Tinnitus aurium
von lateinisch: tinnere - klingeln
Synonyme: Tinnitus, Enechema, Susurrus aurium, Ohrensausen, Ohrgeräusch, Ohrenklingeln
Englisch: tinnitus
Definition
Als Tinnitus aurium bezeichnet man Geräuscheindrücke, die nicht durch ein Schallereignis ausgelöst werden. Akustische Halluzinationen oder Hören von Stimmen zählen nicht dazu.
Einteilung
...nach Objektivierbarkeit des Befunds
Grundsätzlich erfolgt die Unterscheidung nach der Wahrnehmbarkeit:
- Objektiver Tinnitus: Der Patient hört Schallaussendungen einer körpereignen physikalischen Schallquelle im Ohr bzw. in der Nähe des Ohres
- Subjektiver Tinnitus: Es liegt weder eine externe noch eine körpereigene Schallquelle vor. Der Tinnitus entsteht durch abnormale Aktivität im Innenohr und/oder im Zentralnervensystem (ZNS).
Für beide Formen gibt es unterschiedliche Ursachen.
...nach Verlaufsdauer
Es werden nach ihrer Verlaufsdauer verschiedene Formen des Tinnitus aurium unterschieden:
- akutes Ohrgeräusch (bis 3 Monate nach Auftreten)
- chronisches Ohrgeräusch (ab 3 Monaten).
Diese Einteilung basiert auf klinischen Erfahrungswerten und teilweise auf unterschiedlichen pathophysiologischen Abläufen, wobei die Übergänge fließend sind. Bei der chronischen Form spielen neurophysiologische Lernprozesse, kognitive Sensibilisierungen und neuroplastische Prozesse eine größere Rolle.
Die Einteilung nach Verlaufsdauer ist auch prognostisch relevant: Akute Ohrgeräusche zeigen in der Regel häufiger eine Spontanheilung oder Besserung als ein Tinnitus mit chronischem Verlauf. Die Bezeichnung "subakutes Ohrgeräusch" wird in der aktuellen Leitlinie nicht mehr verwendet.
...nach Begleitbefund
- Tinnitus mit Hörstörung (z.B. Schwerhörigkeit, Hyperakusis)
- Tinnitus ohne Hörstörung
...nach Schweregrad
Die Einteilung des Tinnitus anhand des Schweregrades berücksichtigt primär die Auswirkungen des Ohrgeräusches im beruflichen und privaten Bereich. Man unterscheidet:
- kompensierter Tinnitus: Der Patient kann mit dem Ohrgeräusch umgehen, sodass kein oder ein nur geringer Leidensdruck besteht. Die Lebensqualität ist nicht wesentlich beeinträchtigt.
- dekompensierter Tinnitus: Auswirkungen auf private und berufliche Lebensbereiche. Führt zur Entwicklung oder Verschlimmerung einer Komorbidität. Hoher Leidensdruck und wesentliche Beeinträchtigung der Lebensqualität.
Ätiologie
Als Ursachen des symptomatischen ("otogenen") Tinnitus kommen Hörbeeinträchtigungen, Lärmschäden, Morbus Menière, Akustikusneurinom und andere organische Erkrankungen in Betracht. Auch der Hörsturz ist oft von einem Tinnitus begleitet. Probleme mit der Halswirbelsäule (HWS) oder im Zahn-Kiefer-Bereich können auslösende oder verstärkende Ursachen eines somatischen Tinnitus sein.
Eine weitere mögliche Ursache sind ototoxische Medikamente, die den Vestibularapparat und die Cochlea schädigen, z.B. Aminoglykoside, bestimmte Zytostatika oder Schleifendiuretika.
Neben medizinischen Ursachen vermuten die Hälfte aller Betroffenen Lärm und Stress als Auslöser eines psychogenen Tinnitus.
Symptomatik
Die Geräuscheindrücke bei einem Tinnitus sind interindividuell sehr vielfältig und können unter anderem folgenden Charakter haben:
- Brummen
- Klingeln
- Pfeifen
- Zischen
- Rauschen
- Knacken
Die Störung kann dabei eine konstante Intensität besitzen oder einen rhythmischen bzw. pulsierenden Charakter haben. Den Patienten gelingt es nicht immer, ihre subjektiven Wahrnehmungen mit einem realen Geräusch zu verbinden.
