Neuro-Sjögren
Englisch: neurological manifestation of Sjögren
Definition
Unter einem Neuro-Sjögren versteht man die neurologische Manifestation des primären Sjögren-Syndroms (pSS), bei der das zentrale und/oder periphere Nervensystem betroffen ist.
Epidemiologie
Neurologische Manifestationen treten bei etwa 15–25 % der Patienten mit primärem Sjögren-Syndrom auf, nach manchen Angaben auch in bis zu einem Drittel der Fälle.[1][2]
Das Erkrankungsalter liegt typischerweise im 5. bis 6. Lebensjahrzehnt. In etwa zwei Dritteln der Fälle gehen neurologische Symptome der systemischen Manifestation voraus.[3][4] Während das Sjögren-Syndrom insgesamt eine ausgeprägte Geschlechterdiskrepanz zeigt (m:w = 1:20), ist diese bei neurologischen Verlaufsformen deutlich geringer ausgeprägt.[3]
Die Diagnose erfolgt im Mittel rund zehn Jahre nach der neurologischen Erstmanifestation, da die Präsentation häufig isoliert neurologisch verläuft und seronegative oder oligosymptomatische Formen die Diagnosestellung erschweren.[3]
Pathophysiologie
Die neurologischen Manifestationen des Sjögren-Syndroms beruhen auf einer fehlgesteuerten Immunreaktion mit anhaltender Aktivierung von B- und T-Zellen. Es kommt zu lymphozytären Infiltraten, Gefäßentzündungen und sekundären degenerativen Veränderungen im Nervensystem. Autoantikörper und Immunkomplexe schädigen das Endothel kleiner Gefäße und verursachen eine immunvermittelte Vaskulopathie der kleinen Gefäße, die sowohl das periphere als auch das zentrale Nervensystem betreffen kann.
Peripheres Nervensystem
Für die Beteiligung des peripheren Nervensystems sind folgende Mechanismen charakteristisch:
- Entzündliche Infiltration (Ganglionitis und Neuritis): Die lymphozytäre Infiltration der Spinalganglien sowie der peripheren Nerven mit Beteiligung von T- und B-Zellen führt zum Verlust sensibler Neurone und zu entzündlich-degenerativen Veränderungen innerhalb der Nervenfasern.
- Vaskulitische Neuropathie: Sie basiert auf einer Entzündung der Vasa nervorum mit Endothelschaden und ischämischer Axonopathie. Die axonalen Läsionen sind in der Regel multifokal verteilt, können bei ausgedehnter oder chronischer Gefäßbeteiligung jedoch auch ein polyneuropathisches Schädigungsmuster annehmen.
- Small-Fiber-Neuropathie: Darunter versteht man die entzündlich-degenerative Schädigung dünner C- und Aδ-Fasern infolge proinflammatorischer Zytokinfreisetzung und Komplementaktivierung.
Zentrales Nervensystem
Im ZNS dominieren eine immunvermittelte Vaskulopathie der kleinen Gefäße und eine entzündlich bedingte sekundäre Demyelinisierung:
- Mikrovaskulopathie kleiner Gefäße: Endothelschädigung mit Aktivierung des Komplementsystems, subendothelialen Ablagerungen und Mikroischämien. Eine echte nekrotisierende Vaskulitis ist selten.
- Perivaskuläre und parenchymatöse Infiltration: CD4⁺- und CD8⁺-T-Zellen, B-Zellen und Makrophagen mit Komplementablagerungen führen zu Axonverlust, sekundärer Demyelinisierung und reaktiver Gliose. Auch Multiple Sklerose-ähnliche Läsionen sind möglich.
Experimentelle Daten zeigen, dass T-Zellen, die auf Aquaporin-5 (AQP5) aus den Speichel- und Tränendrüsen reagieren, aufgrund von Sequenzähnlichkeiten auch Aquaporin-4 (AQP4) im ZNS erkennen und dadurch eine NMOSD-ähnliche Autoimmunreaktion auslösen könnten.[5]
Symptome
Die neurologische Symptomatik beim Sjögren-Syndrom ist vielfältig und kann periphere und zentrale Strukturen betreffen. In rund 80 % der Fälle mit neurologischer Beteiligung dominiert eine periphere Manifestation, während ZNS-Beteiligungen seltener sind (20 %), aber meist schwerer verlaufen.[6]
Neurologische Symptome können Jahre vor der Sicca-Symptomatik auftreten und die Erstmanifestation darstellen. Der Verlauf ist häufig chronisch-progredient, bei Myelitiden und vaskulitischen Neuropathien jedoch oft schubförmig-rezidivierend.
