Proximale Humerusfraktur
Synonyme: Humeruskopffraktur, Oberarmkopffraktur, subkapitale Humerusfraktur
Englisch: proximal humerus fracture, humeral head fracture, humeral neck fracture, surgical neck fracture
Definition
Bei der proximalen Humerusfraktur handelt es sich um einen Knochenbruch des körpernah gelegenen Teils des Oberarmknochens im Bereich des Caput oder Collum humeri. Häufig liegt eine so genannte subkapitale Humerusfraktur in Höhe des Collum chirurgicum vor.
Epidemiologie
Proximale Humerusfrakturen sind häufige Frakturen. Sie machen etwa 1 % aller Frakturen und 2 bis 3 % der Frakturen der oberen Extremität aus. Ihre Inzidenz beträgt ca. 70/100.000/Jahr, mit dem Alter deutlich ansteigend (z.B. Frauen über 70 Jahre: 400/100.000/Jahr). Im Alter steht die Fraktur im Zusammenhang mit einer Osteopenie und betrifft dann Frauen dreimal häufiger. In diesem Fall sind Trümmerfrakturen des Collum chirurgicums keine Seltenheit. Bei jungen Patienten handelt es sich meist um ein Hochrasanztrauma. Das Frakturmuster ist dabei sehr variabel.
Ätiologie
Die proximale Humerusfraktur wird meist durch ein indirektes Trauma verursacht (z.B. Sturz auf den ausgestreckten Arm mit starker Abduktion im Schultergelenk. Auch eine direkte Krafteinwirkung, beispielsweise im Rahmen eines Hochrasanztraumas ist nicht unüblich. Seltenere Ursachen sind Knochenmetastasen, primäre Knochentumoren oder maligne Lymphome.
Pathophysiologie
Die Frakturfragmente werden durch die Sehnenansätze verschoben: Der Musculus pectoralis major verlagert den Humerusschaft nach medial. Das Tuberculum majus wird durch den Musculus supraspinatus nach superior und durch den Musculus infraspinatus nach posterior verschoben. Der Musculus subscapularis verlagert das Tuberculum minus nach medial.
Begleitverletzungen
Eine typische Begleitverletzung ist die Schädigung des Nervus axillaris, seltener des Nervus suprascapularis, des Nervus musculocutaneus oder des Plexus brachialis. Weiterhin kommen Verletzungen der axillären Gefäße sowie der Arteria circumflexa humeri anterior vor.[1] Wenn sich die lange Bizepssehne zwischen den Frakturfragmenten einklemmt, kann dies eine Reposition der Fraktur verhindern. Durch den verminderten Muskeltonus und durch einen Lipohämarthros kann es zu einer inferioren (Pseudo-)Subluxation der Schulter kommen.
Insbesondere bei Frakturen des Collum anatomicum oder bei deutlich dislozierten Frakturen besteht das Risiko einer Osteonekrose des Humeruskopfes. Das Risiko ist erhöht bei älteren Patienten, medialem metaphysärem Kortikalissporn < 8 mm oder Dislokation > 2 mm.
Weitere Komplikationen der proximalen Humerusfraktur sind:
- Omarthrose bei intraartikulärer Fraktur
- heterotope Ossifikation
- traumatische Rotatorenmanschettenruptur
Klinik
Zum klinischen Befund zählen u.a. Schulterschmerzen, eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung und ein Druckschmerz am Humeruskopf. Eventuell besteht auch ein Bluterguss, z.B. in der Achselhöhle, seitlich an der Thoraxwand oder auf der medialen Seite des Oberarms.
Klassifikation
...nach Lokalisation
Proximale Humerusfrakturen sind meist im Bereich der Metaphyse lokalisiert, das heißt im Bereich des Collum chirurgicum. Auch eine isolierte Tuberculum-majus-Fraktur kann vorkommen.
Frakturen des Humeruskopfs befinden sich innerhalb der Gelenkkapsel. Dazu zählen Frakturen des Collum anatomicum, des Gelenkspalts (Head-Split-Frakturen) aber auch Hill-Sachs-Impaktionsfrakturen nach einer Schulterluxation. Das Ausmaß der Beteiligung der Gelenkfläche ist therapeutisch und prognostisch relevant.
