Amyotrophe Lateralsklerose
von altgriechisch: μῦς ("mys") - Muskel, τροφή ("trophḗ") - Nahrung
Synonyme: amyotrophische Lateralsklerose, myatrophe Lateralsklerose, Charcot-Syndrom, Lou-Gehrig-Syndrom, MAL
Englisch: amyotrophic lateral sclerosis
Definition
Die amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, ist eine chronisch-degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die mit einer Atrophie der Skelettmuskulatur und Pyramidenbahnzeichen einhergeht. Es werden mehrere Verlaufsformen unterschieden.
Epidemiologie
Die amyotrophe Lateralsklerose manifestiert sich üblicherweise in der zweiten Lebenshälfte und weist einen Häufigkeitsgipfel um das 7. Lebensjahrzehnt auf; Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Die Literatur gibt eine Inzidenz von 1 - 2 Fällen auf 100.000 Personen an, die Prävalenz liegt bei etwa 5:100.000.
Für die amyotrophe Lateralsklerose sind Endemiegebiete beschrieben, beispielsweise auf Guam im Westpazifik. Die Inzidenz für die Erkrankung ist hier bis zu fünfzigfach erhöht. Kausal ist vermutlich die von Cyanobakterien gebildete Aminosäure β-Methylamino-L-Alanin (BMAA).[1] Sie wird unter anderem durch den Verzehr von Flughunden aufgenommen.
Ätiologie
Die Ursachen der amyotrophen Lateralsklerose sind bis heute (2024) nicht vollständig geklärt. Eine typischerweise beobachtbare familiäre Häufung von Krankheitsfällen weist auf eine genetische Disposition hin. Ein Teil der Patienten weist Mutationen im Gen für TDP-43 oder SOD1 vor.
Es werden aber auch andere Faktoren wie Virus- oder Autoimmunerkrankungen diskutiert. Neuere Forschungen weisen darauf hin, dass Störungen der DNA-Reparatur ein wesentlicher Auslösefaktor der amyotrophen Lateralsklerose sind.[2]
In ca. 11% aller und ca. 40% der familiären ALS-Fälle wird eine Hexanukleotidexpansion (GGGGCC) im C9orf72-Gen beobachtet. Diese Mutation findet sich auch bei einigen Fällen frontotemporaler Demenz und sehr häufig bei einem Overlap von ALS und FTD.[3][4] Die Konsequenzen dieser Expansion sind derzeit (2024) noch unklar, wahrscheinlich existieren mehrere pathogene Effekte.
Pathophysiologie
Die Symptomatik der Erkrankung resultiert aus dem Zugrundegehen der Motoneurone des Rückenmarks, die wiederum auf eine Degeneration bestimmter Hirnareale zurückgeführt werden kann. Auch ein Schwund von Ganglienzellen in motorischen Hirnnervenkernen und dem medullären Vorderhorn lässt sich regelmäßig nachweisen. In diesen Neuronen ist das Auftreten von Bunina-Körpern typisch für eine ALS.
Durch die nervalen Degenerationen kommt es sekundär zu einer Atrophie der innervierten Muskulatur, besonders an den Extremitäten; die Symptome ähneln denen einer spinalen Atrophie. Ausfälle motorischer Hirnnerven führen zur Atrophie der Gesichtsmuskulatur und zu einer progressiven Bulbärparalyse (PBP).
Systematik
Bisher sind drei Formen der amyotrophen Lateralsklerose bekannt:
- Sporadische Form: Die sporadische amyotrophe Lateralsklerose tritt am häufigsten auf. Ihre Ursachen sind bis heute nicht verstanden.
- Familiäre Form: Die familiäre amyotrophe Lateralsklerose ist eine autosomal-dominante Erkrankung.
- Endemische Form: Eine massiv erhöhte Inzidenz der amytrophen Lateralsklerose in bestimmten Endemiegebieten ist beschrieben (siehe oben).
Symptomatik
Die amyotrophe Lateralsklerose manifestiert sich zuerst an den Akren durch unkontrollierte Faszikulationen und später schlaffe Lähmungen. Von den kleinen Hand- und Fußmuskeln schreitet die Erkankung nach proximal fort, wo sie die Muskelgruppen an Armen und Beinen atrophieren lässt. Neben den schlaffen Paralysen nehmen viele Patienten äußerst schmerzhafte Muskelkrämpfe wahr.
Die Atrophie der Gesichtsmuskulatur lässt das Gesicht ausdruckslos und eingefallen erscheinen. Schließlich manifestieren sich Lähmungen der Muskulatur an Zunge, Gaumen, Pharynx und Larynx (Symptomatik der Bulbärparalyse), die schließlich zum Tod durch Aspiration von Fremdkörpern oder Erstickung führen.
