Valproinsäurevergiftung
Synonym: Valproinsäureintoxikation, Valproatvergiftung
Englisch: valproic acid intoxication, valproic acid poisoning
Definition
Eine Valproinsäurevergiftung ist eine akute oder chronische Vergiftung, die durch Aufnahme von Valproinsäure in hoher Dosierung entsteht.
Ursachen
Eine Valproinsäurevergiftung kann durch die orale Einnahme oder die parentererale Gabe des Arzneistoffs entstehen. Gründe sind zum Beispiel:
- Fehlerhafte Verordnung (z.B. Kombinationstherapie bei Kleinkindern im Alter unter zwei Jahren)
- Fehlerhafte Anwendung (Vergiftungsunfall)
- suizidale Handlungen
Betroffene Organsysteme
Von einer Schädigung durch Valproinsäure können folgende Organsysteme des menschlichen Körpers betroffen sein:[1]
Toxizität
Die Vergiftungssymptomatik wird wesentlich durch Metaboliten der Valproinsäure verursacht. Dazu zählen
- die neurotoxische 2-en-Valproinsäure, die nach Kopplung von Valproinsäure an L-Carnitin (Valproyl-Carnitin) durch mitochondriale Betaoxidation entsteht, und
- die hepatotoxische 4-en-Valproinsäure, die durch Omega-Oxidation im endoplasmatischen Retikulum und im Zytoplasma gebildet wird.
Außerdem entstehen Konjugationsprodukte mit Glucuronsäure und Glutathion. Insbesondere die Substrate Carnitin und Glutathion werden bei einer Vergiftung rasch verbraucht. Die Metabolisierung der Valproinsäure beeinträchtigt die mitochondriale Betaoxidation der mittel- und langkettigen Fettsäuren. Aus der Störung des Fettsäurestoffwechsels resultieren eine mikrovesikuläre Steatose sowie ödematöse Schwellungen und Nekrosen der Hepatozyten. Durch eine Hemmung der N-Acetylglutamatsynthetase (NAGS) und nachfolgend der Carbamoylphosphat-Synthetase I (CPSI) kommt es durch Störung des Harnstoffzyklus zur neurotoxisch wirkenden Hyperammonämie.[1][2]
Die kardiotoxische Wirkung der Valproinsäure führt zu Störungen der Repolarisation (Long-QT-Syndrom).
Nach einer akuten akzidentellen oder suizidalen Ingestion von mehr als 200 mg/kgKG besteht die Gefahr neurotoxischer Wirkungen. Bei mehr als 400 mg/kgKG kann es zu Koma, Atemdepression, Hirnödem und Kreislaufversagen kommen.[3]
Toxikokinetik
Durch die Retardierung vieler Valproinsäure-Präparate kann es bei einer Vergiftung im Magen-Darm-Trakt zur Bezoarbildung kommen, sodass sich die Vergiftungssymptomatik langsam entwickelt und durch Nachresorption verlängert. Wenn der Plasmaspiegel über 100 mg/L ansteigt, kommt es zur Sättigung der Bindungskapazität der Plasmaproteine und infolgedessen zum Anstieg des freien Anteils der Valproinsäure im Plasma. Aufgrund des enterohepatischen Kreislaufs von Valproinsäure kann sich Elimination verzögern. Die Eliminationshalbwertszeit kann bei Vergiftungen auf über 20 Stunden ansteigen.[1][3]
Symptome
Wird eine toxische Dosis Valproinsäure oral aufgenommen, können folgende Symptome auftreten[1][3]
- Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö
- Hepatotoxizität: Anstieg der Aminotransferasen, Hyperammonämie
- zentralnervöse Störungen: Somnolenz, Verwirrtheit, Agitiertheit, Ataxie, Nystagmus, Miosis, Diplopie, Dysarthrie, Tremor, Fieber, Krampfanfälle, Koma
- schwere metabolische Azidose mit pH < 7,10, Hypernatriämie, Hyperkaliämie, Hypokalzämie, Hypoglykämie
- kardiovaskuläre Störungen: Hypotonie, Herzrhythmusstörungen, Schock
- Tachypnoe, Atemdepression
Als Komplikationen und Folgeschäden einer schweren Vergiftung können innerhalb von einigen Tagen nach der Ingestion eintreten:[3]
- hämorrhagische Pankreatitis
- Optikusatrophie
- Hirnödem
- nichtkardiales Lungenödem
- Anurie
- Knochenmarkdepression: Thrombozytopenie, Makrozytose der Erythrozyten, Panzytopenie (selten)
Eine schwere Vergiftung führt ggf. zum Multiorganversagen.
