Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
Synonym: tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie
Englisch: psychodynamic psychotherapy
Definition
Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, kurz TP, ist ein psychodynamisches, wissenschaftlich anerkanntes Psychotherapieverfahren. Sie basiert auf der klassischen Psychoanalyse, wurde jedoch zu einem eigenständigen, praxisorientierten Behandlungsansatz weiterentwickelt. Im Zentrum steht die Annahme, dass gegenwärtige psychische Symptome Ausdruck unbewusster innerpsychischer Konflikte sind, die aus früheren Beziehungserfahrungen resultieren und im aktuellen Erleben wirksam werden.[1]
Geschichte
Die TP entstand im 20. Jahrhundert als „abgeleitete“ Form der Psychoanalyse mit dem Ziel, ein weniger regressives, stärker alltagsbezogenes Verfahren zu schaffen. Dieses sollte für eine breitere Patientengruppe sowie in verschiedenen Versorgungskontexten anwendbar sein. Seit den 1960er Jahren ist die TP in Deutschland als sogenanntes Richtlinienverfahren offiziell anerkannt. Ihre Durchführung orientiert sich heute (2025) an der Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (§12 Psychotherapie-Richtlinie, G-BA).
Abgrenzung
Die TP unterscheidet sich von anderen anerkannten Psychotherapieverfahren hinsichtlich ihrer theoretischen Fundierung, Zielsetzung und Methodik. Im Vergleich zur analytischen Psychotherapie ist sie kürzer, konfliktzentrierter und stärker auf das aktuelle Erleben fokussiert. Die Therapie erfolgt im face-to-face-Setting und verzichtet auf freie Assoziation zugunsten einer aktiveren therapeutischen Haltung.
Gegenüber der Verhaltenstherapie, die sich auf lerntheoretische und kognitive Modelle stützt und symptomorientiert vorgeht, betont die TP unbewusste Konflikte, Beziehungsmuster und emotionale Verarbeitung als zentrale Wirkfaktoren. Im Gegensatz zur systemischen Therapie, die Symptome primär als Ausdruck interaktioneller Beziehungsmuster versteht, konzentriert sich die TP auf intrapsychische Konflikte und eine verstehende therapeutische Beziehung. Die Rolle des Therapeuten ist dabei klärend und deutend, nicht moderierend oder zirkulär-hypothetisch.
Die TP nimmt somit eine vermittelnde Position zwischen aufdeckenden und stützenden Therapieverfahren ein und ermöglicht eine individualisierte, tiefgreifende Bearbeitung psychischen Leidens.
Theoretische Grundlagen
Die TP beruht auf zentralen Konzepten der psychoanalytischen Theorie. Eine zentrale Annahme ist die Existenz unbewusster Konflikte, aus denen psychische Symptome hervorgehen – beispielsweise durch Spannungen zwischen Bedürfnissen und internalisierten Verboten.[2] Übertragung und Gegenübertragung spielen eine bedeutende Rolle, wobei z.B. frühere Beziehungsmuster im therapeutischen Setting reaktiviert und dort bearbeitet werden können. Das Strukturmodell der Psyche bildet ebenfalls eine wichtige Grundlage. Funktionen des Ich wie Affektdifferenzierung, Selbstregulation und Realitätsprüfung werden in der Therapie gezielt angesprochen. Im Unterschied zur klassischen Psychoanalyse legt die TP einen stärkeren Fokus auf gegenwärtige Konflikte und aktuelle Auslöser psychischer Belastungen.[1]
Diagnostische Grundlage
Zur diagnostischen Erfassung psychodynamischer Aspekte wird häufig die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD-2) eingesetzt. Sie dient der strukturierten Erhebung von Konflikt- und Strukturmerkmalen sowie der Therapieplanung.[2]
Anwendungsgebiete
Die TP ist indiziert bei verschiedenen psychischen Erkrankungen, darunter:
- affektive Störungen (z. B. depressive Episoden, Dysthymie)
- Angststörungen
- somatoforme und funktionelle Syndrome
- Anpassungsstörungen
- Persönlichkeitsstörungen mit neurotischem oder ängstlich-vermeidendem Charakter
- psychosomatische Störungen
Die Therapie kann im Einzel- oder Gruppensetting erfolgen und wird ambulant, teilstationär oder stationär durchgeführt.
Durchführung
Die TP wird in der Regel in einem face-to-face-Setting durchgeführt, meist mit ein bis zwei Sitzungen pro Woche. Die klassische Couchsituation der Psychoanalyse wird hierbei nicht verwendet.
Je nach Indikation und Behandlungsziel wird zwischen Kurzzeittherapie (12–24 Sitzungen) und Langzeittherapie (bis zu 100 Sitzungen) unterschieden. Verlängerungen sind nach Antragstellung gemäß Psychotherapie-Richtlinie möglich. Zentrale therapeutische Techniken sind:
- Klärung: Gemeinsames Verstehen aktueller Erlebens- und Beziehungsmuster
- Deutung: Hypothetisches Aufdecken unbewusster Konfliktdynamiken
- Konfrontation: Direktes Ansprechen von Abwehrmechanismen
- Stützung: Förderung von Ich-Funktionen bei strukturellen Schwächen[1]
Die therapeutische Beziehung gilt als zentrales Medium psychischer Veränderung. Der Therapeut nimmt eine verstehende, zugewandte, jedoch abstinente Haltung ein.
Ziel
Das primäre Ziel der TP ist die Bearbeitung unbewusster Konflikte, die das aktuelle psychische Leiden aufrechterhalten. Weitere Ziele umfassen die Förderung von Selbstreflexion und Selbstwirksamkeit, die Integration abgespaltener Affekte und Ich-Anteile, die Bearbeitung dysfunktionaler Beziehungsmuster sowie den Aufbau struktureller Kompetenzen wie Affektdifferenzierung und Impulskontrolle. Die Wirksamkeit der TP beruht maßgeblich auf der therapeutischen Beziehung, der Deutung innerpsychischer Prozesse sowie der emotionalen Neubearbeitung konflikthafter Erfahrungen in einem geschützten Rahmen.[3]
Kritik
Kritisiert wird unter anderem die eingeschränkte Manualisierbarkeit und Operationalisierbarkeit der Methode sowie die begrenzte Evidenzlage bei bestimmten Störungsbildern. Die TP ist nicht geeignet bei floriden Psychosen, akuter Suizidalität, schwerer struktureller Desintegration (z.B. Borderline-Störung mit hoher Impulsdurchbruchsgefahr) oder massiver Intelligenzminderung. In solchen Fällen sind andere Verfahren wie die dialektisch-behaviorale Therapie, die Verhaltenstherapie oder milieutherapeutische Ansätze indiziert.[4]
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 Wöller und Kruse. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. 7. Auflage. Schattauer Verlag. 2023
- ↑ 2,0 2,1 OPD-Task Force. Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-2. Hogrefe Verlag. 2023
- ↑ Grawe et al. Psychotherapie im Wandel: Von der Konfession zur Profession. Hogrefe. 1994
- ↑ Kircher (Hrsg.) Kompendium der Psychotherapie. Urban & Fischer. 2021