Maligne Hyperthermie
Synonyme: Narkose-Hyperthermie-Syndrom, maligne Hyperpyrexie
Englisch: malignant hyperthermia
Definition
Bei der malignen Hyperthermie, kurz MH, handelt es sich um eine pharmakogenetische Erkrankung der Skelettmuskulatur. Sie tritt meist bei der Exposition gegenüber Triggersubstanzen im Rahmen einer Allgemeinanästhesie auf. Ursächlich ist eine genetisch determinierte Fehlregulation des Calciumstoffwechsels, die zu einer lebensbedrohlichen hypermetabolischen Stoffwechselentgleisung führt.
Epidemiologie
Die epidemiologischen Daten zur Inzidenz zeigen bisher (2025) eine erhebliche Varianz. Ursache ist u.a., dass die klinische Ausprägung sehr variabel ist und die Diagnose daher häufig nicht oder fälschlicherweise gestellt wird. Die Prävalenz der genetischen Anomalien wird international auf bis zu 1:400 angegeben.[1] In Deutschland wird sie auf 1:2.000 geschätzt.[2] Da die Penetranz jedoch variabel ist, tritt die Erkrankung klinisch deutlich seltener auf. Fulminante MH-Verläufe treten in Deutschland bei 1:10.000 bis 1:250.000 Narkosen auf.[3] Etwa die Hälfte der Fälle betrifft Kinder und Jugendliche bis zum zwölften Lebensjahr. Männliche Patienten sind häufiger betroffen.
Ätiologie
Ursache der MH sind Mutationen der Ryanodin-Rezeptoren oder der L-Typ-Calciumkanäle, die eine Störung der Calciumtransportvorgänge im Sarkoplasma auslösen. Die Mutationen werden autosomal-dominant vererbt. Die häufigste nachgewiesene Ursache ist eine Punktmutation des Ryanodin-Rezeptor kodierenden Gens RYR1 auf Chromosom 19. Penetranz und Expressivität sind variabel.
Pathophysiologie
Der Kontakt mit Triggern führt zur Störung der Calciumhomöostase.
Triggerfaktoren
Bekannte auslösende Faktoren sind volatile Anästhetika (z.B. Halothan, Sevofluran und Desfluran) und/oder depolarisierende Muskelrelaxantien (Succinylcholin). In seltenen Fällen wurden auch Drogen wie Ecstasy und Kokain oder extreme körperliche Belastung als Trigger berichtet.[4][1]
Pathophysiologische Mechanismen
Folge ist eine abnorme Öffnung der funktionell veränderten Calciumkanäle mit einer unkontrollierten und massiven Calciumfreisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum. Dies führt zu anhaltenden Muskelkontraktionen. Da sowohl das Lösen der Kontraktion als auch die Wiederaufnahme von Calcium in das sarkoplasmatische Retikulum ATP verbrauchen, kommt es rasch zu einem zellulären Energiedefizit. Der stark gesteigerte Zellstoffwechsel führt zu einem erhöhten Sauerstoffverbrauch und verstärkter Kohlendioxid- und Wärmeproduktion. Im Verlauf kommt es zum anaeroben Stoffwechsel, Laktatbildung, Rhabdomyolyse, Hyperthermie, Hyperkaliämie und metabolischer Azidose.
Symptome
Die MH kann zu jedem Zeitpunkt der Narkose auftreten und variabel ausgeprägt sein. Weniger als 10 % der Fälle verlaufen fulminant.[4]
Frühsymptome
Die ersten Anzeichen der MH sind:[5]
- tachykarde Herzrhythmusstörungen
- Hyperkapnie (Anstieg des endtidalen CO2 in der Kapnometrie)
- instabiler Blutdruck
- generalisierter Muskelrigor (50 — 80 % der Fälle)
- Masseterspasmus ("Trismus") unmittelbar nach Gabe von Succinylcholin
- Schwitzen
Spätsymptome
- Hypoxie und Zyanose
- Hyperthermie (in Einzelfällen auch als Frühsymptom)
- Rhabdomyolyse mit Myoglobinurie
- Nierenversagen
- Azidose
- Hyperkaliämie
- Crush-Syndrom
- lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen (insbesondere ventrikuläre Tachykardie)
- disseminierte intravasale Gerinnung
Therapie
Die MH erfordert eine sofortige und konsequente Therapie. Da die Maßnahmen sehr personalintensiv sind, muss umgehend ausreichend Personal organisiert werden.
