Schultergelenkluxation
Synonyme: Schultergelenksluxation, Schulterluxation, glenohumerale Luxation, Luxatio glenohumeralis
Englisch: shoulder dislocation, glenohumeral dislocation
Definition
Unter der Schultergelenkluxation oder einfacher Schulterluxation versteht man eine Auskugelung (Luxation) des Schultergelenks. Dabei tritt der Humeruskopf aus dem Glenoid, der Gelenkpfanne des Schulterblatts.
Epidemiologie
Die Schultergelenkluxation ist ein relativ häufiges orthopädisches Krankheitsbild. Mit ca. 50 % ist es die häufigste Luxation des Körpers.
Ätiopathogenese
Das Schultergelenk ist das beweglichste Gelenk des menschlichen Körpers. Die ausgeprägte Beweglichkeit beruht auf den besonderen anatomischen Verhältnissen im Bereich des Schultergelenks: Der Humeruskopf ist im Vergleich zur Gelenkpfanne an der Scapula sehr groß, die Gelenkkapsel relativ weit. Die Stabilisierung des Gelenkes erfolgt durch die Koordination von dynamischen und statischen Faktoren:
- primär dynamische Stabilisatoren: Rotatorenmanschette, langer Bizepskopf
- statische Stabilisatoren: Labrum glenoidale, Gelenkkapsel, glenohumerale Bänder, Humeruskopf und Glenoid
Zusätzlich wirken im Gelenk Kapillarkräfte und Adhäsionskräfte ("Saugnapf-Effekt").
Die ausgeprägte Beweglichkeit führt dazu, dass das Gelenk relativ anfällig für Luxationen ist, welche vor allem durch eine forcierte Abduktion und Außenrotation (z.B. bei Handballern) verursacht werden.
Formen
...nach Luxationsrichtung
- Vordere Schultergelenkluxation (Luxatio anterior): Sie macht ca. 95 % aller Luxationen im Schultergelenk aus und tritt typischerweise bei Sturz auf den dorsal ausgestreckten Arm auf. Dabei führt die Hebelwirkung durch Außenrotation und Abduktion zu einer Luxation des Humeruskopfes nach ventral unter den Processus coracoideus.
- Hintere Schultergelenkluxation (Luxatio posterior): Hier luxiert der Humeruskopf nach dorsal und kommt in der Fossa infraspinata zum Liegen. Diese Form macht ca. 2 bis 4 % der Fälle aus.
- Untere Schultergelenkluxation (Luxatio inferior, Luxatio erecta): Sie tritt typischerweise bei Sturz auf den gestreckten, hyperabduzierten (d.h. nach oben gestreckten) Arm auf.
- Obere Schultergelenkluxation (Luxatio superior): Diese Form kann auftreten, wenn das Akromion frakturiert ist. Selten.
...nach Lokalisation
Je nach endgültiger Lage des Humeruskopfes unterscheidet man zwischen:
- Luxatio subcoracoidea: bei vorderer Luxation befindet sich der Humeruskopf unter dem Processus coracoideus
- Luxatio subglenoidalis : bei vorderer oder hinterer Luxation befindet sich der Humeruskopf unter dem Glenoid
- Luxatio subclavicularis: bei vorderer Luxation kommt der Humeruskopf unter der Clavicula zum Liegen
- Luxatio intrathoracica: bei vorderer Luxation ist der Humeruskopf in den Thorax verlagert
- Luxatio subacromialis: bei hinterer Luxation unter dem Akromion
- Luxatio infraspinata: bei hinterer Luxation unter der Spina scapulae
- Luxatio axillaris: bei inferiorer Luxation
- Luxatio supracoracoidea: bei superiorer Luxation
Klinik
Neben Schulterschmerzen tritt eine deutliche Bewegungseinschränkung auf. Der Arm wird in in Schonhaltung in leichter Abduktion gehalten. Die Schulterkontur ist entrundet (Epauletten-Phänomen).