Komorbiditäten
Im Zusammenhang mit einem Tinnitus finden sich gehäuft psychiatrische Komorbiditäten, insbesondere Angststörungen, Depressionen und Schlafstörungen. Diese stellen zusätzlich einen Risikofaktor für die Tinnitusentstehung dar und können diesen verstärken.
Diagnostik
Anamnese
Die Anamnese stellt die Grundlage der Tinnitus-Diagnostik dar und ermöglicht eine Einschätzung des Schweregrades sowie der Komorbiditäten. Wichtige Aspekte sind:
- Lokalisation: rechts, links, beidseits, "im Kopf"
- Pulsierendes Ohrgeräusch?
- Verlauf: Plötzlicher Beginn? Schwankende Lautstärke? Unterbrechungen?
- Maskierung durch Umgebungsgeräusche?
- Begleitende Hörstörung oder Gleichgewichtsstörungen?
- Beeinflussung durch bestimmte Kopf- oder Kieferhaltungen?
- Medikamentenanamnese
- Vorerkrankungen
Weitere Diagnostik
Folgende HNO-ärztliche Untersuchungen sollten durchgeführt werden:
- Trommelfellmikroskopie, Nasopharyngoskopie, Prüfung der Tubendurchgängigkeit
- Auskultation des Ohres und der Arteria carotis (v.a. bei pulssynchronem Tinnitus)
- Tonaudiometrie
- Messung der Unbehaglichkeitsschwelle
- Bestimmung von Tinnituslautheit und Frequenzcharakteristik mittels Schmalbandrauschen und Sinustönen
- Tinnitus-Masking (Verdeckungskurve, minimaler Maskierungspegel)
- Tympanometrie und Stapediusreflexe
- Evozierte otoakustische Emissionen: TEOAE, DPOAE
- orientierende Vestibularisprüfung (ggf. incl. kalorischer Prüfung)
- orientierende funktionelle Untersuchung der Halswirbelsäule und des Kauapparates
- orientierende neurologische Untersuchung
Individuell kommen noch folgende diagnostische Methoden in Frage:
- psychosomatische und psychiatrische Diagnostik
- Hirnstammaudiometrie (BERA) zum Screening auf retrocochleäre Schäden v.a. bei asymmetrischem Hörverlust unklarer Ursache oder bei Einschränkung der vestibulären Funktion oder ungeklärter Abwesenheit der Stapediusreflexe
- Sprachaudiometrie bei V.a. Schwerhörigkeit mit Indikation zur Hörgeräteversorgung
- Zahnärztliche und orthopädische Untersuchung: Bei Hinweisen auf Störungen des Kauapparates bzw. der Wirbelsäule (z.B. kraniomandibuläre Dysfunktion)
- Bildgebung:
- Dopplersonographie der hirnversorgenden Arterien
- Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule
- HR-CT der Felsenbeine: zum Nachweis von Knochendestruktionen, entzündlichen Veränderungen oder Missbildungen
- Schädel-MRT mit Kontrastmittel und feinschichtiger CISS-Sequenz des Kleinhirnbrückenwinkels: bei unklarer einseitiger Taubheit oder auffälliger BERA (zum Ausschluss eines Akustikusneurinoms) sowie bei Verdacht auf eine zentrale Schwerhörigkeit
- CT- oder MR-Angiographie des zerebrovaskulären Systems bei pulssynchronem Tinnitus
- Labor:
- Infektionsserologie: Borreliose, HIV, Lues
- Immunpathologie: Immunglobuline, Rheumafaktoren, gewebsspezifische Autoantikörper
- Liquordiagnostik: Bei Hinweis auf entzündlichen ZNS-Prozess
- Stoffwechsel: z.B. Blutzucker, Lipoproteine, Leberenzyme, Schilddrüsenhormone
- Blutbild
- Mastzellaktivierungssyndrom
- internistische Untersuchung: bei Auffälligkeiten in der Labordiagnostik bzw. bei sonstigem Verdacht auf eine Herz-Kreislauf- oder Stoffwechselkrankheit oder eine rheumatische Erkrankung.
