Epilepsie
von altgriechisch: ἐπῐλᾰμβᾰ́νω ("epilambano") - attackieren, ergreifen, in Beschlag nehmen
Synonyme: Epilepsia, Fallsucht, Krampfleiden, Anfallsleiden
Englisch: epilepsy
Definition
Epilepsie ist eine Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Funktionsstörungen des Gehirns, die durch ein Zusammenspiel aus pathologischer Erregungsbildung und fehlender Erregungsbegrenzung in den Nervenzellverbänden des ZNS entstehen.
Definition der ILAE
Nach der Definition der ILAE von 2014 liegt eine Epilepsie vor, wenn eine der folgenden Bedingungen zutrifft:[1]
- Mindestens zwei nicht provozierte Anfälle ("seizures") im Abstand von mehr als 24 Stunden
- Ein nicht provozierter Anfall und eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 60 % für einen weiteren Anfall in den nächsten 10 Jahren.
- Diagnose eines Epilepsie-Syndroms
Abgrenzung
Die Begriffe "Anfall" und "Epilepsie" lassen sich wie folgt unterscheiden:
- Ein Anfall ist ein isoliertes klinisches Ereignis.
- Epilepsie ist die Erkrankung, die mit spontan wieder auftetrenden Anfällen assoziiert ist. Sie liegt vor, wenn mindestens zwei nicht provozierte, einzelne Anfallsereignisse vorgefallen sind.
Epidemiologie
Etwa 2 bis 4 % aller Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens einen einzelnen, isolierten epileptischen Anfall. Rund 0,5 bis 1 % entwickeln eine manifeste Epilepsie. Die Inzidenz ist altersabhängig: Bei Kindern überwiegen generalisierte Epilepsien, bei Erwachsenen eher fokale Formen.[2]
Das erstmalige Auftreten eines tonisch-klonischen Anfalls erhöht das Risiko für weitere Anfälle, insbesondere bei pathologischem EEG oder strukturellen Veränderungen im MRT.
Ätiologie
Epilepsien sind multifaktoriell bedingt. Nach der Klassifikation der ILAE (2017) erfolgt die ätiologische Zuordnung zu einer oder mehreren der folgenden sechs Kategorien:
Genetisch
- identifizierte oder vermutete genetische Ursachen (z.B. Punktmutationen, Kopienzahlvarianten, polygene Veranlagung)
- Beispiele:
Strukturell
- Nachweisbare Raumforderungen oder Läsionen in MRT/CT
- Beispiele:
- fokale kortikale Dysplasie
- Tumoren
- Hämangiome
- Kavernome
- Schädel-Hirn-Traumata
- Aneurysma-assoziierte Läsionen
- Narben nach Infarkt oder Hirnblutung
Metabolisch
- Epilepsien im Rahmen erblicher Stoffwechselstörungen
- Beispiele:
- Glukose-Transporter-1-Mangel (SLC2A1-Mutationen)
- pyridoxinabhängige Anfälle
- peroxisomale Störungen
Immunologisch
- Autoimmunvermittelte Anfallsleiden mit oder ohne begleitende Enzephalitis
- Beispiele:
- NMDA-Rezeptor-Enzephalitis
- GABA-B-Rezeptor-Enzephalitis
- Antikörper gegen spannungsabhängige Kaliumkanäle (VGKC)
Infektiös
- Akut
- bakterielle Meningitis
- Enzephalitis (viral oder parasitär)
- Chronisch
- FSME
- Neuroborreliose
- zerebrale Malaria
- tuberkulöse Meningitis
- Postinfektiös: epileptogene Narben oder strukturelle Defekte nach Infektion
Unbekannt
Trotz adäquater Diagnostik bleibt bei einigen Epilepsien die Ursache unklar.
Trigger
Trigger können z. B. Schlafentzug, Eklampsie, flackerndes Licht, Fieber oder Absetzen von Antikonvulsiva sein.
Pathophysiologie
Die genauen neurobiologischen Mechanismen der Epilepsie sind bislang (2026) nicht vollständig geklärt. Es wird vermutet, dass eine gestörte Balance zwischen Erregung und Hemmung innerhalb neuronaler Netzwerke ursächlich ist. Mögliche Auslöser sind veränderte Membraneigenschaften (z.B. defekte Ionenkanäle) oder eine gestörte Neurotransmitter-Verteilung.
