Myotone Dystrophie
Synonyme: Dystrophia myotonica, Myotonia dystrophica, atrophische Myotonie
Englisch: myotonic dystrophy
Definition
Die myotone Dystrophie, kurz DM, ist eine hereditäre Muskelerkrankung, die unter anderem mit Muskelsteifheit und Muskelschwäche einhergeht.
Einteilung
Man unterscheidet zwei Formen mit überlappenden Phänotypen und verschiedenen molekulargenetischen Defekten:
- Myotone Dystrophie Typ 1 (DM1, Curschmann-Steinert-Batten-Syndrom)
- Myotone Dystrophie Typ 2 (DM2, proximale myotone Myopathie, PROMM, Ricker-Syndrom)
Epidemiologie
Die myotone Dystrophie Typ 1 ist die häufigste autosomal-dominant vererbte Myopathie im Erwachsenenalter mit einer Prävalenz von 1/8.000 bis 1/20.000 in Europa.[1] Die myotone Dystrophie Typ 2 ist deutlich seltener. Ihre Prävalenz wird auf 1/100.000 geschätzt. Dabei scheint die Erkrankung in Deutschland und den USA häufiger zu sein, vermutlich aufgrund eines Gründereffekts.
Genetik
Bei beiden Formen der myotonen Dystrophie kommt es zur autosomal-dominant vererbten DNA-Expansion, die durch eine schädliche Wirkung der mutierten mRNA die Muskelfunktion beeinträchtigt. Die mRNA bildet intranukleäre Einschlüsse und behindert das korrekte Spleißen von verschiedenen anderen mRNA. Dies führt zur abnormen Transkription vieler Proteine in unterschiedlichen Organen.
Myotone Dystrophie Typ 1
Ursache bei der DM1 ist fast immer ein genetischer Defekt auf Chromosom 19 (Genlokus 19q13.32) mit CTG-Trinukleotid-Repeat-Expansion in der untranslatierten 3'-Region des Gens DMPK (Dystropa-Myotonica-Proteinkinase). Eine Antizipation, das heißt eine Vorverlagerung des Erkrankungsalters in aufeinanderfolgenden Generationen, ist möglich. Die Anzahl der Repeats lässt Rückschlüsse über den Krankheitsverlauf zu:
- Normalallel: bis 34 Triplett-Repeats
- Prämutationsallel (meiotisch instabil): 35 bis 50
- Pathologisches Allel mit milder und später Symptomatik: 51 bis 150
- Pathologisches Allel mit schwerer und früher Symptomatik: über 150
- Pathologisches Allel mit kongenitaler Form: Frühestens ab 800 (und nur bei Vererbung über die Mutter, die in der Regel selbst schon symptomatisch ist)
Myotone Dystrophie Typ 2
Bei der DM2 liegt ein genetischer Defekt auf Chromosom 3 (Genlokus 3q13.3-q24) vor, der mit einer Expansion von CCTG-Repeats im Intron 1 des CNBP-Gens einhergeht. Das Gen kodiert für das RNA-bindende Zinkfingerprotein 9 (ZNF9). Die Zahl der Repeats korreliert nicht mit dem Erkrankungsalter, das heißt es findet sich keine Antizipation.
Symptome
Die Manifestation der myotonen Dystrophie Typ 1 variiert stark und betrifft nicht nur die Muskulatur. Typischerweise kommt es zur Atrophie und Schwäche der Musculi temporalis, masseter und der mimischen Muskulatur mit Ausbildung einer Facies myotonica. Eine Stirnglatze ist charakteristisch. Die Halsmuskulatur und die distalen Extremitätenmuskeln sind früh befallen. Weiterhin kommen Paresen der Hand- und Fingermuskulatur vor. Proximale Muskeln bleiben anfangs kräftig, obwohl oft eine Atrophie des Musculus quadriceps femoris auftreten kann. Eine Dysarthrie, näselnde Stimme und Dysphagie entstehen durch Beteiligung der Zungen-, Rachen- und Gaumenmuskulatur. Eine Ateminsuffizienz kann durch Schwäche des Zwerchfells und der Interkostalmuskulatur auftreten.
Als Myotonie wird die verzögerte Entspannung mit krankhaft verlängerter, tonischer Muskelanspannung bezeichnet. Sie entsteht meist vor Ausbildung der Paresen und ist oft bereits im 5. Lebensjahr nachweisbar, z.B. durch Perkussion am Thenar, an der Zunge und an den Handstreckern. Nach einem kräftigen Faustschluss bewirkt die Myotonie eine verzögerte Relaxation des Handgriffs (Faustschlussprobe). Bei fortgeschrittener Atrophie wird die Myotonie schwer nachweisbar.
Kardiale Manifestationen treten besonders bei DM1 auf. Dazu zählen ein AV-Blöcke unterschiedlichen Schweregrades. Gehäuft kommen plötzliche Herztode (SCD) vor. Eine Herzinsuffizienz entsteht eher sekundär duch ein Cor pulmonale infolge der Lungenfunktionsstörung. Weiterhin findet sich überdurchschnittlich häufig ein Mitralklappenprolaps.
Weitere Manifestationen sind:
- Intellektuelle Beeinträchtigung
- Hypersomnie
- Psychische Veränderungen (z.B. Initiativlosigkeit)
- Hintere subkapsuläre Katarakte
- Hodenatrophie mit Infertilität
- Insulinresistenz mit Diabetes mellitus
- verminderte Kolonmotilität mit Obstipation
Als schwere Verlaufsform der DM1 kann eine kongenitale myotonie Dystrophie auftreten. Sie zeigt sich mit ausgeprägter Schwäche der mimischen und bulbären Muskulatur, transienter Ateminsuffizienz des Neugeborenen und mentaler Retardierung.