...nach AO-Klassifikation
- Typ A: unifokale, extraartikuläre Fraktur. Geringes Risiko einer Humeruskopfnekrose
- A1: Tuberculum majus
- A2: Collum chirurgicum (Metaphyse), impaktiert
- A3: Collum chirurgicum (Metaphyse), nicht-impaktiert
- Typ B: bifokale, extraartikuläre Fraktur (Tuberculum majus und Metaphyse)
- B1: mit metaphysärer Impaktion
- B2: ohne metaphysärer Impaktion
- B3: mit glenohumeraler Luxation
- Typ C: intraartikuläre Fraktur, meist mit Beteiligung des Collum anatomicum
- C1: leichte Verschiebung
- C2: Impaktion und deutliche Verschiebung
- C3: Disloziertes Humeruskopffragment
...nach Codman
Die Codman-Klassifikation basiert auf der 4-Fragment-Theorie, die von dem US-amerikanischen Chirurgen Ernest Amory Codman im Jahr 1934 entwickelt wurde.
...nach Neer
Basierend auf der Codman-Klassifikation wurde die Neer-Klassifikation entwickelt. Sie betrachtet ebenfalls 4 potentielle Hauptfragmente:
- Humeruskopf
- Humerusschaft
- Tuberculum majus
- Tuberculum minus
Die Einteilung erfolgt nicht nach der Anzahl der Frakturlinien, sondern nach der Anzahl der verschobenen bzw. angulierten Hauptfragmente:
- 1-Fragment-Fraktur (minimal-verschobene proximale Humerusfraktur): keine Fragmente > 1 cm verschoben oder um > 45° zueinander abgewinkelt. Die Fragmente sind verbunden und werden durch Weichgewebe zusammengehalten. 80 % der Frakturen des Humerushalses sind nicht disloziert.
- 2-Fragment-Fraktur: 1 Fragment > 1 cm verschoben oder > 45° abgewinkelt
- 3-Fragment-Fraktur: 2 Fragmente > 1 cm verschoben oder > 45° abgewinkelt
- 4-Fragment-Fraktur: 3 Fragmente > 1 cm verschoben oder > 45° abgewinkelt
- Sonderform: Valgus-impaktierte 4-Fragment-Fraktur (Humeruskopf nach oben rotiert)
Diagnostik
Bei einer Fraktur sind stets periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität (pDMS) zu prüfen. Bei pathologischen Befunden sind weitere diagnostische Schritte einzuleiten. Neben Anamnese und klinischem Befund werden initial Röntgenaufnahmen angefertigt.
Konventionelles Röntgen
Häufig sind drei Ebenen notwendig:
- anteroposteriore Projektion (a.p.)
- axiale Projektion
- seitliche Projektion (Y-Aufnahme)
In typischen Fällen ist eine Aufhellungslinie durch das Collum chirurgicum bzw. Humeruskopf oder einer Tuberositas erkennbar. Die Frakturlinien können durch Osteopenie, Adipositas, überlagernde Fragmente oder bei nicht-dislozierten Frakturen schwer erkennbar sein. Bei einer Impaktion kann auch eine sklerotische Linie vorliegen.
Computertomographie
Mittels der Computertomographie (CT) kann das Ausmaß der Verschiebung und Angulation der Fragmente besser beurteilt werden. Weiterhin dient sie der Beurteilung einer assoziierten Schultergelenkluxation sowie einer Glenoidfraktur. Auch nicht-dislozierte Frakturen sowie Lipohämarthros sind einfacher nachzuweisen. Zur Operationsplanung wird ebenfalls eine CT angefertigt.
Magnetresonanztomographie
Die Magnetresonanztomographie (MRT) dient der Beurteilung von Sehnen- und Bandverletzungen, zum Beispiel im Rahmen einer Rotatorenmanschettenruptur. Entscheidend ist dabei die T2w-FS-Sequenz. Bei nicht-dislozierten Tuberculum-majus-Frakturen ist sie ebenfalls hilfreich. Liegt der Verdacht auf eine pathologische Fraktur vor, kann ebenfalls eine MRT durchgeführt werden.
