Polyglobulie
von altgriechisch: πολύ ("poly") - viel und lateinisch: globulus - Kügelchen
Synonyme: Polyzythämie, Erythrozytose
Englisch: hyperglobulia, hyperglobulism, erythrocyth(a)emia, polycyth(a)emia
Definition
Eine Polyglobulie ist eine Erhöhung der Zahl der roten Blutkörperchen (Erythrozyten) über den physiologischen Normwert. Sie macht sich labordiagnostisch durch einen erhöhten Hämatokrit bemerkbar.
Formen
Einer Polyglobulie können verschiedene Ursachen zugrunde liegen. Dementsprechend unterscheidet man verschiedene Formen:
- relative Polyglobulie (Pseudopolyglobulie)
- absolute Polyglobulie
- primäre Polyglobulie
- sekundäre Polyglobulie
Relative Polyglobulie
Die relative Polyglobulie wird auch Pseudopolyglobulie genannt. Durch hohe Flüssigkeitsverluste nach lang andauerndem Erbrechen oder massiven Diarrhoen ändert sich das Zell-Plasma-Verhältnis. Labordiagnostisch zeigt sich das Bild einer Polyglobulie, das jedoch nur vorgetäuscht ist, da in Wirklichkeit ein Flüssigkeitsmangel und damit eine Dehydratation vorliegt.
Bei Neugeborenen ist häufig ein erhöhter Hämatokrit zu beobachten, der in den meisten Fällen keine klinische Relevanz hat. Sowohl eine hohe Zellzahl als auch eine leichte Dehydratation sind in den ersten Lebenstagen physiologisch. Erst ab einem Hämoglobinwert > 22 mg/dl und einem Hämatokritwert > 65 % handelt es sich bei Neugeborenen um eine absolute Polyglobulie.
Absolute Polyglobulie
Primäre Polyglobulie
Die primäre Polyglobulie entspricht meist dem Krankheitsbild der Polycythaemia vera. Sie entsteht durch die maligne Transformation und klonale Expansion hämatopoetischer Stammzellen der Erythropoese.
Darüber hinaus gibt es seltene, benigne Polyzythämien, die durch Mutationen des Gens für den Erythropoetin-Rezeptor bedingt sind. Dazu zählt die primäre familiäre Polyzythämie (PFP, PFCP).
Weitere mögliche Ursachen einer primären Polyglobulie sind
- Hochaffines Hämoglobin
- Mangel an 2,3-Diphosphoglycerat
Sekundäre Polyglobulie
Die sekundäre Polyglobulie ist meist die Folge einer gesteigerten hormonellen Stimulation der Erythropoese durch
- erhöhte Erythropoetin-Spiegel oder
- erhöhte Cortisol-Spiegel.
Darüber hinaus kann sie iatrogen durch Infusion von Erythrozytenkonzentraten ausgelöst werden, z.B. im Rahmen der illegalen Infusion von Erythrozytenkonzentraten zur Leistungssteigerung im Wettkampfsport.
Erhöhte Erythropoetin-Spiegel
Reaktive bzw. kompensatorische Polyglobulie
Die Erythropoetin-Sekretion kann als physiologische Antwort des Organismus auf einen Sauerstoffmangel im Blut (Hypoxämie) erhöht sein. In diesem Falle spricht man von einer reaktiven oder kompensatorischen Polyglobulie. Ursachen der Hypoxämie können sein:
- Höhenaufenthalte > 4.000 m
- Herzerkrankungen
- Lungenerkrankungen mit Ventilationsstörungen
- Lungenemphysem (Typ Blue Bloater)
- obstruktive Lungenerkrankungen (Asthma bronchiale)
- restriktive Lungenerkrankungen
- Hämoglobinopathien (z.B. Methämoglobinämie, Carboxyhämoglobinämie bei Rauchern)
- Zentrale Hypoventilation (Pickwick-Syndrom)
Weiterhin kann die Erythropoetin-Sekretion pathologisch erhöht sein, ohne dass eine Hypoxämie vorliegt. Gemäß der infrage kommenden Ursachen werden die daraus resultierenden Polyglobulien weiter unterschieden:
- nephrogene Polyglobulie
- paraneoplastische Polyglobulie
Nephrogene Polyglobulie
Ursache der nephrogenen Polyglobulie können Raumforderungen innerhalb der Niere durch multiple Zysten (Zystenniere) bzw. Tumoren oder Durchblutungsstörungen der Niere mit isolierter renaler Hypoxämie (Nierenarterienstenose) sein.