Sensibilität, Sensorik und Bewusstsein sind während des gesamten Krankheitsverlaufs voll erhalten. Im Verlauf kann es jedoch zur Entwicklung einer frontotemporalen Demenz kommen.[5]
Anmerkung: Eine Sonderform der amyotrophen Lateralsklerose führt zu spastischen Lähmungen besonders der Beine, Rigidität und positiven Pyramidenbahnzeichen. Sie wird als Erb-Sklerose bezeichnet.
Diagnostik
- Körperliche Untersuchung: Der erste Schritt zur Diagnose einer amyotrophen Lateralsklerose besteht in der körperlichen bzw. neurologischen Untersuchung. Können durch Beklopfen der Muskulatur oder durch Kältereize Faszikulationen ausgelöst werden, besteht ein weiter abzuklärender Krankheitsverdacht.
- Elektromyogramm: Im Elektromyogramm lässt sich üblicherweise eine pathologische Muskelaktivität, häufig kombiniert mit einer Verminderung motorischer Einheiten, nachweisen.
- Muskelbiopsie: Sie ermöglicht die Differenzierung zwischen neurogener und myogener Muskelatrophie.
- Bildgebung: Nachweis von Atrophien in Gehirn und Rückenmark durch CT oder MRT
- Labordiagnostik: Nachweis von Neurofilament light (NFL) im Liquor oder im Blut. Der NFL-Spiegel ist bei ALS signifikant erhöht. Die Höhe des Serumspiegels ermöglicht eine Prognoseabschätzung.[6][7]
Differentialdiagnosen
Therapie
Zur Zeit (2024) existiert keine ursächliche Therapie für die amyotrophe Lateralsklerose. Neben einer physiotherapeutischen Betreuung wird gegen die Lähmungen Pyridostigmin gegeben. Auch das TRH hat einen positiven Effekt auf die Symptomatik der amyotrophen Lateralsklerose.
Der seit 1996 zugelassene Glutamat-Antagonist Riluzol ermöglicht die Verzögerung des Fortschreitens der Krankheit. Ggf. kann Riluzol mit dem Anti-Parkinsonmittel Rasagilin kombiniert werden.[8] Einen starken Einfluss auf die Mortalität haben die verfügbaren Wirkstoffe nicht.
Der Arzneistoff Edaravon (3-Methyl-1-phenyl-5-pyrazolon) soll ebenso wie Riluzol zu einer leichten Verzögerung des Krankheitsprozesses führen (wenige Monate). Der Wirkmechanismus ist bisher (2023) unbekannt. Edaravon ist nur in Japan, der Schweiz und den USA zugelassen.
Die 2022 in den USA vorläufig zugelassene Kombination aus Natriumphenylbutyrat und Ursodoxicoltaurin (AMX0035, Relyvrio®) konnte in einer 2024 beendeten Phase-3-Studie keine ausreichende Wirksamkeit nachweisen.
Bei progressiven Formen der amyotrophen Lateralsklerose müssen eine invasive Unterstützung der Atmung sowie eine Sondenernährung zur Aspirationsprophylaxe vorgenommen werden.
In Tierversuchen führte das Antibiotikum Minocyclin zu einer deutlichen Lebensverlängerung erkrankter Tiere. Die Anwendung des Präparats bei ALS-Patienten zeigte jedoch in einer Studie eine destruktive und krankheitsbeschleunigende Wirkung.[9]
Symptomatische Therapie
Weil eine kurative Therapie zur Zeit nicht möglich ist, kommt der symptomatischen Therapie eine sehr wichtige Rolle zu. Nach der Bildung der bulbären Symptomatik ist für die meisten Patienten die Hypersalivation das größte Problem. Der Patient kann den Speichel nicht mehr richtig schlucken und verschluckt sich dauernd. Hier kommen anticholinerg wirksame Medikamente wie Amitriptylin, Scopolamin oder Methionin zum Einsatz, deren "Nebenwirkungen" man nutzt, um die Hypersalivation zu vermindern. Ersatzweise bietet sich eine Injektion von Botox in die Speicheldrüsen an.
Eine Bestrahlung der Speicheldrüsen kann versucht werden, wenn die pharmakologische Behandlung keine Erfolge erzielt.
Bei Angst und Unruhezuständen werden schnell wirksame Benzodiazepine eingesetzt. Dazu eignet sich sublingual und buccal applizierbares Lorazepam, da die Patienten im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr schlucken können. Es können aber auch Diazepam-Tropfen über die PEG gegeben werden.
Wichtiger Bestandteil der Therapie ist die psychologische, vor allem neuropsychologische und psychotherapeutische Betreuung der Patienten, die das Fortschreiten bei vollem Bewusstsein erleben. Die Psychotherapie kann zur Stärkung des Lebenswillens beitragen und ermöglicht dem Patienten einen besseren Umgang mit der Krankheit.
