Neuronale Plastizität
Synonym: Neuroplastizität
Englisch: neuroplasticity
Definition
Der Begriff neuronale Plastizität beschreibt den Umbau neuronaler Strukturen in Abhängigkeit von ihrer Aktivität. Die neuronale Plastizität kann einzelne Nervenzellen oder ganze Hirnareale betreffen. Sie dient dazu, die Funktionen des Nervensystems zu erhalten, anzupassen und ggf. zu erweitern.
Hintergrund
Das ZNS gehört zu den komplexesten Regionen des menschlichen Körpers. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten ging man davon aus, dass vor der Geburt die neuronalen Strukturen im Gehirn statisch entwickelt sind und sich bis zum Tode nicht mehr verändern.
Die neueren Forschungen in der Neuroanatomie und der Neurologie haben aber gezeigt, dass das Gehirn sowohl durch Lernprozesse, als auch nach exogen ausgelösten Beschädigungen deutlich verändert werden kann.
Kurz nach der Geburt greift der Säugling vermutlich bereits auf 100 Milliarden Neuronen zurück – einer Anzahl, die der des gesunden Erwachsenen entspricht. Perinatale Neuronen sind jedoch noch klein und nur wenig vernetzt. Im Laufe der folgenden Entwicklung kommt es zu einer zunehmenden Reifung und Differenzierung sowie zur synaptischen Vernetzung der Nervenzellen.
Die neuronale Plastizität ist vom Alter abhängig. Die primäre Sehrinde entwickelt sich nur in den ersten Lebensjahren weiter und erlernt die Verarbeitung von Sinneseindrücken. Auch andere Bereiche des Gehirns verlangsamen mit zunehmenden Lebensjahren ihre Umbaufähigkeit drastisch.
Formen
Intrinsische Plastizität
Als intrinsische Plastizität bezeichnet man die Möglichkeit von Nervenzellen, die Sensibilitätsreaktion auf Signale benachbarter Neuronen abzustimmen.
Synaptische Plastizität
Die synaptische Plastizität betrifft die Verbindungen der Nervenzellen (Synapsen) untereinander. Sie lässt sich weiter untergliedern in:
- funktionelle Plastizität: Änderung der Freisetzung und Modulation von Transmittersubstanzen.
- strukturelle Plastizität: Änderung der Anzahl und Organisation der Synapsen.
Vikariation
Der Begriff Vikariation beschreibt eine Hypothese, die besagt, dass die Funktion eines geschädigten Hirnareals durch Nachbarareale übernommen wird, die zuvor nicht an dieser Funktionalität beteiligt waren. Nach heutigem Wissensstand ist die Vikariation vor allem durch die Plastizität von kortikalen Repräsentationsfeldern möglich.[1]
Kollaterale Axonsprossung
Nach einer Läsion können intakte, nicht betroffene Hirnareale Axonkollateralen zu den betroffenen Arealen bilden und neue Synapsen zu denervierten Neuronen entstehen.
Funktion
Die neuronale Plastizität ist essentiell für Lernprozesse und Erinnerungsleistungen. Bei Musikern z.B. sind bestimmte Hirnareale stärker "vernetzt" als bei Nicht-Musikern. Auch bei zerebralen Läsionen spielt die neuronale Plastizität eine wichtige Rolle, um Defekte zu kompensieren.
Darstellung
Bei der Abbildung der kortikalen Integrität im ZNS nimmt die transkranielle Magnetstimulation (TMS) einen besonderen Stellenwert ein. Es ist das einzige Verfahren, das beim Menschen in vivo unabhängig von Willkürbewegungen die nichtinvasive Messung der Leitfunktion und des Organisationszustandes kortikospinaler Efferenzen erlaubt. Während bildgebende Verfahren wie fMRT und PET primär Aufschluss über die zerebrale Topografie geben, sind mittels TMS Aussagen zur Funktion möglich.
Abgrenzung zur Regeneration
Die neuronale Plastizität ist nicht mit der Regenerationsfähigkeit von neuronalem Gewebe gleichzusetzen. Die neuronale Plastizität beschreibt lediglich einen dynamischen Umbau von schon bestehenden Synapsen. Einmal zerstörte Synapsen stehen für einen solchen Umbau nicht mehr zur Verfügung.
Hier greifen aktuelle Forschungsprojekte ein, die versuchen aus pluripotenten oder neuronalen Stammzellen neue Nervenzellen zu kultivieren, um beschädigtes Gewebe zu ersetzen.
Klinik
Eine zu ausgeprägte Neuroplastizität kann auch negative Folgen haben und z.B. zu einer aktionsinduzierten fokalen Dystonie führen. Bei einem Klavierspieler kann ausgeprägtes Klavierspielen zu einer Ausbreitung und Überlappung der einzelnen beteiligten Hirnareale führen, sodass die Aktivierung eines Fingers zur gleichzeitigen Aktivierung des sensomotorischen Nervennetzwerk der anderen Finger führt und ein Klavierspielen nicht mehr möglich ist.
Ein weiteres Phänomen, das auf fehlgeleitete neuronale Plastizität zurückgeht, sind Phantomschmerzen. Nach einer Amputation kommt es hier zu einer kortikalen Reorganisation.
Vor allem für Patienten mit Schlaganfall wurden auf der Grundlage des Wissens über die Neuroplastizität neue Trainingsmethoden entwickelt. Eine dieser Methoden ist die Forced-use-Therapie, die bei Patienten mit Hemiparese angewendet wird. Die Ruhigstellung der gesunden Extremität zwingt den Patienten dazu, zu versuchen, die paretische Extremität zu nutzen und Neuroplastizität zu induzieren.
Quelle
- ↑ Nelles - Funktionsrückbildung und neuronale Plastizität Referenz-Reihe Neurologie - Klinische Neurologie: Neurologische Rehabilitation. 2004
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