Biochemisch liegt vermutlich ein Ungleichgewicht zwischen exzitatorischen (Glutamat, Aspartat) und inhibitorischen (GABA) Einflüssen vor, das zu paroxysmalen Depolarisationsstörungen einzelner Hirnareale oder des gesamten Cortex führen kann. Je nach betroffener Region resultieren sensible, sensorische oder motorische Ausfälle.
Eine Modellvorstellung besagt, dass die initial fokale Exzitation innerhalb einer kortikalen Kolumne auf benachbarte Areale übergreift und so eine Generalisierung ermöglicht. Die genauen Ausbreitungsmechanismen sind jedoch unbekannt.
Klassifikation
Nach der überarbeiteten ILAE-Klassifikation der Epilepsien von 2025 werden epileptische Anfälle standardisiert nach biologischer Relevanz und klinischer Bedeutung klassifiziert.[3]
Taxonomische Struktur
Die Klassifikation unterscheidet:
- Klassifikatoren: definieren biologische Anfallstypen (z.B. Anfallsursprung, Bewusstsein); sind behandlungsrelevant
- Deskriptoren: beschreiben zusätzliche semiologische Merkmale zur besseren klinischen Einordnung
Level 1: Anfallstyp
Es werden vier Hauptklassen unterschieden:
- fokale Anfälle
- generalisierte Anfälle
- Anfälle unbekannten Ursprungs
- nicht klassfizierbare Anfälle
Fokale Anfälle
Fokale Anfälle entstehen in einem Netzwerk, das auf eine Hemisphäre begrenzt ist. Sie werden je nach Bewusstseinsstatus unterteilt in:
- Fokale Anfälle mit erhaltenem Bewusstsein
- Fokale Anfälle mit beeinträchtigtem Bewusstsein (ehemals "einfach-fokal" bzw. "komplex-fokal")
- Fokal-zu-bilateral tonisch-klonische Anfälle (ehemals "sekundär generalisiert")
Das Bewusstsein während eines Anfalls wird anhand zweier klinischer Kriterien beurteilt: Gewahrsein und Reaktionsfähigkeit. Bei Störung eines der beiden gilt das Bewusstsein als beeinträchtigt.
Generalisierte Anfälle
Generalisierte Anfälle betreffen von Beginn an bilateral verteilte Netzwerke. Sie umfassen:
- Absencen
- Generalisiert tonisch-klonische Anfälle
- Weitere Formen
Negative Myoklonie ist ein neuer anerkannter Typus und unterscheidet sich von Asterixis. Tonisch-klonische Anfälle wurden früher als "Grand mal", Absencen als "Petit mal" bezeichnet.
Anfälle unbekannten Ursprungs
Diese Kategorie gilt bei unzureichender Information zur Unterscheidung fokal/generalisert. Vorläufige Beschreibung möglich als:
- Mit erhaltenem oder beeinträchtigtem Bewusstsein
- Bilateral tonisch-klonisch unbekannten Ursprungs
Nicht klassifizierbare Anfälle
Diese Kategorie umfasst Anfälle, die aktuell keiner anderen Gruppe zugeordnet werden können, aber reklassifizierbar sind.
Epileptische Spasmen
Bei epileptischen Spasmen handelt es sich um einen weiteren Anfallstyp, der nach der Ausbreitung bzw. Anfallsbeginn klassifiziert wird:
- Generalisierte Spasmen (häufig bei IESS)
- Fokale Spasmen
- Spasmen unbekannten Ursprungs
Die frühzeitige Erkennung ist für die Therapie entscheidend.
Deskriptoren
Neben der Klassifizierung sind Deskriptoren zur genaueren Beschreibung wichtig.
- Grundversion: beobachtbare Manifestationen (motorisch, autonom etc.) vs. keine Manifestation
- Erweiterte Version: chronologische Beschreibung (z. B. Aura → Automatismen → Bewusstseinsstörung) zur Lokalisation des Ursprungs
Level 2: Epilepsietyp
Voraussetzung ist eine bestätigte Epilepsiediagnose. Es werden unterschieden:
- Fokale Epilepsie
- Generalisierte Epilepsie
- Kombinierte generalisierte und fokale Epilepsie
- Epilepsie unbekannten Typs
Level 3: Epilepsie-Syndrome
Epilepsie-Syndrome sind charakteristische klinische Konstellationen. Beispiele:
- Benigne Neugeborenenkrämpfe
- Juvenile Absence-Epilepsie (JAE)
- Juvenile myoklonische Epilepsie (Janz-Syndrom)
- Reflexepilepsie (z.B. photosensitive Epilepsie)
- West-Syndrom
- Lennox-Gastaut-Syndrom
- Dravet-Syndrom
siehe auch: Epilepsie-Syndrom
Diagnose
Das wichtigste diagnostische Werkzeug zur Primär- und Verlaufsdiagnostik von Epilepsien ist das EEG.
