sind die Symptome bei betroffenen Frauen oft weniger schwer ausgebildet als bei Männern.
Diagnose
Eine mögliche, jedoch relativ unsichere diagnostische Methode ist der Nachweis der brüchigen Stelle am X-Chromosom (fra(X)(q)) im Karyogramm. Oft wird der Nachweis einer Triplettexpansion zur Diagnostik herangezogen: hierbei testet man die Anzahl der Wiederholungen der CGG-Basentripletts in der fraX-Gensequenz.
Als Tests dienen heute vor allem PCR (Polymerasekettenreaktion) und immunhistochemische Methoden zur direkten Bestimmung der Proteinkonzentration von FMR1 (Markierung mit monoklonalen Antikörpern). Die Anzahl der Repeats und der Methylierungsstatus von FMR1 kann mittels Southern Blot erfasst werden.
Als pränatale Diagnosemethoden stehen die Chorionzottenbiopsie (10.-12. Schwangerschaftswoche) und die Amniozentese (16.-18. Schwangerschaftswoche) zur Verfügung.
Therapie
Das fra(X)-Syndrom ist eine genetische Erkrankung, die zur Zeit (2022) nicht geheilt werden kann. Die Therapie ist somit auf die Linderung der Symptome beschränkt.
Wichtig ist die Zusammenarbeit verschiedener medizinischer Fachrichtungen (z.B. Psychiatrie, Pädiatrie, Neurologie etc.), um eine optimale Behandlung des Patienten zu ermöglichen. Bestandteile der Therapie sind beispielsweise logopädische Förderung und Verhaltenstherapie.
Quelle
- genetikum.de - Infothek, abgerufen am 04.02.2022
- Hunter et al. FMR1 Disorders, Gene Reviews, abgerufen am 24.08.2023