Die DM2 unterscheidet sich von der DM1 durch folgende Kriterien:
- Fehlen einer kongenitalen Form
- minimale zentralnervöse Beteiligung, keine Hypersomnie
- Proximale Schwäche, keine faziale oder bulbäre Beteiligung
- Häufiger Myalgie
- wenig schwere kardiale Beteiligung
Diagnostik
Die Verdachtsdiagnose einer myotonen Dystrophie kann meist schon klinisch gestellt werden. Unterstützend wirken apparative und labordiagnostische Methoden.
Die Creatinkinase im Serum kann normal oder leicht erhöht sein. In der Elektromyografie zeigen sich myotone Serien in den meisten Fällen der DM1, weniger häufig bei DM2. Die Muskelbiopsie zeigt eine Muskelatrophie, die in 50 % der Fälle nur die Typ-I-Fasern betrifft. Typischerweise können vermehrte zentral gelegene Kerne in einzelnen Muskelfasern sowie atrophische Fasern mit pyknotischen Kernen gesehen werden. Muskelfasernekrosen und Vermehrung von Bindegewebe sind im Gegensatz zu anderen Muskeldystrophien seltener.
Molekulargenetisch kann der Gendefekt nachgewiesen werden. Die Triplett-Wiederholungssequenz kann auch zur pränatalen Diagnostik benutzt werden. Die kongenitale Erkrankung tritt fast nur bei Kindern erkrankter Mütter auf - vermutlich, weil die Spermien mit ausgedehnter Triplett-Expansion nicht ausreichend funktionsfähig sind.
Differenzialdiagnosen
Die myotone Dystrophie muss von nicht dystrophen Myotonien abgegrenzt werden. Dazu zählen hereditäre Erkrankungen des muskulären Chlorid- oder Natriumkanals, die mit einer veränderten Erregbarkeit der muskulären Zellmembran einhergehen:[2][3]
- Chloridkanalmyotonien: z.B. Myotonia congenita Thomsen, Myotonia congenita Becker
- Natriumkanalmyotonien: z.B. Paramyotonia congenita, kaliumsensitive Myotonien
Weiterhin müssen andere hereditäre Myopathien bedacht werden:
- Metabolische Myopathien (z.B. Morbus Pompe, Carnitin-Palmitoyl-Transferase-Mangel),
- Muskeldystrophien (z.B. Duchenne-Muskeldystrophie),
- kongenitale Myopathien mit Strukturbesonderheiten (z.B. Central Core Myopathie).
Bei den erworbenen Myopathien werden folgende Formen unterschieden:
- Entzündlich bedingt: z.B. Coxsackie-, Influenza-Infektion, Polymyositis
- toxisch bedingt: z.B. durch Statine, Amiodaron, Alkohol, Kokain
- endokrin bedingt: z.B. thyreotoxisch, Steroidmyopathie, Hyperparathyreoidismus)
Therapie
Die Erkrankung ist zur Zeit (2019) nicht heilbar. Bei der DM1 muss die Myotonie nur selten behandelt werden. Bei der DM2 fühlen sich die Patienten durch die Muskelsteifigkeit stärker beeinträchtigt. Hier werden zum Beispiel Natriumkanalantagonisten Propafenon oder Flecainid eigesetzt. Jedoch schränken mögliche Blockierungen des kardialen Reizleitungssystems ihre Verwendung ein. Mexiletin ist zwar der effektivste Wirkstoff zur Behandlung der Myotonie, steht jedoch in Deutschland aktuell (2019) nicht mehr zur Verfügung. Myalgien können sich unter Gabapentin oder Pregabalin, Wärmeanwendung, Massagen und Krankengymnastik bessern.
Bei unklaren Synkopen oder höhergradigem AV-Block kann ein Herzschrittmacher eingesetzt werden. Bei distalen Paresen an der unteren Extremität können Fußgelenkorthesen hilfreich sein. Ein nächtliches Apnoe-Screening mit Schlaflaboruntersuchungen, eine BIPAP-Beatmung sowie Modafinil (off-label) kann erwogen werden. Weiterhin ist die Therapie des Diabetes mellitus, des Hypogonadismus und eines Katarakts notwendig. Auch wenn ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer malignen Hyperthermie im Rahmen einer Anästhesie nicht belegt ist, sind Narkosen mit Propofol zu bevorzugen.
Prognose
Die Lebenserwartung bei DM1 ist aufgrund des progredienten Verlaufs und wegen der erhöhten Mortalität pulmonaler und kardialer Komplikationen reduziert. Bei DM2 wird die Prognose vom Ausmaß der kardialen Beteiligung bestimmt. Meist bleiben die Patienten bis zum 60. Lebensjahr gehfähig.
Literatur
- Suttorp N. et al., Harrisons Innere Medizin, Hrsg. 19. Auflage. Berlin: ABW Wissenschaftsverlag; 2016
Quellen
- ↑ Orphanet, abgerufen am 23.07.2019
- ↑ Heuß D et al. DGN S1-Leitlinie Diagnostik und Differenzialdiagnose bei Mylagien 2012, abgerufen am 23.07.2019
- ↑ Schneider-Gold C et al. DGN S1-Leitlinie Myotone Dystrophien, nicht dystrophe Myotonien und periodische Paralysen 2017, abgerufen am 23.07.2019
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