Während eines Anfalls sieht man im EEG häufig generalisierte oder fokale Spitzen ("Spikes"), die von langsamen Wellen ("Waves") begleitet werden. Diese Spike-Wave-Komplexe sind charakteristisch für eine Epilepsie und treten oft bei generalisierten Anfällen auf.
Neben Spike-Wave-Komplexen können auch umschriebene Rhythmisierungen im Theta- oder Delta-Frequenzbereich beobachtet werden, die auf eine fokale oder lokal begrenzte Anfallsaktivität hinweisen können.[4]
Software auf Basis von künstlicher Intelligenz (KI) ist inzwischen in der Lage, verschiedene Formen einer Epilepsie in einem Routine-EEG genauso gut zu erkennen wie menschliche Experten.[5]
Nach erstmaligem Anfall soll zudem zeitnah eine zerebrale Bildgebung mittels kranieller Magnetresonanztomographie erfolgen.[6]
Differentialdiagnose
Therapie
Akutversorgung
Im Vordergrund steht die Lagerung mit dem Ziel des Schutzes vor Eigengefährdung und dem Freihalten der Atemwege. Im Zuge eines v.a. muskulären Krampfanfalles können diese unbeabsichtigt verschlossen oder durch eigene ungewollte Bewegungen erhebliche Selbstverletzungen zugefügt werden. Die Entfernung von Zahnersatz, Schmuck und sonstigen Gegenständen kann zur Verringerung solcher Verletzungen beitragen.
Herzaktion und Atmung müssen überwacht werden, da durch die unfreiwillige und teils wahllose Kontraktion verschiedener Muskelgruppen ein hochgradig unnatürliches Zusammenspiel von Bewegungen zustande kommt, bei dem Herz, Gefäße und Extremitäten enormen Belastungen ausgesetzt werden können. Bei heftigen Kontraktionen der Brustmuskulatur kann es zu unnatürlichen Kontraktionen kommen, die Druck auf die Lunge ausüben.
Die Notfallversorgung besteht in der Gabe von Antikonvulsiva, z.B. Lorazepam, Clonazepam oder Diazepam i.v.. Ist kein venöser Zugang vorhanden, kann alternativ Diazepam rektal oder Midazolam bukkal, i.m. oder i.n. verabreicht werden.[6]
Medikamentöse Therapie
Die langfristige Medikation zielt primär auf zwei funktionelle Aspekte ab: die Erhöhung der Inhibition (insbesondere Glutamat-Hemmung bzw. GABA-Wiederaufnahme-Hemmung) und/oder die Verringerung der Exzitation (v.a. durch Glutamat-Hemmung).
Die medikamentöse Therapie ist abhängig von der Form und Ursache der Epilepsie und versucht eine Anfallsfreiheit zu erreichen. Unterschieden wird dabei zwischen "klassischen" AED (anti epilepsy drug) und "neuen" AED.
Klassische AED sind:
- Barbiturate
- Diphenylhydantoine
- Carbamazepin
- Valproat (= Valproinsäure)
- Succinimide
Zu den neueren AED zählen:
Bei ansonsten therapieresistenten Formen kommt Felbamat zum Einsatz. Auf Grund seines extrem schweren Nebenwirkungsprofils ist es ein Mittel letzter Wahl, das erst bei Versagen aller anderen medikamentösen Therapieformen in Betracht kommt.
Begleitende, nichtmedikamentöse Versorgung
Abhängig von der Ursache kommen auch nichtmedikamentöse Therapien zum Einsatz. Diese begleiten jedoch häufig die medikamentöse Versorgung ergänzend. Einheitliche Empfehlungen gibt es nicht.
