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Bell-Lähmung

(Weitergeleitet von Idiopathische Fazialisparese)

nach dem schottischen Chirurgen Sir Charles Bell (1774–1842)
Synonyme: Bell'sche Parese, Bell's palsy
Englisch: Bell's Palsy

1. Definition

Als Bell-Lähmung oder idiopathische Fazialisparese bezeichnet man eine akute periphere Parese des Nervus facialis unbekannter Ursache.

2. Epidemiologie

Die Inzidenz beträgt 7 bis 40 Krankheitsfälle pro 100.000 Einwohner pro Jahr bei ausgeglichenem Geschlechtsverhältnis. Vermutlich ist das Erkrankungsrisiko während der Schwangerschaft erhöht.

3. Ätiologie

Bei der Bell-Lähmung handelt es sich (per definitionem) um eine idiopathische Fazialisparese. Pathophysiologisch werden zellvermittelte Autoimmunreaktionen und die Reaktivierung einer Herpes-simplex-Virus-Infektion (HSV-1) diskutiert.[1]

4. Symptome

Die Symptome der Bell-Lähmung können sehr variabel sein. Im Extremfall kommt es zu einer Lähmung der kompletten halbseitigen mimischen Muskulatur, jedoch kann es auch nur zu einem partiellen Funktionsausfall kommen. Begleitend wird oft über retroaurikuläre Schmerzen und Parästhesien im Bereich der ipsilateralen Wange berichtet. Dies wird nicht durch Mitbeteiligung des Nervus trigeminus, sondern durch den erlebten Tonusverlust der Muskulatur begründet.

Weiterhin sind Schmeckstörungen häufig, seltener kommt es zur Hyperakusis. Ein trockener Mund aufgrund des Ausfalls der parasympathischen Innervation der Glandula submandibularis und sublingualis zeigt eine schwere Fazialisparese an.

5. Differenzialdiagnosen

Erworbene periphere Fazialisparesen sind in 60 bis 75 % der Fälle idiopathisch. Entsprechend müssen weitere Erkrankungen ausgeschlossen werden: Insbesondere eine Neuroborreliose und ein Zoster oticus (Ramsay-Hunt-Syndrom) sind häufige Ursachen.

5.1. Entzündungen

5.2. Raumforderungen

5.3. Weitere Differenzialdiagnosen

6. Diagnostik

6.1. Klinische Untersuchung

Grundlage der Diagnostik ist die klinische Untersuchung. Dabei werden das Ausmaß und der Schweregrad der Nervenläsion sowie evtl. ispilaterale Begleitbefunde beurteilt:

Ist ein Stirnrunzeln möglich und nur die mittleren sowie unteren Gesichtspartien betroffen, spricht dies für eine supranukleäre Parese des Nervus facialis.

Eine Otoskopie ist zum Ausschluss von Herpesbläschen im Gehörgang zwingend notwendig. Bei starken Schmerzen sollte immer an einen Zoster gedacht werden, auch wenn Herpesbläschen fehlen (Zoster sine herpete).

Durch Beurteilung der motorischen Funktion kann der Schweregrad der Fazialisparese angegeben werden (House-Brackmann-Skala):

Grad Funktion  Ruhestellung Stirn Lidschluss  Mund
I (normal) normal normal normal  normal normal
II (leichte Parese) Schwäche oder Synkinesie bei genauer Beobachtung erkennbar normal  reduziert fast normal gering
III (mäßige Parese) offensichtliche Seitendifferenz, Synkinesie, Kontraktur normal noch vorhanden vollständig gering reduziert
IV (mäßig starke Parese) entstellende Asymmetrie normal keine inkomplett Asymmetrie
V (starke Parese) geringe Restbeweglichkeit erkennbar  Asymmetrie keine inkomplett  Asymmetrie
VI (Paralyse) keine Restbeweglichkeit Tonusverlust  keine  keine keine

6.2. Elektrophysiologische Diagnostik

Bei Unklarheit, ob eine periphere oder zentrale Genese vorliegt, ist in der Anfangsphase der Erkrankung (1. bis 3. Tag) eine kanalikuläre Magnetstimulation hilfreich: Durch Nachweis der kanalikulären Untererregbarkeit kann die periphere Genese belegt werden. Bei der Bell-Lähmung ist diese fast immer ab dem ersten Erkrankungstag feststellbar.

Die Blinkreflexuntersuchung nach Stimulation des Nervus supraorbitalis des Nervus ophthalmicus ermöglicht ebenfalls die Differenzierung zwischen peripherer oder zentraler Genese.

Weitere elektrophysiologische Untersuchungen dienen der prognostischen Beurteilung (s.u.).

6.3. Bildgebung

Bei nichttraumatischen peripheren Fazialisparesen mit akutem Beginn und Regredienz innerhalb von 6 Wochen ist eine Bildgebung grundsätzlich nicht indiziert. Oft wird trotzdem eine kraniale Computertomographie cCT durchgeführt, v.a. vor Lumbalpunktion.

Bei atypischer Klinik mit Begleitsymptomen (Hypakusis, Tinnitus, Hypästhesien, Doppelbilder) ist eine MRT zum Ausschluss eines Kleinhirnbrückenwinkel- oder Felsenbeinprozesses sowie einer Parotis- oder Hirnstammläsion indiziert.