Komplikationen
Die Schultergelenkluxation geht immer mit einer Läsion der Gelenkkapsel einher. Häufig wird auch eine Bankart-Läsion, ein Abriss des vorderen Labrums, sowie der Kapsel vom vorderen Pfannenrand, beobachtet. Dieser Defekt ist der häufigste Grund für rezidivierende Schulterluxationen nach traumatischer Erstluxation.
Die ebenfalls oft beobachtete dorsolaterale Impressionsfraktur am Humeruskopf wird als Hill-Sachs-Läsion bezeichnet.
Weiterhin möglich sind eine Abrissfraktur des Tuberculum majus, eine Fraktur des Humeruskopfes sowie Verletzungen von Gefäßen und Nerven, insbesondere des Nervus axillaris.
Durch die Komplikationen kann sich eine bleibende Schultergelenkinstabilität einstellen. Die Chance auf Rezidive ist bereits nach der ersten Schulterluxation deutlich erhöht.
Diagnostik
Bei der Inspektion erscheint die Kontur der Schulter deformiert. Der Humeruskopf ist nicht in der Gelenkpfanne zu tasten. Obligat ist die Überprüfung von Durchblutung, Motorik und Sensibilität (DMS). Zur Sicherung der Diagnose werden Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen oder eine Schulter seitlich angefertigt.
Therapie
Konservativ
Die Therapie besteht in der Reposition unter Analgesie und Sedierung. Bei der Methode nach Arlt sitzt der Patient auf einem Stuhl und lässt den betroffenen Arm über die Stuhllehne hängen. Durch Zug am Arm erfolgt die Reposition. Weitere mögliche Verfahren sind:
- Reposition nach Kocher
- Reposition nach Stimson
- Reposition nach Milch
- Reposition nach Manes und Mertes
- FARES-Reposition
Bei der Methode nach Hippocrates liegt der Patient auf einer Liege. Der für die Reposition verantwortliche Arzt stemmt seinen Fuß als Hypomochlion in die Axilla des Patienten und zieht gleichzeitig am Arm. Diese Methode wird aufgrund ihrer hohen Komplikationsrate heute (2022) nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt.
Eine neuere, vielversprechende Methode, ist die FARES-Methode ("Fast, Reliable, and Safe"). Sie soll eine schnellere, schmerzärmere und sicherere Reposition im Vergleich zu Kocher und Hippokrates ermöglichen.[1] Hierbei wird unter leichten, vertikal oszillierenden Bewegungen ("rhythmisches Händeschütteln") der Arm allmählich unter Zug abduziert und ab 90° leicht nach außen rotiert.
Unabhängig von der verwendeten Methode sollten nach erfolgreicher Reposition erneut Durchblutung, Motorik und Sensibilität überprüft und nochmals Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen angefertigt werden. Es erfolgt die Ruhigstellung im Gilchrist-Verband. Um Versteifungen vorzubeugen, ist eine frühzeitige physiotherapeutische Mobilisation notwendig.
Operativ
Bei dislozierten Frakturen, Verletzungen von Gefäßen und Nerven sowie bei rezidivierenden Luxationen bei jungen Menschen ist eine Operation indiziert.
Neben der Reposition stehen dabei die Raffung der Gelenkkapsel, die Refixation des Labrum glenoidale und ggf. auch die Unterfütterung der Hill-Sachs-Delle in Kombination mit einer Drehosteotomie im Vordergrund. Bei hohem Leidensdruck kommt auch eine Latarjet-Operation infrage.
Prognose
Die Rezidivwahrscheinlichkeit liegt bei jungen Patienten ohne operative Therapie bei nahezu 100 %.
Quellen
- ↑ Sayegh FE et al.: Reduction of acute anterior dislocations: a prospective randomized study comparing a new technique with the Hippocratic and Kocher methods J Bone Joint Surg Am 2009 Dec;91(12):2775-82. doi: 10.2106/JBJS.H.01434. PMID: 19952238 DOI: 10.2106/JBJS.H.01434
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