Störung des Sozialverhaltens
Englisch: conduct disorder
Definition
Die Störung des Sozialverhaltens ist eine psychische Störung des Kindes- und Jugendalters, die durch ein überdauerndes Muster von aggressivem, destruktivem oder normverletzendem Verhalten gekennzeichnet ist. Dabei werden grundlegende gesellschaftliche Regeln, soziale Normen oder Rechte anderer Menschen wiederholt missachtet. Das Verhalten geht deutlich über gelegentliche Regelverstöße hinaus und führt zu erheblichen Beeinträchtigungen in Schule, Familie und sozialem Umfeld.
Klassifikation
Nach ICD-10 gehört die Störung des Sozialverhaltens zu den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F91). Wichtige Subtypen sind:
- F91.0: Auf den familiären Rahmen beschränktes Störungsbild
- F91.1: Störung bei fehlenden sozialen Bindungen (sozial isoliertes, allgemein aggressives Verhalten)
- F91.2: Störung mit bestehenden sozialen Bindungen (auffälliges Verhalten trotz sozialer Integration)
- F91.3: Oppositionelles Trotzverhalten (vor allem bei jüngeren Kindern)
- F92.x: Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (bei zusätzlicher depressiver oder ängstlicher Symptomatik)
Im DSM-5 wird die Störung unter den "disruptiven, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen" geführt und nach Beginnalter (Kindheitstyp vs. Jugendtyp) sowie Schweregrad (leicht, mittel, schwer) eingeteilt. Der Zusatz "mit begrenzten prosozialen Emotionen" bezeichnet Fälle mit mangelnder Empathie und Schuldgefühlen.
Epidemiologie
Die Prävalenz liegt bei etwa 2–10 %. Jungen sind deutlich häufiger betroffen als Mädchen. Der Beginn liegt meist zwischen dem 7. und 15. Lebensjahr. Ein früher Beginn (vor dem 10. Lebensjahr) gilt als ungünstig, da er häufiger mit chronischen Verläufen, Substanzkonsum und antisozialen Persönlichkeitszügen im Erwachsenenalter einhergeht.
Ätiopathogenese
Die Entstehung ist multifaktoriell und beruht auf dem Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Einflussfaktoren.
Biologische Faktoren
Genetische Studien zeigen eine moderate Erblichkeit (40–60 %). Neurobiologische Befunde deuten auf Funktionsstörungen im präfrontalen Kortex und limbischen System hin, die Impulskontrolle und emotionale Regulation beeinträchtigen. Auch Veränderungen im serotonergen und dopaminergen System sowie pränatale Risikofaktoren (z.B. Nikotinexposition, Alkohol, Hypoxie) tragen zur Vulnerabilität bei.
Psychosoziale Faktoren
Erhebliche Bedeutung haben inkonsistente oder harte Erziehungsstile, emotionale Vernachlässigung, elterliche psychische Erkrankungen, Armut und soziale Desintegration. Ungünstige Peergruppen, Schulversagen und instabile Bindungen fördern antisoziales Verhalten zusätzlich.
Psychologische Faktoren
Typisch sind geringe Empathiefähigkeit, niedrige Frustrationstoleranz und impulsive Reaktionsmuster. Aggression kann durch kurzfristige Erfolgs- oder Aufmerksamkeitsgewinne verstärkt werden. Häufig bestehen komorbide ADHS, emotionale Störungen oder Substanzmissbrauch.
Symptomatik
Das Verhalten ist durch wiederholte Verstöße gegen soziale Regeln und Rechte anderer gekennzeichnet. Typische Symptome sind:
- Aggression gegen Menschen oder Tiere: Prügeleien, Mobbing, Drohungen, Tierquälerei
- Zerstörung von Eigentum: Sachbeschädigung, Brandstiftung
- Betrug oder Diebstahl: Lügen, Stehlen, Einbruch, Manipulation
- Regelverstöße: Schulschwänzen, Weglaufen, nächtliches Ausbleiben
- Mangel an Reue: Gleichgültigkeit oder fehlendes Schuldgefühl gegenüber den Folgen des eigenen Handelns
Die Verhaltensauffälligkeiten treten über mindestens sechs Monate in mehreren Lebensbereichen auf.
Diagnostik
Die Diagnose erfolgt klinisch anhand der ICD-10- oder DSM-5-Kriterien. Erforderlich ist ein überdauerndes Muster normverletzenden Verhaltens mit deutlicher Beeinträchtigung des Funktionsniveaus.
Vorgehen:
- Anamnese mit Eltern, Kind und Lehrkräften
- Verhaltensbeobachtung in verschiedenen Situationen
- Standardisierte Fragebögen wie CBCL oder SDQ
- Erfassung von Komorbiditäten (ADHS, Depression, Angst, Substanzkonsum)
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnostisch sollte eine Abgrenzung zu Autismus-Spektrum-Störungen, Intelligenzminderung oder affektiven Störungen erfolgen.
Therapie
Die Behandlung erfolgt multimodal und integriert psychotherapeutische, pädagogische und gegebenenfalls pharmakologische Ansätze.
Psychotherapie
- Kognitive Verhaltenstherapie: Förderung sozialer Kompetenzen, Impulskontrolle, Empathietraining
- Elterntraining: Vermittlung konsistenter Erziehung und positiver Verstärkung
- Familien- oder systemische Therapie: Verbesserung der Kommunikation und Konfliktbewältigung
- Multisystemische Therapie (MST): Kombination von Interventionen in Familie, Schule und Freizeit, mit nachgewiesener Wirksamkeit bei schweren Verläufen
Pharmakotherapie
Es erfolgt keine pharmakologische Primärbehandlung. Bei Komorbidität (v.a. ADHS) kann Methylphenidat eingesetzt werden. Atypische Antipsychotika (z.B. Risperidon) können in Einzelfällen bei starker Aggressivität kurzfristig hilfreich sein.
Pädagogisch-soziale Maßnahmen
Strukturierte Tagesabläufe, klare Regeln, schulische Unterstützung und sozialpädagogische Begleitung fördern Stabilität.
Prognose
Bei Beginn vor dem 10. Lebensjahr ist die Prognose eher ungünstig und es kommt häufiger zu persistierendem antisozialen Verhalten. Bei einem späteren Beginn ist die Störung meist vorübergehend, es handelt sich eher situationsbedingte Auffälligkeiten. Schutzfaktoren sind stabile emotionale Bindungen, positive Vorbilder, erfolgreiche schulische Integration und frühzeitige therapeutische Unterstützung.
Literatur
- DSM‑5 ® – Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Ausgabe – Ausschnitt „Conduct Disorder“
- Görtz-Dorten et al., S3–Leitlinie "Störungen des Sozialverhaltens: Empfehlungen zur Versorgung und Behandlung", AWMF, 2018