Myeloproliferative Neoplasie
Synonyme: myeloproliferative Erkrankung, MPE, chronische myeloproliferative Erkrankung, CMPE, myeloproliferatives Syndrom (veraltet)
Englisch: myeloproliferative neoplasm, myeloproliferative disease
Definition
Unter myeloproliferativen Neoplasien, kurz MPN, versteht man eine Gruppe von malignen hämatologischen Erkrankungen, die durch klonale Proliferation einer myeloischen Stammzelle im Knochenmark entstehen.
Hintergrund
Allen MPN ist Folgendes gemeinsam:
- Ursprung in einer hämatopoetischen Stammzelle
- Überproduktion von Blutzellen ohne wesentliche Dysplasien; je nach betroffener Differenzierungsstufe proliferieren eine oder mehrere hämatopoetische Zellreihen.
- Entwicklung einer extramedullären Hämatopoese und Myelofibrose (in unterschiedlichem Ausmaß)
- Transformation in eine akute Leukämie (in unterschiedlichem Ausmaß)
Klassifikation
Die aktuelle WHO-Klassifikation von 2022 (Stand 2025) umfasst sieben myeloproliferative Neoplasien.[1] Im Vergleich zur vorherigen Version von 2016 (WHO-HAEM4R) wurden zahlreiche Änderungen vorgenommen. Dazu zählen insbesondere:
- Die Entität "chronische myeloische Leukämie (CML)" wird nun ohne den Zusatz "BCR::ABL1-positiv" geführt, obwohl der Nachweis des BCR::ABL1-Fusionsgens weiterhin diagnostisch essenziell ist.
- Der Begriff "Myeloproliferative Neoplasie, nicht näher klassifizierbar (MPN-NOS)" wurde präzisiert und wird nun als "MPN, unclassifiable (MPN-U)" bezeichnet.
- Die präfibrotische Phase der primären Myelofibrose (PMF) wird klar als eigenständige frühe Verlaufsform der Erkrankung benannt und diagnostisch besser abgegrenzt.
- Die neue Klassifikation folgt einem hierarchischen System (Kategorie -> Familie -> Entität -> Subtyp) und legt deutlich mehr Gewicht auf molekulargenetische Marker.
- Frühformen wie die klonale Hämatopoese unbestimmten Potenzials (CHIP) und verwandte Vorläuferzustände wurden in einer eigenen Kategorie "Myeloische Vorläuferläsionen" ("myeloid precursor lesions") eingeordnet.
- Die akzelerierte Phase der CML wird in der nicht mehr als separate diagnostische Phase definiert.
| Entität | ICD-10-Code |
|---|---|
| Chronische myeloische Leukämie (CML) | C92.1 |
| Polycythaemia vera (PV) | D45 |
| Essentielle Thrombozythämie (ET) | D47.3 |
| Primäre Myelofibrose (PMF), inkl. präfibrotischer Phase | D47.4 |
| Chronische Neutrophilenleukämie (CNL) | C92.7 |
| Chronische eosinophile Leukämie, nicht anderweitig klassifizierbar (CEL-NOS) | D47.5 |
| Unklassifizierbare myeloproliferative Neoplasien (MPN-U) | C94.6 |
Einige myeloproliferative Neoplasien (z.B. CML, CNL, CEL) weisen primär einen ausgeprägten myeloischen Phänotyp auf. Bei anderen Erkrankungen wie PV, ET und PMF dominiert hingegen die Ausreifung in Richtung Erythropoese bzw. Megakaryopoese. Zwischen diesen Entitäten können Übergänge und Überlappungen auftreten, etwa im Verlauf einer PV oder ET hin zur sekundären Myelofibrose (Post-PV-/Post-ET-Myelofibrose), was diagnostisch und therapeutisch berücksichtigt werden muss.
siehe auch: Post-PV-Myelofibrose, Post-ET-Myelofibrose
Abgrenzung
Im Gegensatz zu MPN liegt bei der akuten myeloischen Leukämie (AML) nach WHO-Definition ein Blastenanteil von mindestens 20 % im Knochenmark oder peripheren Blut vor.
