Felsenbeinfraktur
Englisch: temporal bone fracture, petrous temporal bone fracture
Definition
Die Felsenbeinfraktur ist ein Knochenbruch (Fraktur) des Felsenbeins (Pars petrosa ossis temporalis).
Hintergrund
Das Felsenbein ist ein sehr stabiler Knochen, für dessen Fraktur eine von lateral einwirkende Kraft von etwa 6.000 bis 8.000 Newton erforderlich ist. Solche Verletzungen treten meist im Rahmen schwerer Verkehrsunfälle oder durch Stürze aus großer Höhe auf. Männer sind drei- bis viermal häufiger betroffen. In rund sechzig Prozent der Fälle handelt es sich um offene Frakturen, das bedeutet, dass eine Verbindung zum äußeren Gehörgang oder Mittelohr besteht. Typische Begleiterscheinungen sind Blutung, Otorrhoe, Liquorfistel oder eine Herniation von Hirngewebe. Solche Frakturen sind eine potenzielle Eintrittspforte für Bakterien, die eine Meningitis auslösen können.
Klassifikationen
Zur Klassifikation der Felsenbeinfrakturen existieren unterschiedliche Systeme. Traditionell erfolgt die Einteilung in Längs-, Quer- und Mischfrakturen anhand des Verlaufs der Frakturlinie zur Felsenbeinleiste (Crista petrosa):
- Längsfrakturen verlaufen parallel zur Längsachse des Felsenbeins und machen etwa 70-80 % der Fälle aus. Man unterscheidet einen anterioren Typ, der vom vorderen Anteil des Mastoids bis zum Apex zieht und teilweise die Fossa mandibularis mit einbezieht, sowie einen posterioren Typ, der vom hinteren äußeren Gehörgang bis zum Foramen lacerum oder Foramen ovale reicht. Beide Subtypen können den Nervus facialis im Bereich des Ganglion geniculatum verletzen.
- Querfrakturen verlaufen senkrecht zur Längsachse des Felsenbeins. Der mediale Subtyp zieht von medial der Eminentia arcuata durch den Meatus acusticus internus und betrifft häufig den 7. und 8. Hirnnerven. Der laterale Subtyp reicht von der lateralen Eminentia arcuata bis zum Labyrinth. Auch hier kommt es gehäuft zur sensorineuralen Schwerhörigkeit.
- Mischfrakturen zeigen Anteile beider Verlaufsrichtungen.
Eine klinisch gebräuchlichere Einteilung unterscheidet Frakturen mit oder ohne Beteiligung der otischen Kapsel. Bei einer Ruptur der otischen Kapsel, die Cochlea, Vestibulum und Labyrinth umfasst, treten typischerweise eine sensorineurale Schwerhörigkeit, Fazialisparesen und Liquorfisteln auf. Bleibt die Kapsel intakt, verläuft die Frakturlinie meist durch das Mittelohr und kann die Gehörknöchelchen betreffen, was eine Schallleitungsschwerhörigkeit zur Folge hat.
Eine weitere, heute weniger gebräuchliche Einteilung unterscheidet petröse von nicht petrösen Frakturen. Petröse Frakturen umfassen die Spitze des Felsenbeins sowie die otische Kapsel und sind häufiger mit Liquorfisteln und Fazialisverletzungen verbunden.
Diagnostik
Körperliche Untersuchung
Bei Unfällen mit Beteiligung der Schädelbasis ist zunächst eine körperliche Untersuchung notwendig. Hilfreich sind folgende klinische Merkmale:
- Raccoon-Zeichen: periorbitale Ekchymosen
- Battle-Zeichen: retroaurikuläre Ekchymosen
- Fazialisparesen mit Gesichtssymmetrieverlust
- Hörminderungen
- Nystagmus
- Liquorrhoe: Der Verdacht kann mithilfe eines Glukoseteststreifens oder laborchemisch durch Nachweis von Beta-Trace-Protein oder β2-Transferrin in der austretenden Flüssigkeit überprüft werden.
Bildgebung
Im Anschluss erfolgt in der Regel eine native Computertomographie. Dabei müssen Frakturen von physiologischen Fissuren oder kleinen Kanälen unterschieden werden. Zu den wichtigsten physiologischen Strukturen zählen:
- Aquaeductus cochleae, der die Scala tympani mit dem Subarachnoidalraum verbindet und bei Erwachsenen obliteriert sein kann
- Aquaeductus vestibuli, der das Vestibulum mit der dorsalen Felsenbeinwand verbindet
- Foramen singulare als Verbindung vom Meatus acusticus internus zum hinteren Bogengang
- Canaliculus mastoideus: vom lateralen Foramen jugulare zum Fazialiskanal
- Canaliculus tympanicus inferior zwischen Pars nervosa des Foramen jugulare und Hypotympanon
- Canaliculus subarcuatus, der die hintere Schädelgrube mit dem Antrum des Mastoids verbindet.