Da die meisten Epilepsieformen idiopathisch bzw. kryptogen sind, erfolgt auch die nichtmedikamentöse Therapie symptomatisch. Diskutiert werden dabei:
- ketogene Diäten (wobei der genaue Wirkmechanismus noch nicht bekannt ist), welche das Auftreten von weiteren Anfallsleiden verringern können
- Psychotherapie zur Unterstützung des Patienten im Umgang mit seiner Erkrankung und zur besseren Kontrolle im Fall eines Anfallsleidens
Keine der nichtmedikamentösen Therapien erzeugt in randomisierten und doppelverblindeten Studien durchweg zufriedenstellende Ergebnisse.
Chirurgische Intervention
Bei der neurochirurgischen Therapie wird darauf abgezielt, das auslösende Gehirnareal der Anfälle zu entfernen und so weiteren Anfällen vorzubeugen. Mögliche Eingriffe sind:
- Selektive Entfernung von Hippocampus und Amygdala (Amygdalahippocampektomie)
- Temporallappenresektion
- Läsionektomie (Entfernung des Epilepsie-auslösenden Areals)
Präoperativ wird dabei unter anderem der Wada-Test eingesetzt, um wichtige Funktionszentren im Gehirn zu lokalisieren.
Als weitere invasive Verfahren stehen zur Verfügung:
- Vagusnervstimulation
- Tiefe Hirnstimulation des anterioren Thalamus
In neueren Studien zeigt auch die minimal-invasive epikraniale Neurostimulation bei pharmakoresistenter Epilepsie eine Anfallsreduktion von bis zu 68 % nach 2 Jahren.[7]
Prognose
Die Prognose ist abhängig von den Ursachen. Bei idiopathischen und kryptogenen Formen ist eine konkrete Prognose schwer zu stellen.
Sind die Ursachen bekannt und können sie beseitigt werden, verschwinden Anfallsleiden oft auf Dauer. Dies ist jedoch nicht in jedem Falle garantiert.
Die beste Prognose haben benigne partielle Epilepsien der Adoleszenz mit fokalen Anfallsleiden. Sie sind medikamentös gut einstellbar und bedürfen nur geringer weiterer Intervention.
Die schlechteste Prognose ergibt sich bei frühkindlichen myoklonischen Epilepsien mit enzephalopathischem Charakter. Dort liegen häufig noch zahlreiche weitere klinische Erscheinungen vor, welche im Gesamtbild die Lebenserwartung herabsetzen oder eine normale Lebenserwartung mit deutlich eingeschränkter Lebensqualität vorhersehen lassen.
In seltenen Fällen können Patienten plötzlich an einer Epilepsie sterben. Ein solches Ereignis wird als SUDEP ("sudden unexpected death in epilepsy patients") bezeichnet und tritt mit einer Häufigkeit etwa 1:1.000 Personenjahren auf. Es wird durch eine unregelmäßige Einnahme der Medikamente begünstigt.
Eine Epilepsie kann in Remission gehen oder – unter bestimmten Voraussetzungen – als geheilt gelten:
- Remission: ≥10 Jahre anfallsfrei (mit oder ohne Antikonvulsiva)
- Heilung: ≥10 Jahre anfallsfrei, davon ≥5 Jahre ohne Antikonvulsiva
- Alternativ: Beendigung eines altersabhängigen Epilepsie-Syndroms
Diese Definitionen dienen der Prognoseeinschätzung und verdeutlichen, dass Epilepsie nicht in jedem Fall eine lebenslange Erkrankung ist.
Quellen
- ↑ Fisher et al., ILAE official report: a practical clinical definition of epilepsy, Epilepsia, 2014
- ↑ Beghi, The Epidemiology of Epilepsy, Neuroepidemiology, 2020
- ↑ Beniczky et al., Updated classification of epileptic seizures: Position paper of the International League Against Epilepsy, Epilepsia, 2025
- ↑ Masuhr und Neumann, Duale Reihe Neurologie, 6. Auflage, Thieme, 2007
- ↑ Tveit et al., Automated Interpretation of Clinical Electroencephalograms Using Artificial Intelligence, JAMA Neurol, 2023
- ↑ 6,0 6,1 Holtkamp, May: Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter, S2k-Leitlinie, 2023; in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, zuletzt abgerufen am 04.12.2025
- ↑ Schulze‑Bonhage et al., Two‑year outcomes of epicranial focal cortex stimulation in pharmacoresistant focal epilepsy, Epilepsia, 2025