Die Abgrenzung zu einem myelodysplastischen Syndrom (MDS) ist komplex: MDS ist durch eine klonale Ausreifungsstörung der Hämatopoese mit Zytopenien und Dysplasien in einer oder mehreren Zellreihen gekennzeichnet. Bei MPN hingegen steht die klonale Proliferation einer oder mehrerer Zelllinien im Vordergrund, meist ohne signifikante Dysplasien. Die Übergänge zwischen MPN und MDS sind jedoch fließend, was sich in den sogenannten MDS/MPN-Überlappungssyndromen zeigt. Diese Erkrankungen weisen sowohl dysplastische als auch proliferative Merkmale auf. Hierzu zählen gemäß WHO-Klassifikation 2022:
Ätiopathogenese
Die genauen Auslöser für MPN sind aktuell (2025) noch unbekannt. Man vermutet, dass ionisierende Strahlung und chemische Noxen (z.B. Benzol, Alkylanzien) die Entstehung begünstigen können, in den meisten Fällen ist jedoch keine spezifische Ursache erkennbar.
Bei myeloproliferativen Neoplasien ist das Alter ein bedeutender Risikofaktor. Ab einem Alter von etwa 70 Jahren nimmt die klonale Hämatopoese zu. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer klonalen Hämatopoese unbestimmten Potenzials ("clonal hematopoiesis of indeterminate potential", kurz CHIP). Das Risiko dieser Personen, an einer MPN oder verwandten myeloischen Neoplasie zu erkranken, ist etwa zehnfach erhöht.[2]
Bei einer MPN finden sich in den meisten Fällen charakteristische klonale Chromosomenaberrationen oder Treibermutationen. Vermutlich entsteht die MPN jedoch nicht auf Basis eines einzelnen Defekts, sondern durch einen mehrschrittigen Prozess. Zu den häufigsten DNA-Veränderungen gehören:
- Philadelphia-Chromosom: Die CML ist fast immer Folge einer Translokation zwischen den Chromosomen 9 und 22, die zum Fusionsgen BCR-ABL führt, das für eine konstitutiv aktive Tyrosinkinase kodiert.
- JAK2-Mutationen (vor allem JAK2-V617F-Mutation): JAK2 kodiert für die JAK2-Tyrosinkinase
- ca. 97 % der PV-Fälle
- ca. 50–60 % der ET- und PMF-Fälle
- CALR-Mutationen: CALR kodiert für Calreticulin
- bei ca. 20–25 % der Fälle von ET
- bei ca. 25–35 % der Fälle von PMF
- MPL-Mutationen (v.a. W515-Mutation): MPL kodiert für den Thrombopoietin-Rezeptor
- ca. 1–4 % der Fälle von ET
- ca. 5–10 % der Fälle von PMF
- CSF3R-Mutationen: bei CNL
- Weitere Mutationen z.B. in TET2, ASXL1, EZH2, DNMT3A, RUNX1, SF3B1
Symptome
Häufige Symptome von MPN sind:
- B-Symptomatik (Gewichtsverlust, Fieber, Nachtschweiß)
- Leistungsminderung und Fatigue
- Thromboembolien, z.B. Schlaganfall, Myokardinfarkt, Pfortaderthrombose
- Blutungen durch Thrombozytopathie: Petechien bis hin zu schweren Hämorrhagien
- Splenomegalie mit Druck- oder Völlegefühl im Oberbauch
- Pruritus, v.a. bei PV
Der Krankheitsverlauf ist typischerweise chronisch progredient. Im Verlauf kann es zu einer Transformation in ein myelodysplastisches Syndrom (v. a. bei PV, ET), in eine Blastenkrise (v. a. bei CML, seltener CNL) oder in eine akute myeloische Leukämie (v. a. bei PMF, PV, ET) kommen.
Diagnostik
Eine sichere Differenzierung der jeweiligen Entitäten ist wichtig für die Therapie. Sie ist allerdings in frühen Krankheitsstadien schwierig und eine eindeutige Zuordnung oft nicht möglich. Insbesondere zu Beginn kann eine anhaltende Thrombozytose bei allen Erkrankungen die Differenzialdiagnostik erschweren. Durch hämatologische, molekulargenetische, zytologische und histologische Untersuchungen kann die richtige Einordnung gelingen.