- Fissuren: Fissura tympanosquamosa, tympanomastoidea, petrosquamosa, petrotympanica
- Suturen: Sutura temporoparietalis, occipitomastoidea und sphenopetrosa
Weiterführende Diagnostik
Je nach Symptomatik kommen Audiogramm, Kalorikprüfung, oder Tests zur Überprüfung der Facialisfunktion (Elektromyographie, Elektroneuronographie) zum Einsatz.
Komplikationen
Komplikationen ergeben sich vor allem durch die komplexe Anatomie des Os petrosum. Am häufigsten betroffen sind die Hirnnerven VII und VIII, die Gehörknöchelchen und die otische Kapsel.
Fazialisparese
Fazialisparesen treten in 7 bis 16 % der Fälle auf, insbesondere bei Längsfrakturen oder bei Beteiligung der otischen Kapsel. Eine sofort auftretende Parese spricht für eine Durchtrennung mit schlechter Prognose, während eine verzögerte Parese durch Ödem oder Hämatomkompression bedingt ist und ein besseres Outcome hat. Die häufigsten Verletzungsorte sind das Ganglion geniculi, das tympanische Segment und das Mastoidsegment, seltener der Meatus acusticus internus oder eine Fraktur des Processus styloideus. Kann die CT die Schädigung nicht sicher lokalisieren, sind MRT-Untersuchungen hilfreich. Dabei deuten intrinsische T1-Hyperintensitäten auf Hämatome hin. Eine Kontrastmittelaufnahme ist an Ganglion geniculi, tympanischem und mastoidalem Segment physiologisch möglich. Persistierende Signaländerungen sprechen für eine Fibrosierung.
Weitere Hirnnervenschädigungen
Werden im Rahmen der Fraktur auch Strukturen des Foramen jugulare einbezogen, können Nervus glossopharyngeus, Nervus vagus und Nervus accessorius geschädigt sein. Selten beschrieben sind Läsionen des Nervus trigeminus oder des Nervus abducens.
Liquorfistel
Liquorfisteln entstehen entweder als Rhinorrhoe bei intaktem Trommelfell oder als Otorrhoe bei Trommelfellruptur. Auch ein Abfließen entlang des Rachens ist möglich. Diagnostisch hilfreich ist der Nachweis von Beta-2-Transferrin. Besonders bei Frakturen des Tegmen tympani sollte daran gedacht werden. Kommt es durch eine Ruptur der otischen Kapsel zum Austritt von Liquor aus der hinteren Schädelgrube ins Mittelohr, heilen diese Frakturen meist nicht vollständig aus und bergen ein erhöhtes Risiko für eine Meningitis. Die Inzidenz liegt bei 14 bis 25 %, häufig mit Pneumokokken, Streptokokken oder Haemophilus influenzae als Erreger. Ist die CT unklar, können dünnschichtige T1-FS-Sequenzen, eine Zisternographie oder eine intrathekale Fluoresceingabe hilfreich sein.
Perilymphfistel
Eine Perilymphfistel liegt vor, wenn Liquor nicht nach außen abfließt, sondern eine pathologische Verbindung zwischen Innen- und Mittelohr beziehungsweise Mastoidzellen besteht. Hinweise sind Pneumolabyrinth oder Pneumocochlea. Knöchern können eine Stapes-Dislokation oder Verletzungen am runden und ovalen Fenster erkennbar sein. Klinisch treten Vertigo, Nystagmus, fluktuierender Hörverlust und Kopfschmerzen auf.
Hörminderung
Etwa 24 % aller Patienten berichten nach einer Felsenbeinfraktur über eine Minderung des Hörvermögens. Es können drei Formen unterschieden werden: eine sensorineurale Schwerhörigkeit, eine Schallleitungsschwerhörigkeit oder eine kombinierte Form.
Sensorineurale Schwerhörigkeit
Die sensorineurale Schwerhörigkeit tritt vor allem bei Verletzungen der otischen Kapsel auf, ist aber auch ohne sichtbare knöcherne Beteiligung möglich. Eine wichtige Ursache sind Blutungen in der Cochlea oder im Vestibularorgan. Diese lassen sich in der MRT in nativen T1-gewichteten Sequenzen als hyperintense Signale nachweisen, teilweise auch in FLAIR. Bei Verdacht auf eine Perilymphfistel kann ebenfalls eine Hörminderung zusammen mit Schwindel auftreten, oft ohne korrelierende knöcherne Läsion. Eine Kontrastmittelaufnahme kann bei länger zurückliegendem Trauma auf entzündliche Veränderungen hinweisen. Auch Verletzungen des membranösen Labyrinths sind möglich, ohne dass sich ein morphologisches Korrelat in der Bildgebung nachweisen lässt. Insgesamt ist die Prognose für eine sensorineurale Schwerhörigkeit nach Felsenbeinfraktur eher ungünstig.
