Variables Immundefektsyndrom
Englisch: common variable immunodeficiency, common variable immunodeficiency disorders
Definition
Als variables Immundefektsyndrom, kurz CVID, bezeichnet man eine heterogene Gruppe angeborener Immundefekte. Sie zeichnet sich durch Hypogammaglobulinämie, beeinträchtigte antikörperabhängige Immunabwehr und Infektneigung aus.
Abgrenzung
Unter dem Akronym "CVID" wurden ursprünglich Störungen der Antikörperproduktion ohne eng definiertes klinisches Bild zusammengefasst, um sie von Antikörpermangelsyndromen mit kohärenteren klinischen Beschreibungen und einem Mendel'schen Erbgang abzugrenzen. Mittlerweile werden unter dem Akronym alle Immundefekte zusammengefasst, auf welche die Kriterien der ESID und PAGID zutreffen.[1][2]
Epidemiologie
Die CVID ist – nach dem selektiven IgA-Mangel – die zweithäufigste angeborene und die häufigste symptomatische kongenitale Immundefizienz.[3] Europäische Erhebungen beziffern die Prävalenz des CVID auf ca. 1 - 9/100.000, wobei die Dunkelziffer möglicherweise hoch ist. Eine Geschlechterprävalenz scheint nicht zu bestehen. Die Erstdiagnose wird im Durchschnitt in einem Alter von etwa 30 Jahren gestellt, wobei eine hohe Latenz zur klinischen Erstmanifestation von ca. 5 bis 6 Jahren besteht.[4][5]
Ätiologie
Die Ätiologie ist weitgehend unklar. 5 bis 25 % der CVID-Patienten weisen eine positive Familienanamnese auf, meist mit einem autosomal-dominanten Erbmuster.[6] Bei einem sehr kleinen Anteil der Patienten können monogenetische Defekte nachgewiesen werden, die jedoch teils auch bei Gesunden zu finden sind. Sie betreffen u.a. die Gene für NFκB, TACI, BAFF, RAG-1, CTLA4, CD18, CD19, IL-21.[6][7] Neben Genmutationen werden auch epigenetische Abschaltungen von Genen als Ursache diskutiert.[7]
Pathogenese
Da es sich um eine Gruppe unterschiedlicher Immundefekte handelt, führen vermutlich verschiedene Mechanismen zur Beeinträchtigung der Antikörperproduktion. Es sind sowohl B-Zell- und T-Zell-Defekte als auch Defekte antigenpräsentierender Zellen beschrieben:[6][7]
- B-Zell-Defekte: Bei 94 % der CVID Patienten findet sich eine fehlerhafte B-Zell-Differenzierung mit stark verminderter Anzahl von Plasmazellen sowie häufig auch von B-Gedächtniszellen. Dabei kommt es wahrscheinlich zu einer Arretierung der Zellen im frühen Prä-B-Zellstadium, sodass sich keine reifen B-Zellen entwickeln, die Immunglobuline produzieren können.
- T-Zell-Störungen: Häufig lässt sich eine Verschiebung der T-Zell-Zahlen zugunsten der CD8+- und zulasten der CD4+- sowie Treg-Lymphozyten nachweisen. Auch finden sich funktionelle Störungen der T-Zellen, z.B. eine reduzierte antigenabhängige Proliferation und abnorme Zytokinproduktion. Dies wirkt sich indirekt auf die Antikörperproduktion aus. Die B-Zell-Entwicklung unterliegt einer komplexen Steuerung durch Zytokine und Mediatoren, in der die T-Helferzellen eine maßgebliche Rolle spielen. Daher folgt auf eine T-Zell-Störung in manchen Fällen eine Stimulation der B-Zell-Apoptose. Der Mangel an regulatorischen T-Zellen wird außerdem für das gehäufte Auftreten von Autoimmunreaktionen verantwortlich gemacht.
- Störungen antigenpräsentierender Zellen: Bei CVID ist die Anzahl von myeloiden und plasmazytoiden dendritischen Zellen vermindert und ihre Reaktion auf Antigene, Ausreifung und Zytokinproduktion gestört.
All diese Störungen münden letztlich in einer verminderten Produktion von Antikörpern, was zu einer gestörten Immunreaktion und -abwehr von extrazellulären Erregern führt.
Symptome
Eine CVID äußert sich hauptsächlich durch rezidivierende oder chronische Infektionen. Andere Manifestationsformen sind Autoimmunerkrankungen, lymphoproliferative Erkrankungen und maligne Tumoren sowie eine Anhäufung von Granulomen.
Infektionen
Leitsymptom der CVID ist die Infektanfälligkeit. Dabei stehen bakterielle Infektionen im Vordergrund, seltener sind parasitäre oder virale Infektionen. Am häufigsten kommen vor:
- Atemwegsinfektionen, insb. durch Streptococcus pneumoniae, Staphylokokkus aureus, Haemophilus influenzaefluenzae, Moraxella catarrhalis, Mycoplasmen:
- Sinusitiden
- rezidivierende Pneumonien
- häufig mit Bronchiektasienbildung
- Magen-Darm-Infekte
Weitere Infektionen können nahezu jedes Organ betreffen. Es können u.a. Hautabszesse, Meningitiden, Otitiden, Osteomyelitiden, Harnwegsinfektionen und Virushepatitiden auftreten. Der Infektionsschutz durch Impfungen ist vermindert, Lebendimpfungen tragen ein deutlich gesteigertes Risiko für Komplikationen.