Diagnostik
Es wird ein Monitoring der Vitalfunktionen, Elektrolyte, Aminotransferasen, Bilirubin, Lipase, Amylase, Gerinnungsstatus durchgeführt. Die Bestimmung der Ammoniakkonzentration im Plasma ist ätiologisch und prognostisch ein bedeutsamer Parameter. Differenzialdiagnostisch sollte bei Hyperammonämie und Enzephalopathie ein Reye-Syndrom abgegrenzt werden.
Zudem wird die Konzentration der Valproinsäure im Plasma bestimmt. Es besteht keine strenge Korrelation zwischen Schweregrad der Vergiftung und dem Valproinsäurespiegel.[1]
siehe auch: Valproinsäure - Therapeutisches Drug Monitoring
Therapie
Als erste therapeutische Maßnahme muss die Gabe von Valproinsäure unverzüglich beendet werden. Symptomatische Maßnahmen dienen der Sicherung der Vitalfunktionen. Zur Sedierung und bei Krampfanfällen können Benzodiazepine eingesetzt werden.
Besteht der Verdacht auf Bezoarbildung durch ein Retardpräparat, sollte eine endoskopische Entfernung mittels Ösophagogastroduodenoskopie erwogen werden. Zur primären Giftentfernung kann in der initialen Phase die Verabreichung von Aktivkohle unter Intubationsschutz angezeigt sein, wenn es möglich ist, einen 10-fachen Überschuss im Vergleich zur eingenommenen Valproinsäuredosis zu verabreichen. Kohlesuspension (25 bis 50 g pro Dosis) kann auch wiederholt in Abständen von 12 bis 24 Stunden über eine nasogastrale Sonde gegeben werden. Nach Ingestion einer vital bedrohlichen Dosis eines Retardpräparats sollte eine orthograde Darmspülung durchgeführt werden.[1]
Es existiert bisher (2024) kein spezifisch wirkendes Antidot. L-Carnitin[4], L-Arginin und NAC werden eingesetzt, um die Leberschädigung und die Hyperammoniämie zu begrenzen. Die Therapie sollte so lange fortgesetzt werden, bis es zur klinischen Besserung und/oder zur Senkung des Ammoniakspiegels kommt. Es gibt Fallberichte, bei denen durch Verabreichung von Naloxon eine Verbesserung der Vigilanz erreicht wurde.[1][3]
Um die Elimination von Valproinsäure zu beschleunigen, können bei einer schweren Vergiftung Maßnahmen der sekundären Giftentfernung (Hämodialyse mit High-Flux-Dialysatoren oder Hämoperfusion) erwogen werden, wenn der Plasmaspiegel 900 mg/L (6.250 μmol/L) übersteigt. Bei Spiegeln über 1.300 mg/L (9.000 μmol/L) und Hyperammoniämie werden diese Maßnahmen empfohlen und sollten so lange durchgeführt werden, bis der Spiegel auf 50 und 100 mg/L (350 – 700 μmol/L) abgefallen ist und sich die Vergiftungssymptomatik gebessert hat.[5]
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 Zilker TR. Klinische Toxikologie für die Intensivmedizin. 2. Aufl., UNI-MED-Verl 2023
- ↑ Gröber U. L-Carnitin und die mitochondriale Toxizität der Valproinsäure. DAZ 2011, abgerufen am 01.02.2024
- ↑ 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 Olson KR et al. Poisoning and Drug Overdose. 8th Ed., McGraw-Hill Education 2022
- ↑ Florian Eyer, Christian Rabe in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für klinische Toxikologie (GfKT). Antidotarium. Rote Liste, abgerufen am 02.02.2024
- ↑ Ghannoum M et al. Extracorporeal treatment for valproic acid poisoning: systematic review and recommendations from the EXTRIP workgroup. Clin Toxicol (Phila). 2015
Weblinks
- Rahman M, Awosika AO, Nguyen H. Valproic Acid. Updated 2023 Aug 17, abgerufen am 01.02.204
- Extrip Working Group. Valproic acid, abgerufen am 01.02.204
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