Paraneoplastische Polyglobulie
Der paraneoplastischen Polyglobulie liegt eine ektope Erythropoetinbildung zu Grunde. Diese ist Ausdruck eines paraneoplastischen Syndroms. Ursächliche Tumore können in der Niere (Nephrom), der Leber, dem Ovar oder der Lunge lokalisiert sein.
Erhöhte Cortisol-Spiegel
Neben Erythropoetin ist auch Cortisol ein Erythropoese-stimulierendes Hormon. Erhöhte Cortisolspiegel als Ausdruck eines Cushing-Syndroms oder eines Morbus Cushing können somit ebenfalls eine Polyglobulie verursachen.
Klinik
Die Zunahme der Erythrozyten als größte Blutzellfraktion führt zu einer Hyperviskosität des Blutes mit hämodynamischen Folgen: Das Blut zirkuliert langsamer. Insbesondere innerhalb der Venen kann es zu stasebedingten thromboembolischen Komplikationen kommen. Das Herz reagiert gegen den erhöhten Widerstand durch eine kompensatorische Steigerung von Frequenz und Inotropie. Dennoch kann es auch im arteriellen Bereich zu Durchblutungsstörungen mit entsprechender Symptomatik kommen:
- Durchblutungsstörungen der Karotiden können eine zerebrale Ischämie verursachen, die sich durch transitorisch ischämische Attacken (TIA) äußert.
- Durchblutungsstörungen der Koronararterien können pektanginöse Beschwerden verursachen.
Weitere mögliche Symptome sind Kopfschmerzen und Ohrensausen.
Bei Neugeborenen äußert sich eine Polyglobulie durch folgende Symptome:
- Dyspnoe
- periphere Zyanose bzw. Akrozyanose bei adäquater Körpertemperatur
- Lethargie
- Hypoglykämie
- arterielle Hypotension
- Krampfanfälle (selten)
Im Rahmen einer neonatalen Polyglobulie kommt es häufiger zu einem Neugeborenenikterus.
Diagnostik
Die Diagnostik und Differentialdiagnostik der Polyglobulie erfolgt laborchemisch mittels Bestimmung der bzw. des
relative P. | reaktive P. | nephrogene, endokrine P. | |
---|---|---|---|
Plasmavolumen | vermindert | normal | normal |
Erythrozytenzahl | normal | erhöht | erhöht |
Hämatokrit | normal | erhöht | erhöht |
Hämoglobin | normal | erhöht | erhöht |
Erythropoetin | normal | erhöht | erhöht/normal |
pO2 | normal | vermindert | normal |
Bei einer absoluten Polyglobulie erfolgt die weitere diagnostische Abklärung der Grunderkrankung. Dazu zählen unter anderem die Kardiodiagnostik mittels Echokardiographie, der Röntgenthorax, die Sonographie und ggf. MRT der Niere, sowie die Tumorsuche durch bildgebende Verfahren.
Therapie
Relative Polyglobulie
Eine Pseudopolyglobulie wird durch Volumensubstitution ausgeglichen. Bei Hämatokritwerten > 60 % ist eine isovolämische Hämodilutionstherapie mittels Aderlass (300 bis 500 ml) und Substitution durch Plasmaexpander (z.B. Hydroxyethylstärke) oder Elektrolytlösungen notwendig.
Bei Neugeborenen kann analog verfahren werden. Hier wird gewichtsadaptiert ein Aderlass durchgeführt und mit isotonischer Kochsalzlösung substituiert.
Absolute Polygobulie
Die Therapie der primären Polyglobulie wird im Artikel Polycythaemia vera besprochen. Bei sekundären Polyglobulien muss die Grunderkrankung behandelt werden. Die Hypoxämie kann ggf. mit einer Sauerstoff-Langzeitgabe ausgeglichen werden.
Quellen
- Uni Heidelberg - Neonatologie Leitfaden, abgerufen am 25.01.2022