Lymphoproliferative Erkrankungen und Tumore
Bei CVID-Patienten finden sich gehäuft:[1]
- benigne Lymphoproliferation mit Hepato- und Splenomegalie, Lymphadenopathie
- Lymphome (3 bis 10 % der Fälle), insbesondere B-NHL
- Magenkarzinome (relatives Risiko 10 bis 47 %)
Eine Assoziation mit weiteren soliden Tumoren wird diskutiert, konnte aber noch nicht zweifelsfrei belegt werden.
Autoimmunerkrankungen
In 20 bis 30 % der Fälle treten Autoimmunerkrankungen auf,[1] in Einzelfällen auch als alleiniges Symptom der Erkrankung.[6] Hierzu zählen unter anderem:
- ITP, AIHA und Evans-Syndrom (häufigste Manifestation)
- Kollagenosen, z.B. SLE, Sjögren-Syndrom
- RA
- JIA
- Morbus Behçet
- Hashimoto-Thyreoiditis
- Vitiligo
- Uveitiden verschiedener Art
- CVID-spezifische Autoimmunenteropathie mit Malabsorption und Sprue-ähnlicher Diarrhoe
- Autoimmunhepatitis, PBC und PSC
Granulomanhäufung
Bei 8 bis 22 % der CVID-Patienten lassen sich Anhäufungen von nicht-verkäsenden Epitheloidzellgranulomen in diversen Organen nachweisen,[1] insbesondere in:
- Lunge (DD Sarkoidose)
- Lymphknoten mit Lymphadenopathie
- Leber mit Hepatomegalie, z.T. Leberschädigung
- seltener Nieren, Knochenmark, ZNS und GIT
Diagnostik
Wegweisend ist die Anamnese mit rezidivierenden Infekten. In der Serumelektrophorese findet sich ein Mangel an Immunglobulinen (IgA, IgM und vor allem IgG).
Diagnosekriterien
Nach den Diagnosekriterien der ESID und PAGID gilt eine CVID als möglich, wenn mindestens zwei der folgenden Kriterien zutreffen:[2]
- deutliche Verminderung des IgG-Serumspiegels (mindestens 2 Standardabweichungen vom Altersmittel) sowie mindestens eines weiteren Isotyps (IgA oder IgM)
- Beginn der Immundefizienz nicht vor dem zweiten Lebensjahr
- Fehlen der Isohämagglutinine und/oder mangelhafte Reaktion auf Impfstoffe
- Ausschluss anderer Ursachen einer Hypogammaglobulinämie
Therapie
Die Therapie ist symptomatisch ausgerichtet, die Behandlungsoptionen sind allerdings beschränkt. Der Mangel an Immunglobulinen kann durch eine lebenslange Immunglobulinsubstitution ausgeglichen werden. Dabei kommen intravenöse Immunglobuline (IVIg) oder subkutane Immunglobuline (SCIg) zum Einsatz. Die Frequenz bakterieller Infekte kann dadurch gesenkt werden, was die Prognose deutlich verbessert hat. Eine Symptomfreiheit wird jedoch nicht erreicht.
Auftretende bakterielle Infekte müssen antibiotisch behandelt werden. Bei Autoimmunphänomenen ist eine immunsuppressive Therapie angezeigt, z.B. mit Glukokortikoiden.
Nach allogener Stammzelltransplantation, wie sie z.B. bei assoziierten Lymphomen notwendig werden kann, konnten einige CVID-Fälle geheilt werden.[8]
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 Bonilla FA, et al.: "International Consensus Document (ICON): Common Variable Immunodeficiency Disorders" Journal of Allergy and Clinical Immunology, 2016
- ↑ 2,0 2,1 European Society for Immunodeficiencies: "Common Variable Immunodeficiency (CVI) diagnosis criteria" Aufgerufen 20.07.2023
- ↑ Jeevarathnum AC, van Niekerk A, Kriel J, Green RJ.: "Common variable immunodeficiency disorders: What generalists should know" African Journal of Thoracic and Critical Care Medcine, 2021
- ↑ CEREDIH: The French PID study group: "The French national registry of primary immunodeficiency diseases" Clinical Immunology, 2010.
- ↑ Edgar JD, et al.: "The United Kingdom Primary Immune Deficiency (UKPID) Registry: report of the first 4 years' activity 2008-2012" Clinical and Experimental Immunology, 2014
- ↑ 6,0 6,1 6,2 6,3 Song J, et al.: "Common Variable Immunodeficiency and Liver Involvement" Clinical Reviews in Allergy and Immunology, 2018
- ↑ 7,0 7,1 7,2 Yazdani R, et al.: "Common Variable Immunodeficiency: Epidemiology, Pathogenesis, Clinical Manifestations, Diagnosis, Classification, and Management" Journal of Investigational Allergology and Clinical Immunology, 2020
- ↑ Rizzi M, Neumann C, Fielding AK, et al.: "Outcome of allogeneic stem cell transplantation in adults with common variable immunodeficiency" Journal of Allergy and Clinical Immunology, 2011