Differenzialdiagnosen
- Schultergelenkluxation: Auskugelung (Luxation) des Schultergelenks, wobei der Humeruskopf aus dem Glenoid tritt. Kann mit einer proximalen Humerusfraktur assoziiert sein. Bei älteren Patienten ist in einigen Fällen das Tuberculum majus frakturiert. Meist ist die Weichteilschwellung geringer ausgeprägt.
- Fraktur des Glenoidrands (z.B. Bankart-Fraktur): meist nach Schultergelenkluxation
- nicht-fusionierte Epiphysenfuge: kann bei unreifem Skelett mit einer Fraktur verwechselt werden.
Therapie
Konservative Therapie
Ungefähr 80 % der proximalen Humerusfrakturen werden konservativ behandelt. Die Therapie erfolgt durch Anlage eines Gilchrist-Verbandes oder Desault-Verbandes für ca. eine Woche, Röntgenkontrolle und zunehmende Bewegungsübungen (Pendeln). Wichtig sind regelmäßige Kontrollen des Röntgenbefundes und eine effektive Frühmobilisation, um eine Versteifungstendenz der Schulter zu vermeiden.
Operative Therapie
In 20 % der Fälle ist eine Operation indiziert. Gängige Indikationen sind:
- Nicht reponierbare Frakturen mit Beteiligung der Gelenkfläche
- Impingement durch Frakturfragmente
- Dislozierte mehrfragmentäre Frakturen
- Offene Frakturen
- Abrisse von Tuberculum minus bzw. Tuberculum majus mit vollständiger Dislokation
- neurovaskuläre Begleitverletzungen
Zur operativen Versorgung stehen je nach Frakturbefund verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Dies sind unter anderem:
- Spickdrahtosteosynthese (z.B. bei subkapitaler Fraktur)
- Schraubenosteosynthese und Zuggurtungsosteosynthese (z.B. bei Tuberculum-Abrissen)
- Plattenosteosynthese
- Prothethischer Gelenkersatz
...nach Klassifikation
Basierend auf der Neer-Klassifikation existieren verschiedene Therapieoptionen:
1-Fragment-Fraktur
Minimal-dislozierte proximale Humerusfrakturen werden konservativ behandelt. Auch bei älteren Patienten mit einer Verlagerung um > 1 cm kann gelegentlich eine konservative Therapie erfolgen, solange ein gewisser Kontakt der Fragmente besteht.
2-Fragment-Fraktur
Bei einer 2-Fragment-Fraktur des Collum chirurgicum wird initial eine geschlossene Reposition durchgeführt. Wenn die anteriore Abwinkelung nicht auf < 45° reduziert werden kann oder eine eingeklemmte Bizepssehne vorliegt, ist eine Operation notwendig.
Bei 2-Fragment-Frakturen des Tuberculum majus ist bei einer Verschiebung von > 5 mm nach oben oder > 10 mm nach hinten eine Operation notwendig. Eine 2-Fragment-Fraktur des Tuberculum minus wird geschlossen reponiert, sofern das Fragment die Innenrotation nicht blockiert.
3- und 4-Fragment-Frakturen
3- und 4-Fragment-Frakturen werden meist chirurgisch reponiert und fixiert.
Prognose
Bei eingestauchten Frakturen besteht unter konservativer Therapie eine gute Prognose. Mehrsegmentfrakturen, Trümmerbrüche und Luxationsfrakturen sind weniger günstig. Je mehr Segmente vorliegen, desto schlechter die Prognose.
Peer-Review durch Bijan Fink |
Literatur
- Sandstrom CK et al. Acute shoulder trauma: what the surgeon wants to know, Radiographics. 2015;35(2):475-492
- Maier D et al. Proximal humeral fracture treatment in adults, J Bone Joint Surg Am. 2014;96(3):251-261
- Cuny C et al. AST classification of proximal humeral fractures: introduction and interobserver reliability assessment, Eur J Orthop Surg Traumatol. 2013;23(1):35-40
Quellen
- ↑ Meßmer et al.: Was gibt es Neues in der Chirurgie? Jahresband 2012, S. 295