Risikofaktoren für eine neurologische Beteiligung sind:[7][8]
- männliches Geschlecht
- höheres Alter bei Krankheitsbeginn
- hohe Autoantikörperlast (Anti-SSA/Ro)
- Komplementverbrauch
- extraglanduläre Organbeteiligungen (v. a. Lunge).
| Manifestationsform | Beschreibung |
|---|---|
| Distale axonale Polyneuropathie | Häufigste Manifestation. Symmetrische, distal betonte sensomotorische oder sensible Neuropathie mit Parästhesien, Hypästhesien und brennenden Schmerzen an Füßen und Händen. Chronisch-progredienter Verlauf, motorische Beteiligung meist mild. |
| Sensible Ganglionopathie (Neuronopathie) | Nicht-längenabhängige, asymmetrische sensible Ausfälle mit Verlust der Tiefensensibilität, Ataxie und Gangunsicherheit. Reflexe häufig erloschen, Motorik in der Regel erhalten. |
| Mononeuritis multiplex | Asymmetrisch verteilte, schmerzhafte Ausfälle einzelner peripherer Nerven infolge einer vaskulitischen Neuropathie. Kombination aus sensiblen und motorischen Defiziten, oft schubweiser Verlauf. |
| Small-Fiber-Neuropathie | Brennende Schmerzen, Allodynie, Temperatur- und Schmerzempfindungsstörungen, vegetative Symptome (Orthostase, Anhidrose). |
| Kraniale Neuropathie | Sehr selten (< 5%). Vor allem Nervus trigeminus, seltener Nervus facialis betroffen. Teilweise Kombination mit sensibler Ataxie oder Polyneuropathie. |
| Manifestationsform | Beschreibung |
|---|---|
| Myelitis | Spastische Paraparese, sensomotorische Ausfälle, Blasenstörungen. Häufig longitudinal ausgedehnte Läsion (LETM). In 20–30 % der Fälle sind Aqp4-Antikörper nachweisbar (Overlap mit NMOSD). |
| Zerebrale Beteiligung | Kognitive Defizite, psychiatrische Symptome, Schlaganfall-ähnliche Ereignisse durch kleingefäßvaskulitische Ischämien. |
| Demyelinisierende und MS-ähnliche Läsionen | Multifokale demyelinisierende Herde, klinisch und radiologisch MS-ähnlich. |
| Aseptische Meningitis | Kopfschmerz, Nackensteifigkeit, lymphozytäre Liquorpleozytose, meist selbstlimitierend. |
Diagnostik
Bei Neuro-Sjögren erfolgt die Diagnosestellung durch den Nachweis eines primären Sjögren-Syndroms und den Nachweis einer entsprechenden neurologischen Beteiligung. Diese geht dem systemischen Krankheitsbild häufig zeitlich voraus. Wegen des häufigen Fehlens klassischer Sicca-Symptome und seronegativer Verläufe ist eine interdisziplinäre Diagnostik durch Neurologie und Rheumatologie besonders wichtig.
siehe Hauptartikel: Sjögren-Syndrom
Liquordiagnostik
Der Liquorbefund ist beim Neuro-Sjögren häufig normal. Bei peripherer Beteiligung bleibt er in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle unauffällig, vereinzelt finden sich leicht erhöhte Proteinwerte.[9] Bei zentralnervöser Beteiligung treten Veränderungen häufiger auf. Eine milde lymphozytäre Pleozytose wird in etwa 30–40 % beobachtet, erhöhte Gesamtproteinwerte oder ein erhöhter Albuminquotient liegen in rund 40–60 % der Fälle vor.[8] Liquor-spezifische oligoklonale Banden finden sich in etwa 25 % der Fälle, bei demyelinisierenden oder MS-ähnlichen Verläufen jedoch deutlich häufiger.[4] Die Datenbasis für diese Angaben ist allerdings beschränkt, sodass es sich um keine etablierten Standardwerte handelt.