Sofortmaßnahmen
- Triggersubstanzen müssen sofort abgesetzt werden: Zufuhr von Succinylcholin und Inhalationsanästhetikum beenden, Vapor aus dem Narkosegerät entfernen
- Narkose als TIVA weiterführen, Operation, wenn möglich beenden
- Narkosegerät mit maximalem Frischgasfluss und reinem Sauerstoff spülen, um das Inhalationsanästhetikum aus der Atemluft zu entfernen
- CO2-Absorber auswechseln
- Atemminutenvolumen um das 2- bis 3-fache erhöhen, sodass durch Hyperventilation und mit 100 % Sauerstoff annähernd ein physiologischer endexspiratorischer CO2-Wert erreicht wird
- Dantrolen 2,5 mg/kgKG i.v.
Dantrolen ist ein Muskelrelaxans-Derivat, das die Calciumfreisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum hemmt, ohne die Calciumaufnahme zu beeinflussen. Das Medikament liegt als Trockensubstanz vor und muss mit Aqua ad iniectabilia gelöst werden. Eine Flasche enthält 20 mg, sodass bei einem normalgewichtigen Erwachsenen initial etwa 10 Flaschen verabreicht werden müssen. Die Dosis sollte in kurzen Abständen so oft wiederholt werden, bis sich die Stoffwechsellage normalisiert hat und keine MH-Symptome mehr nachweisbar sind.[4][5][3]
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Sekundärmaßnahmen
- erweitertes Monitoring (invasive Blutdruckmessung, zentraler Venenkatheter, Blasenkatheter)
- Kühlung (extern und z.B. durch gekühlte Infusionen)
- Volumensubstitution und forcierte Diurese, ggf. mit Diuretikagabe (z.B. Furosemid)
- Ausgleich der Azidose (z.B. Natriumbicarbonat oder TRIS-Puffer)
- engmaschige Laborkontrollen
- intensivmedizinische Überwachung für mindestens 24 Stunden
- ggf. niedrigdosiert Heparin (Prophylaxe der disseminierten intravasalen Gerinnung)
Prophylaxe
Bei Verdacht auf eine MH-Prädisposition muss eine „triggerfreie“ Narkose durchgeführt werden. Hierzu wird das Narkosegerät „dekontaminiert“: Der Vapor wird entfernt, alle Schläuche und der Atemkalk gewechselt und das Gerät für mindestens 10 Minuten mit einem Frischgasfluss von > 10 l/min gespült. Die Narkose wird als TIVA durchgeführt. Sichere Substanzen sind Opioide, Injektionsanästhetika, Nicht-depolarisierende Muskelrelaxanzien und Lachgas.
In-vitro-Kontrakturtest
Besteht der Verdacht auf eine MH-Prädisposition, kann diese mit einem In-vitro-Kontrakturtest abgeklärt werden. Hierzu wird in Lokalanästhesie eine Muskelbiopsie durchgeführt. Das Muskelgewebe wird Koffein und Halothan ausgesetzt und die Muskelkontraktion gemessen. Eine verstärkte Kontraktion bestätigt den Verdacht auf eine MH-Empfindlichkeit.
Veterinärmedizin
Die maligne Hyperthermie ist auch bei Schweinen bekannt und wurde wahrscheinlich durch den Pietrain-Eber in die Zucht eingebracht. Die Symptome treten meist unter Stress z.B. während des Transportes zum Schlachthof auf. Aufgrund der starken Skelettmuskelkontraktionen und der erhöhten Wärmebildung entsteht das sogenannte PSE-Fleisch.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Orphanet: Maligne Hyperthermie, zuletzt abgerufen am 25.08.2025
- ↑ Klingler et al.: S1-Leitlinie Therapie der malignen Hyperthermie - DGAI-Info, A&I, 2018
- ↑ 3,0 3,1 S1-Leitlinie 2018: Empfehlung zur Therapie der malignen Hyperthermie. AWMF-Register-Nr.:001/008.
- ↑ 4,0 4,1 4,2 Striebel, H.: Die Anästhesie, 4. Auflage. Suttgart: Thieme, 2019.
- ↑ 5,0 5,1 Glahn et al.: Recognizing and managing a malignant hyperthermia crisis: guidelines from the European Malignant Hyperthermia Group. British Journal of Anaesthesia, 2019