Bei der bulbären Verlaufsform kann eine Logopädie Symptome wie Schluckstörungen oder Bisse in die Zunge bzw. Wangen mildern und hilft bei der Sprechstörung.
In der terminalen Krankheitsphase ist die Angst zu ersticken eines der größten Probleme. Ihr wird mit niedrig dosierten Opiaten wie Morphin begegnet. Opiate wirken anxiolytisch und unterdrücken das Atemzentrum in Medulla oblongata. Dadurch wird der zentrale Sollwert für Sauerstoff heruntergesetzt und die Patienten kommen subjektiv mit weniger Sauerstoff aus.
Stammzelltherapie
Ein weiterer Behandlungsansatz ist die Stammzelltherapie. Dabei werden autologe Stammzellen eingesetzt, die dem Patienten entweder aus dem Knochenmark oder dem Blut entnommen, gezüchtet und dann in geschädigte Areale des Großhirns und des Rückenmarks eingepflanzt werden. Die aktuelle Studienlage berichtet bei einigen Patienten vom Stillstand der Progression und von einer subjektiven Lebensqualitätsverbesserung. Eine abschließende Beurteilung ist zur Zeit (2024) nicht möglich, da die Datenlage ungenügend ist. Diese Form der Therapie ist in Deutschland nicht zugelassen.
Gen-Silencing
Tofersen ist ein Antisense-Oligonukleotid, das im April 2023 von der FDA eine beschleunigte Zulassung erhalten hat. Durch Bindung an die SOD1-mRNA bewirkt Tofersen den Abbau der SOD1-mRNA und supprimiert dadurch die SOD1-Proteinsynthese. Es kommt zu einer Verringerung der Neurofilament-Leichtketten im Plasma der behandelten Patienten.[10]
Prognose
Die amyotrophe Lateralsklerose führt üblicherweise innerhalb weniger Jahre zum Tod durch eine respiratorische Insuffizienz, die zu einer Hypoxämie und Hyperkapnie führt. Durch die verminderte Lungenbelüftung treten häufig Pneumonien auf, die den Zustand des Patienten akut verschlechtern können.
Die mittlere Überlebensdauer nach Diagnosestellung beträgt 3 Jahre, es sind aber auch Fälle mit einem deutlich längeren Überleben geschildert. Das bekannteste Beispiel hierzu ist sicherlich der Astrophysiker Stephen Hawking, der seit seiner Diagnosestellung 1963 über fünfzig Jahre überlebte und erst im Jahr 2018 verstarb.
Leitlinien
- S1-Leitlinie Amyotrophe Lateralsklerose der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, AWMF online (Stand 2008)
Quellen
- ↑ Bishop SL, Murch SJ (2020) A systematic review of analytical methods for the detection and quantification of β- N -methylamino- l -alanine (BMAA). Analyst 145:13–28.
- ↑ ALS: Dresdner Grundlagenforscher entdecken neuen Krankheitsmechanismus bei Amyotropher Lateralsklerose
- ↑ DeJesus-Hernandez et al. Expanded GGGGCC hexanucleotide repeat in noncoding region of C9ORF72 causes chromosome 9p-linked FTD and ALS. Neuron, 2011.
- ↑ Smeyers, Banchi, Latouche. C9ORF72: What It Is, What It Does, and Why It Matters. Frontiers in Cellular Neuroscience, 2021.
- ↑ Mattle und Fischer. Kurzlehrbuch Neurologie. 5., überarbeitete Auflage. Thieme Verlag Stuttgart, 2021.
- ↑ Ching-Hua Lu et al.: Neurofilament light chain. A prognostic biomarker in amyotrophic lateral sclerosis Neurology. 2015 Jun 2; 84(22): 2247–2257. doi: [10.1212/WNL.0000000000001642] PMCID: PMC4456658 PMID: 25934855
- ↑ Verde F, Steinacker P, Weishaupt JH, et al.: Neurofilament light chain in serum for the diagnosis of amyotrophic lateral sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry Published Online First: 11 October 2018. doi: 10.1136/jnnp-2018-318704
- ↑ Ludolph AC et al.: Safety and efficacy of rasagiline as an add-on therapy to riluzole in patients with amyotrophic lateral sclerosis: a randomised, double-blind, parallel-group, placebo-controlled, phase 2 trial. Lancet Neurol. 2018 Aug;17(8):681-688. doi: 10.1016/S1474-4422(18)30176-5. Epub 2018 Jun 19.
- ↑ Gordon et al. Efficacy of minocycline in patients with amyotrophic lateral sclerosis: a phase III randomised trial. Lancet Neurol; 2007
- ↑ Full prescribing Information Qalsody, FDA, abgerufen am 27.04.2023