Anamnese
Anamnestisch sollte auf Vorliegen oben genannter Symptome geachtet werden.
Körperliche Untersuchung
Aufgrund einer Verdrängung der normalen Hämatopoese im Knochenmark kann es zur extramedullären Blutbildung kommen. Diese kann sich in der körperlichen Untersuchung als Splenomegalie und/oder Hepatomegalie manifestieren.
Labor
- Leukozytose (ggf. Neutrophilie, Eosinophilie, Basophilie)
- Erythrozytose
- Thrombozytose
V.a. im Initialstadium können alle Zellreihen gleichzeitig erhöht sein. Bei Vorliegen einer Myelofibrose kann es zur Panzytopenie kommen.
Molekulargenetik
- PCR-Test zum Nachweis des BCR-ABL1-Fusionsgens (bei Verdacht auf CML)
- Testung auf JAK2-V617F-Mutation
- Falls negativ: Test auf CALR-Mutation, MPL-W515-Mutation
- Falls erneut negativ: Test auf CSF3R-T618I-Mutation (bei Verdacht auf CNL) oder erweiterte Analyse mittels NGS
Knochenmarkuntersuchung
Eine Knochenmarkpunktion ist obligat, insbesondere zur Differenzierung zwischen ET und präfibrotischer PMF sowie zwischen JAK2-positiver ET und PV.
- PV: Pleomorphe Megakaryozyten ohne Reifungsstörung
- ET: Vergrößerte Megakaryozyten ohne Reifungsstörung
- PMF: Cluster reifungsgestörter Megakaryozyten mit hypolobulierten, hyperchromatischen Zellkernen
- Retikulinfärbung zur Graduierung der Fibrose (MF-0 bis MF-3 nach WHO)
Therapie
Die Therapie richtet sich nach Entität, Risikostratifikation, molekularem Profil und Symptomatik. In den meisten Fällen ist sie palliativ ausgerichtet. Eine allogene Stammzelltransplantation stellt die einzige kurative Option dar und wird bei ausgewählten Hochrisikopatienten erwogen.
Polycythaemia vera (PV)
- Aderlass zur Kontrolle des Hämatokrits
- ASS zur Thromboseprophylaxe
- Hydroxyurea bei Hochrisikopatienten
- Interferon-alpha, insbesondere bei jüngeren Patienten und in der Schwangerschaft
- Ruxolitinib bei unzureichendem Ansprechen oder Intoleranz gegenüber Hydroxyurea
Essentielle Thrombozythämie (ET)
- ASS bei niedrigem Risiko
- Hydroxyurea oder Anagrelid bei Hochrisikopatienten
- Interferon-alpha bei jüngeren Patienten
Primäre Myelofibrose (PMF)
- Ruxolitinib, Fedratinib oder Momelotinib zur Symptomkontrolle und Reduktion der Splenomegalie
- Allogene Stammzelltransplantation bei Hochrisikokonstellation (z.B. nach DIPSS-Stratifizierung)
Chronische myeloische Leukämie (CML)
Therapieziel ist die tiefe molekulare Remission (z.B. MR4.5). Bei stabiler Remission unter kontrollierten Bedingungen kann ggf. eine Therapiepause erwogen werden. Da TKI und JAK-Inhibitoren jedoch nicht auf Stammzellebene wirken, ist ein Rezidiv nach Therapieabbruch häufig. Eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung ist daher essenziell.
Literatur
- Lengfelder A, Grießhammer M, Petrides PE Onkopedia Leitlinie, Stand 07.2018, abgerufen am 27.08.2019
Quellen
- ↑ Loghavi et al., Fifth Edition of the World Health Classification of Tumors of the Hematopoietic and Lymphoid Tissue: Myeloid Neoplasms, Mod Pathol, 2024
- ↑ Schäfer et al., Thrombotic, Cardiovascular, and Microvascular Complications of Myeloproliferative Neoplasms and Clonal Hematopoiesis (CHIP): A Narrative Review, J. Clin. Med., 2024.