Systemische Therapie (Psychotherapie)
Definition
Die Systemische Therapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren, das psychisches Leiden im Kontext sozialer Beziehungen und Wechselwirkungen betrachtet. Symptome werden nicht primär als Ausdruck individueller Störungen verstanden, sondern als funktional im jeweiligen Beziehungs-, Familien- oder sozialen System. Therapeutische Veränderungen werden durch neue Sichtweisen, Kommunikationsmuster und Perspektiven angestoßen.
Theoretische Grundlagen
Die Systemische Therapie basiert auf Theorien aus der Systemtheorie, Kybernetik zweiter Ordnung, Konstruktivismus sowie der Kommunikationstheorie.[1] Sie betrachtet den Menschen nicht isoliert, sondern als Teil dynamischer sozialer Systeme (z.B. Familie, Partnerschaft, Arbeit).
Zentrale Konzepte sind:
- Zirkularität: Symptome entstehen und bestehen durch wechselseitige Interaktionen im System, nicht durch lineare Ursache-Wirkungs-Beziehungen.
- Ressourcenorientierung: Der Fokus liegt auf vorhandenen Kompetenzen, nicht auf Defiziten.
- Refraiming und Perspektivwechsel: Neue Bedeutungen für problematisches Verhalten werden ermöglicht.
- Hypothesenbildung: Therapeut:innen formulieren systemische Hypothesen zur Entstehung und Aufrechterhaltung des Problems.
Anwendungsgebiete
Die systemische Therapie wird bei einer Vielzahl psychischer Störungen angewendet, insbesondere bei:
- affektiven und Angststörungen,
- Anpassungsstörungen,
- Essstörungen,
- psychosomatischen Beschwerden,
- chronischen Konflikten in Partnerschaft oder Familie,
- Erziehungsproblemen,
- bei Kindern und Jugendlichen.
Sie kann als Einzel-, Paar-, Familien- oder Gruppentherapie angewendet werden und eignet sich besonders bei systemisch mitbedingten Problemlagen.[2]
Behandlungsrahmen und Methodik
Setting
Die systemische Therapie findet meist in einem flexiblen Setting statt. Sitzungen können einzeln, zu zweit (z. B. Paartherapie) oder in Familienkonstellationen durchgeführt werden. Sitzungsfrequenz und Dauer sind variabel, orientieren sich aber an den Anliegen der Klienten und der Beziehungsdynamik.
Interventionstechniken[3]
- Zirkuläres Fragen: gezieltes Einbeziehen unterschiedlicher Perspektiven im System
- Genogrammarbeit: Visualisierung familiärer Muster und Loyalitäten
- Skalierungsfragen: Einschätzung von Veränderung und Ressourcen
- Reframing: Umdeutung problematischer Zuschreibungen
- Paradoxe Interventionen: z. B. Symptomverschreibungen
- Externalisierung: Trennung von „Problem“ und „Person“ (z.B. „die Angst“ als eigenständige Größe)
Therapeutische Haltung
Systemische Therapeuten bzw. Therapeutinnen verstehen sich als „allparteiliche“ Begleiter, die Veränderung durch Reflexion, Hypothesen und Impulse anregen – nicht durch direkte Interpretation oder Instruktion. Die Haltung ist wertschätzend, lösungsorientiert und nicht pathologisierend.
Abgrenzung zu anderen Verfahren
Im Unterschied zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und zur analytischen Psychotherapie, die intrapsychische Konflikte und unbewusste Prozesse betonen, rückt die systemische Therapie soziale Interaktionen und Kommunikation in den Mittelpunkt.
Im Vergleich zur Verhaltenstherapie, die sich auf konkrete Symptome, Kognitionen und Verhaltensänderungen fokussiert, arbeitet die systemische Therapie primär auf der Ebene von Bedeutungen, Beziehungen und Systemstrukturen. Sie ist weniger manualisiert und lässt mehr Gestaltungsspielraum im Therapieverlauf.
Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist das starke Einbeziehen des sozialen Umfelds, insbesondere bei Familien- oder Paarkonflikten.
Wirksamkeit und Evidenz
Die systemische Therapie ist seit 2008 vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) als wirksam anerkannt, seit 2019 auch für die GKV zugelassen (Erwachsene).[4] Für Kinder und Jugendliche besteht ebenfalls eine Anerkennung (seit 2022). Metaanalysen zeigen eine gute Wirksamkeit bei affektiven Störungen, Essstörungen, Sucht und chronischen familiären Konflikten.[5]
Kritik
Als Kritikpunkt wird mitunter die theoretische Vielfalt genannt, die eine klare Manualisierung erschwert. In bestimmten Fällen – etwa bei akuten Psychosen, schwerer struktureller Desintegration oder fehlender Beziehungsmotivation – ist das Verfahren nur eingeschränkt geeignet. Hier kann eine Kombination mit anderen Verfahren indiziert sein.
Literatur
- ↑ Watzlawick, P., Beavin, J., & Jackson, D. (1969). Menschliche Kommunikation. Huber.
- ↑ Becker, K., von Sydow, K., & Reimer, C. (2019). Systemische Therapie und Beratung – Ein Überblick. Beltz Juventa.
- ↑ von Schlippe, A., & Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der Systemischen Therapie und Beratung I–II. Vandenhoeck & Ruprecht.
- ↑ Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie (WBP): https://www.wbpsychotherapie.de/
- ↑ Tschuschke, V., et al. (2019). Evidenzbasierung systemischer Therapie. Zeitschrift für Psychotherapie, 10(1), 15–27.