6.4. Laboruntersuchungen

Hilfreiche Laboruntersuchungen sind:

Serologische Untersuchungen sollten ggf. im Abstand von 7 bis 10 Tagen wiederholt werden.[2]

6.5. Liquoruntersuchungen

Eine Lumbalpunktion ist obligat bei Kindern und bei Verdacht auf eine nicht-idiopathische Genese (z.B. starker lokaler Schmerz, bilaterale Fazialisparese, lokales vesikuläres Exanthem, vorbekannte Malignomerkrankung). In 80 bis 90 % der Fällen ergibt die Liquoruntersuchung einen Normalbefund.

6.6. Weitere Diagnostik

Eine gesonderte HNO-ärztliche Untersuchung ist indiziert bei Auffälligkeiten im Bereich des Ohres, der Parotis, des Mastoids, des Trommelfells und bei beeinträchtigter Hörfunktion.

Bei Hornhautaffektionen sollte eine augenärztliche Untersuchung erfolgen.

7. Therapie

7.1. Medikamentöse Therapie

Empfohlen ist eine orale medikamentöse Therapie mit Glukokortikoiden innerhalb der ersten 72 Stunden nach Beginn der Symptomatik. Es existieren verschiedene Therapieschemata:

  • 2 x 25 mg Prednisolon für 10 Tage (Sullivan-Schema)
  • 60 mg Prednisolon für 5 Tage, dann tägliche Reduktion um 10 mg (Engström-Schema)

Glukokortikoide beeinflussen den Erkrankungsverlauf und das Risiko von Synkinesien und autonomen Dysfunktionen signifikant.

Die Gabe eines Virustatikums erfolgt auf Basis einer vermuteten Pathophysiologie einer Reaktivierung von HSV-1. Bisher konnte jedoch kein eindeutiger Nutzen einer virustatischen Therapie festgestellt werden, z.T. wird als Kombinationstherapie ein geringer Zusatznutzen vermutet. Folglich wird die zusätzliche Gabe eines Virustatikums nur in Einzelfällen empfohlen.

Liegt jedoch ein Zoster oticus vor, sollte rasch eine virustatische Therapie erfolgen, z.B.:

Nicht indiziert sind antiphlogistisch-rheologische Infusionsschemata, z.B. Stennert-Schema.

Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.

7.2. Nichtmedikamentöse Therapie

8. Prognose

Die Prognose der Bell-Lähmung ist insgesamt gut. In ca. 85 % der Fälle kommt es zur Rückbildung innerhalb von 3 Wochen, bei weiteren 10 % zur partiellen Restitutio nach 3 bis 6 Monaten. Bei ca. 16 % der Patienten ist die Reinnervation jedoch unvollständig. Mögliche Symptome von Defektheilungen sind Synkinesien, autonome Störungen (z.B. Krokodilstränenphänomen) oder Kontrakturen.

Fazialisparesen nach Zosterinfektion resultieren häufiger in einer Defektheilung. Im Gegensatz dazu haben Borrelien-induzierte Fazialisparesen fast immer eine gute Prognose.

Finden sich bei kompletter Fazialisparese in der Elektromyographie (EMG) einige Potentiale nach willkürlicher Innervation, ist eine Erholung des Nervens wahrscheinlich. Ein weiterer günstiger prognostischer Faktor ist der Nachweis von Reinnervationspotentialen bei EMG-Verlaufsuntersuchungen. Bei pathologischer Spontanaktivität im EMG muss von einem erhöhten Risiko für eine Defektheilung ausgegangen werden.

Die Ableitung des Muskelsummenpotentials (MSAP) nach transkutaner supramaximaler Stimulation des Nervus facialis nahe der Parotis sollte etwa am 10. Tag nach Symptombeginn zur Beurteilung der Prognose durchgeführt werden. Eine hochgradige Minderung der MSAP-Amplitude (> 80 bis 90 %) spricht für eine schlechte Prognose.

9. Besonderheiten in der Schwangerschaft

Eine Bell-Lähmung in der Schwangerschaft ist relativ selten, epidemiologische Angaben zur Prävalenz schwanken zwischen 1/1.700 und 1/5.800 Schwangerschaften. Dabei findet die Mehrzahl während des dritten Trimenons statt. Die Therapie gleicht im Prinzip den oben genannten Ansätzen, wobei Glukokortikoide im ersten Trimenon mit einem sehr geringen Risiko für die Entwicklung einer Gaumenspalte beim Embryo diskutiert werden. Zu beachten sind jedoch die möglichen Nebenwirkungen auf den Glukosestoffwechsel, insbesondere bei Schwangeren mit Diabetes mellitus. Aus diesem Grund ist bei Schwangerschaft eine stationäre Überwachung mit engmaschiger Blutzuckerkontrolle notwendig. Die Prognose einer Bell-Lähmung während der Schwangerschaft ist etwas ungünstiger im Vergleich zur Normalbevölkerung.

10. Literatur

11. Quellen

  1. Greco A et al. Bell's palsy and autoimmunity, Autoimmunity Reviews, Vol.12(2), Dec. 2012, pp.323-328, abgerufen am 16.10.2019
  2. Heckmann, JG et al. Idiopathische Fazialisparese (Bell's palsy), Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 692-702, abgerufen am 16.10.2019

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