Schallleitungsschwerhörigkeit
Die Schallleitungsschwerhörigkeit tritt bei Frakturen sowohl mit als auch ohne Beteiligung der otischen Kapsel auf. Meist ist sie initial durch ein Hämatotympanon bedingt. Persistiert die Hörminderung jedoch über fünf bis sechs Wochen hinaus, muss eine Verletzung der Gehörknöchelchen vermutet werden. Davon sind besonders Kinder betroffen. Zu den häufigsten Verletzungen zählen Luxationen und Dislokationen der Ossikel.
Die Luxation der Articulatio incudostapedia ist am häufigsten. Sie wird in der Bildgebung am besten in einer Schrägprojektion beurteilt, die in einem Winkel von 90° zum ovalen Fenster angefertigt wird. Normalerweise bilden der Processus lenticularis und der Steigbügel ein "V". Ist in diesem V ein Spalt erkennbar, spricht dies für eine Luxation. In der Praxis wird die Beurteilung oft durch ein begleitendes Hämatotympanon erschwert.
Die Luxation der Articulatio incudomallearis ist die zweithäufigste Form und tritt meist bei Längsfrakturen auf. Für die Beurteilung eignen sich axiale und koronare CT-Aufnahmen. Typischerweise findet sich die sogenannte "ice-cream-cone-Konfiguration", bei der der Kopf des Malleus die Eiskugel darstellt und der Korpus mit dem Crus longum des Incus der Waffel entspricht. Wenn die Kugel aus der Waffel herausgesprungen ist, liegt eine Luxation vor. Gelegentlich bleibt die Artikulation intakt, die Gehörknöchelchen sind jedoch insgesamt disloziert, meist nach medial.
Eine Dislokation des Incus kann ebenfalls auftreten. Wenn er nach lateral disloziert ist, zeigt sich in der koronaren Bildgebung eine Y-förmige Konfiguration der Articulatio incudomallearis bei intaktem "ice-cream cone".
Isolierte Frakturen der Ossikel sind insgesamt seltener als Luxationen. Beim Malleus tritt die Fraktur meist am Manubrium mallei auf, beim Incus am langen Schenkel (Crus longum), beim Stapes an der Fußplatte (Basis stapedis), insbesondere wenn das ovale Fenster in die Frakturlinie einbezogen ist. Durch diese Verletzungen können Perilymphfisteln entstehen.
Eine stapediovestibuläre Dislokation entsteht vor allem durch penetrierende Traumata. Sie zeigt sich bildgebend als leeres ovales Fenster. Der Stapes ist normalerweise durch das Ligamentum anulare stapedis an der Fenestra ovalis fixiert. Bei Dislokation kann dieses Ligament reißen, was häufig zu einer Perilymphfistel führt.
Cholesteatome
Langfristig können sich Cholesteatome entwickeln, wenn Epithelzellen über Frakturlinien disloziert und eingewachsen sind. Da das Os petrosum nur langsam Kallus bildet, bleibt Zeit für das Einwachsen, sodass Symptome oft erst nach Jahren durch Beteiligung von Gehörknöchelchen, Labyrinth oder Nervus facialis auftreten.
Gefäßverletzungen
Gefäßverletzungen sind selten, aber gefährlich. Nur etwa elf Prozent der Frakturen mit Beteiligung des Canalis caroticus führen zu relevanten Verletzungen der Arteria carotis interna. Weitere mögliche Komplikationen sind Thrombosen des Sinus sigmoideus oder der Vena jugularis interna.
Schwindel
Vertigo ist eine häufige, meist milde und transiente Folge. Er entsteht durch direkte Verletzungen des Vestibularorgans, des Aquaeductus vestibuli oder des Nervus vestibulocochlearis. Auch eine Commotio labyrinthi oder eine Cupulolithiasis sind möglich. Grundsätzlich sollte auch an Verletzungen des Hirnstamms gedacht werden. Tritt Schwindel zusammen mit fluktuierendem Hörverlust auf, ist eine Perilymphfistel möglich.
Therapie
- Basismaßnahmen: Bettruhe, Gehörgang-Toilette, steriler Ohrverband, Schnäuzverbot, abschwellende Nasentropfen
- Antibiotikaprophylaxe mit Amoxicillin/Clavulansäure oder Cephalosporinen (z.B. Ceftriaxon): nur bei Nachweis einer Liquorfistel.
Bei Vorliegen eines Innenohrtraumas und/oder einer Fazialisspätparese erfolgt die gleiche Therapie wie bei einem Hörsturz, d.h. mit Rheologika und Glukokortikoiden.
OP-Indikationen
- Persistenter Trommelfelldefekt
- Unterbrechung der Gehörknöchelchenkette, Ambossluxation
- Persistierende Otoliquorrhoe
- Starke Blutung aus Gehörgang (Sinus sigmoideus-Verletzung)
- Sofortparese (< 24 h) des Nervus facialis
Prognose
- Längsfraktur: ca. 70 % restitutio ad integrum
- Querfraktur: bleibende Ausfälle
- Defektheilung des Nervus facialis, ca. 30 %