- weitergehende neurologische Untersuchung: z.B. bei V.a. Normaldruckhydrozephalus, Migräne, Pseudotumor cerebri, Sinusvenenthrombose
Differentialdiagnosen
- akustische Halluzinationen
- Hören von Stimmen
Therapie
Die Behandlung des Tinnitus richtet sich nach der Ursache und nach der Dauer und Schwere der Erkrankung.
Akuter Tinnitus
Beim akuten Tinnitus werden durchblutungsfördernde Maßnahmen (beispielsweise die rheologische Therapie), Kortikoidtherapie und ionotrope Therapien durchgeführt. Beide sind hinsichtlich ihrer Wirksamkeit umstritten, da keine beweiskräftigen Studien existieren. Das trifft in höherem Grad für Nahrungsergänzungsmittel, Antioxidantien oder Phantasiearzneimittel ("Hörpille") zu. Für die Wirksamkeit von Glutamatantagonisten besteht eine schwache Evidenz.
Chronischer Tinnitus
Basistherapie
Entscheidend beim chronischen Tinnitus ist das sogenannte Counseling, d.h. eine ausführliche Beratung des Patienten hinsichtlich der Ätiopathogenese, der persönlichen Verarbeitung, der Prognose sowie tinnitusverstärkender Faktoren. Eine zusätzliche Beratungsfunktion übernehmen Selbsthilfegruppen (z.B. die Tinnitusliga).
Bei gleichzeitig nachweisbarem Hörverlust kann eine Audiotherapie wirksam sein. Hörgeräte oder Cochleaimplantate nur aufgrund der Indikation Tinnitus werden aber nicht empfohlen. Die Evidenzlage für Rauschgeneratoren, die den Tinnitus überdecken (Masking), sogenannte Noiser, ist schwach. Auch die Kombination aus Counseling und frequenzunmoduliertem Rauschen mittels Noiser als sogenannte Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) wird nicht empfohlen.
Weiterhin denkbar - aber ebenfalls schwach belegt - sind manualmedizinische oder physiotherapeutische Behandlungen der HWS sowie zahnärztliche bzw. kieferorthopädische Therapien.
Kognitive Verhaltenstherapie
Eine spezifische kognitive Verhaltenstherapie kann bei chronischem Tinnitus die Lebensqualität nachweislich verbessern. Sie soll dazu führen, dass dem Ohrgeräusch weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, Ängste abgebaut werden und der Patient somit Bewältigungsstrategien erlernt.
Medikamentöse Therapie
Eine spezifische medikamentöse Therapie mit nachgewiesener Wirksamkeit zur Behandlung eines chronischen Tinnitus steht derzeit (2021) nicht zur Verfügung. Keine Wirksamkeit weisen z.B. Ginkgo biloba, intratympanale Glukokortikoide, Glutamatantagonisten (z.B. Memantin), Melatonin, Gabapentin oder Zink auf.
Weitere Therapien
- elektromagnetische Stimulationsverfahren
- repetitive transkranielle Magnetstimulation, transkranielle Gleichstromstimulation: zumindest kurzzeitige Behandlungseffekte nachweisbar, weitere Studien sind jedoch notwendig.
- experimentelle Verfahren: transkutane Elektrostimulation im Bereich des Ohres oder der HWS, Vagusnervstimulation
- Musiktherapie: weitere Studien notwendig
- akustische Neuromodulation: keine Evidenz
- Hyperbare Sauerstoffbehandlung: Nutzen nicht belegt
- Akupunktur: Wirksamkeit nicht belegt
Prophylaxe
Um einem otogenen Tinnitus z.B. im Rahmen einer Lärmschwerhörigkeit vorzubeugen, sollten geeignete Maßnahmen zum Lärmschutz getroffen werden (Tinnitus-Prophylaxe).
Leitlinie
- S3-Leitlinie chronischer Tinnitus, Stand 2021, abgerufen Sept. 2024
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