Bildgebung
- Gehirn: Das MRT zeigt bei ZNS-Manifestationen meist wenige, kleine, T2- oder FLAIR-hyperintense Läsionen der subkortikalen oder periventrikulären weißen Substanz. MS-ähnliche demyelinisierende Läsionen sind möglich, sie sind jedoch seltener. Gegen eine primäre MS spricht ein höheres Erkrankungsalter, eine nicht MS-typische Läsionsverteilung und ein fehlendes MS-typisches Liquorprofil.
- Rückenmark: Typisch sind longitudinal ausgedehnte T2-Läsionen über drei oder mehr Segmente, häufig zervikal und eher zentral gelegen. Kürzere, fokale Läsionen kommen ebenfalls vor. Früh im Verlauf kann das spinale MRT trotz klinischer Myelitis noch unauffällig sein.
Neurophysiologie
Die neurophysiologische Diagnostik dient der Objektivierung der peripheren Beteiligung:
- Distale sensible oder sensomotorische axonale Polyneuropathie: In der Elektroneurographie deutlich verminderte sensible Nervenaktionspotenziale, motorische Leitungen meist normal oder leicht verlangsamt, axonales Muster.
- Sensible Ganglionopathie: Sensible Nervenaktionspotenziale häufig nicht mehr ableitbar und nicht-längenabhängig, motorische Leitungen normal.
- Vaskulitische Neuropathie/Mononeuritis multiplex: Asymmetrische axonale Ausfälle einzelner Nerven, teils motorisch, ohne symmetrisches Muster.
- Small-Fiber-Neuropathie: Elektroneurographie und Elektromyographie meist unauffällig, Nachweis durch quantitative sensorische Testung, autonome Funktionstests oder Bestimmung der intraepidermalen Nervenfaserdichte in der Hautbiopsie.
Nervenbiopsie
Eine Nervenbiopsie wird bei unklarer, asymmetrischer oder schmerzhafter Neuropathie und bei Verdacht auf eine vaskulitische Form eingesetzt. Typisch sind lymphozytäre Infiltrate, eine Vaskulitis der Vasa nervorum und eine axonale Schädigung. Die Biopsie liefert keinen spezifischen Beweis für einen Neuro-Sjögren, ist jedoch zur Abgrenzung gegenüber systemischen Vaskulitiden, etwa ANCA-assoziierten oder kryoglobulinämischen Vaskulitiden sowie sarkoidose-assoziierten Neuropathien hilfreich.
Differentialdiagnosen
| Manifestationsform | Differentialdiagnosen |
|---|---|
| Distale sensible oder sensomotorische axonale Polyneuropathie |
Diabetische Polyneuropathie, Alkoholtoxische Polyneuropathie , Medikamentös-toxische Neuropathie (z. B. Chemotherapeutika) , Paraneoplastische Neuropathie, Amyloidose, Vaskulitische Polyneuropathie |
| Sensible Ganglionopathie (Neuronopathie) |
Paraneoplastische sensorische Neuronopathie (Anti-Hu), Idiopathisch autoimmune Ganglionopathie, Neurosarkoidose |
| Mononeuritis multiplex |
ANCA-assoziierte Vaskulitis, Polyarteriitis nodosa , Hepatitis-C-assoziierte Kryoglobulinämie, Rheumatoide Vaskulitis |
| Small-Fiber-Neuropathie (SFN) |
SFN bei Diabetes mellitus, SFN bei Amyloidose , Autoimmunvermittelt (z.B. SLE, Sarkoidose) |
| Kraniale Neuropathie | |
| Myelitis (v.a. LETM) |
NMOSD, MOGAD , Multiple Sklerose, Neurosarkoidose, paraneoplastische Myelitis, infektiöse Myelitis |
| Zerebrale Beteiligung, vaskulitisch |
Neuropsychiatrischer SLE , Primäre/sekundäre ZNS-Vaskulitis , Neurosarkoidose |
| Demyelinisierende, MS-ähnliche Läsionen |
Multiple Sklerose, NMOSD , MOGAD , Systemische Autoimmunerkrankungen (z.B. SLE, Sarkoidose) |
| Aseptische Meningitis |
Virale Meningitis, Neuro-Lupus , Neurosarkoidose |
Therapie
Die Behandlung richtet sich nach Aktivität, Lokalisation und Schwere der neurologischen Beteiligung. Eine ursächliche Therapie existiert derzeit (2025) nicht, Ziel ist die Kontrolle der immunvermittelten Entzündung und die Verhinderung bleibender neurologischer Defizite im peripheren oder zentralen Nervensystem.
