Neuralgische Schulteramyotrophie
Synonyme: Brachial-Plexus-Neuropathie, Parsonage-Turner-Syndrom, idiopathische Armplexusneuritis, akute Schulterneuritis, akute Brachialplexitis, Schultergürtel-Syndrom, Amplexusneuritis
Englisch: Parsonage-Turner syndrome, amyotrophic neuropathy, neuralgic shoulder amyotrophy, acute brachial neuritis
Definition
Die neuralgische Schulteramyotrophie ist eine selten auftretende, akute Entzündung des Plexus brachialis, die mit heftigen Schmerzen und Lähmungen der Schulter- und Armmuskulatur einhergeht.
Epidemiologie
Die Inzidenz wird auf 2 bis 4 pro 100.000 pro Jahr geschätzt. Männer sind zwei bis elfmal häufiger betroffen. Haupterkrankungsalter ist das 2. bis 3. Lebensjahrzehnt, wobei die neuralgische Schulteramyotrophie in jedem Alter auftreten kann.
Ätiologie
Die genaue Ursache der Erkrankung ist derzeit (2023) unbekannt. In ungefähr der Hälfte der Fälle lässt sich eine immunologische Schädigung des Plexus im Sinne einer seronegativen Polyneuritis durch zirkulierende Immunkomplexe nachweisen. Auch genetische Faktoren scheinen eine wichtige Rolle zu spielen. Am häufigsten tritt eine neuralgische Schulteramyotrophie nach einer kürzlich aufgetretenen Virusinfektion und nach kürzlich erfolgter Impfung auf. Meist handelt es sich um eine Infektion der oberen Atemwege. Beschrieben wurde eine neuralgische Schulteramyothropie zudem in Assoziation mit Coxsackie-, Zytomegalie- und Hepatitis-E-Viren. Daher wird eine Virusinfektion der Nerven oder eine Autoimmunreaktion auf ein virales Antigen vermutet. Weitere Assoziationen sind:
- kürzlich durchgeführte Operationen
- Entbindungen
- Traumata
- starke körperliche Betätigung
- HIV
- Neuroborreliose
Die autosomal-dominant vererbte hereditäre neuralgische Amyotrophie (HNA) ist extrem selten.
Klinik
Die Symptomatik der neuralgischen Schulteramyotrophie ist variabel. In den meisten Fällen leiden die Patienten unter plötzlich einsetzenden, meist einseitigen, heftigen Schmerzen im Schulter- und Oberarmbereich, verstärkt zur Nacht. Der Schmerz ist nicht bewegungsabhängig, was ein wichtiges differenzialdiagnostisches Kriterium darstellt. Im Durchschnitt halten die Schmerzen 4 Wochen an. Selten wird ein schleichender schmerzloser Beginn berichtet.
Unter anhaltenden Schmerzen bilden sich innerhalb einer Woche variable Paresen, die meist die Schultermuskulatur betreffen. Fast immer sind die Musculi supraspinatus und infraspinatus beteiligt, bei den meisten Patienten auch der Musculus deltoideus. Neben Muskeln der Rotatorenmanschette können auch der Musculus serratus anterior, der Musculus trapezius und seltener die distalen Armmuskeln betroffen sein. Grundsätzlich ist auch eine Beteiligung des Nervus phrenicus (Zwerchfell), des Nervus laryngeus recurrens oder des Plexus lumbosacralis möglich. Die Schmerzlokalisationen stimmen oft nicht mit den Stellen der Parese überein.
Am häufigsten sind die Segmente C5 und C6 bzw. der Nervus suprascapularis und der Nervus axillaris betroffen.
Im weiteren Verlauf atrophiert die betroffene Muskulatur im Vergleich zur Gegenseite und die Schulter wird schmerzhaft eingesteift. Sensibilitätsstörungen treten nur in einem Drittel aller Fälle auf und sind nur gering ausgeprägt.
Die beiden Arme sind nicht gleich häufig betroffen. Der isolierte Befall des rechten Armes macht rund 65 % der Fälle aus, der isolierte Befall des linken Arms ca. 12 % der Fälle. In etwa 23 % der Fälle treten die Symptome an beiden Armen auf.
Diagnostik
Die neuralgische Schulteramyotrophie wird primär klinisch anhand der Anamnese sowie durch die körperliche und neurologische Untersuchung gestellt. Die Elektromyographie und die Neurographie liefern fast immer pathologische Werte. Oft lässt sich auch am nicht betroffenen Arm ein Befall zeigen. Eine Liquorpunktion kann ergänzend sinnvoll sein, ergibt aber häufig keinen richtungsweisenden Befund. Zusätzlich kommen bildgebende Verfahren zum Einsatz.
Radiologie
In der MRT der Schulter lässt sich vermutlich durch Zunahme der Extrazellulärflüssigkeit und des intramuskulären Blutvolumens ein Denervationsödem in den betroffen Muskeln nachweisen, meist zwei bis vier Wochen nach Erkrankungsgbeginn. Anschließend folgt eine Muskelatrophie, teilweise mit fettiger Infiltration. Bei intravenöser Kontrastmittelgabe kommt es in der Regel zu einem Enhancement der ödematösen denervierten Muskulatur.
Differentialdiagnosen
Die Beschwerden der neuralgischen Schulteramyotrophie werden häufig einem HWS-Syndrom oder degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule zugeschrieben. Aufgrund der asymmetrischen Klinik ist auch an eine multifokale motorische Neuropathie zu denken. Wegweisend ist hier die Bestimmung von Anti-GM1-Antikörpern. Radikuläre Syndrome kommen aufgrund des uncharakteristischen Verteilungsmusters der Lähmungen nicht in Frage.
siehe auch: Denervationssyndrom der Schulter
Therapie
Die frühzeitige Lagerung in Abduktion, in Verbindung mit der Verordnung von Kortikosteroiden, Schmerzmitteln (v.a. Gabapentin, Carbamazepin und Amitriptylin), lokaler Wärmeanwendung und Bestrahlungsbehandlungen, erscheint am erfolgsversprechenden. Bei tolerablen Schmerzen sollte eine Krankengymnastik mit passiven und aktiven Bewegungsübungen durchgeführt werden. Auch ohne Therapie heilt die Erkrankung in etwa 3/4 der Fälle innerhalb von zwei Jahren aus.
Prognose
Rezidivierende Attacken treten bei bis zu 25 % der Patienten auf.
Literatur
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