Akuttherapie
Bei akuten oder progredienten Verläufen erfolgt eine Behandlung mit hochdosierten Glukokortikoiden (z. B. Methylprednisolon 1 g i.v. über 3–5 Tage, anschließend orales Ausschleichen). Dadurch lässt sich die Entzündungsaktivität meist rasch senken.
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Immunsuppressive Therapie
Bei unzureichendem Ansprechen oder schweren Verläufen wird eine weiterführende Immunsuppression durchgeführt:
- Rituximab bei ausgeprägten oder therapieresistenten Manifestationen, insbesondere bei vaskulitischer Neuropathie oder Myelitis.
- Cyclophosphamid bei spinalen oder multifokalen, rasch progredienten Verläufen.
- Azathioprin oder Mycophenolat-Mofetil zur Erhaltungstherapie und Steroidreduktion bei chronischen oder stabilen Verläufen.
Bei schmerzhaften, entzündlichen Polyneuropathien kann eine Behandlung mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG) versucht werden. In akuten, steroidrefraktären Schüben können Plasmapherese oder Immunadsorption vorübergehend eingesetzt werden, um die Entzündungsaktivität zu reduzieren.
Ergänzend ist ggf. eine konsequente Schmerztherapie (z.B. mit Gabapentin oder Pregabalin) sowie Physio-, Ergo- und ggf. Logopädie notwendig.
Prognose
Der Verlauf des Neuro-Sjögren-Syndroms ist sehr variabel und hängt von der Manifestationsform ab. Periphere Neuropathien verlaufen meist chronisch-progredient, stabilisieren sich unter Therapie jedoch häufig. Eine vollständige Rückbildung ist selten, funktionelle Verbesserungen treten bei etwa der Hälfte der Patienten auf.
Zentrale Manifestationen, insbesondere Myelitiden, haben eine ungünstigere Prognose. Auch nach intensiver Immuntherapie bleiben oft motorische oder sensible Restdefizite zurück. Rezidive sind möglich, besonders bei Absetzen der Immunsuppression.
Die Mortalität ist bei Neuro-Sjögren insgesamt niedrig, die Lebensqualität wird jedoch durch persistierende Schmerzen oder sensomotorische Defizite häufig eingeschränkt. Eine frühe Diagnose und konsequente Therapie erhöhen die Chance auf ein gutes funktionelles Ergebnis.
Quellen
- ↑ Thurtle E et al. Epidemiology of Sjögren’s: A Systematic Literature Review. Rheumatology and Therapy. 2024
- ↑ Konak H. E. et al. Neurological Involvement in Patients with Primary Sjögren’s Syndrome: A Retrospective Cross-Sectional Study. Annals of the Indian Academy of Neurology. 2023
- ↑ 3,0 3,1 3,2 Seeliger T et al. Neuro-Sjögren. DGNeurologie. 2021
- ↑ 4,0 4,1 Afzali AM et al. CNS demyelinating events in primary Sjögren's syndrome: A single-center case series on the clinical phenotype. Frontiers in Neurology. 2023
- ↑ Moseley C. E. et al. Sjögren Syndrome Candidate Autoantigen AQP5 Triggers AQP4 CNS Autoimmunity Through Self-Antigen Mimicry. Neurology: Neuroimmunology & Neuroinflammation. 2026.
- ↑ Carvajal Alegria G et al. Epidemiology of neurological manifestations in Sjögren’s syndrome: data from the French ASSESS Cohort. RMD Open. 2016
- ↑ Seeliger T et al. Sjögren’s syndrome with and without neurological involvement. Journal of Neuroly. 2023
- ↑ 8,0 8,1 Fan W et al. Clinical features and high-risk indicators of central nervous system involvement in primary Sjögren’s syndrome. Clinical Rheumatology. 2023
- ↑ Pars K et al. Cerebrospinal fluid findings in neurological diseases associated with Sjögren’s syndrome. European Neurology. 2017