Zementreaktion
Synonyme: Knochenzementreaktion, Palacos-Reaktion
Englisch: bone cement implantation syndrome, BCIS
Definition
Die Zementreaktion ist eine akute perioperative Komplikation bei der Nutzung von Knochenzement. Sie äußert sich durch Hypoxämie, arterielle Hypotonie und Herzrhythmusstörungen. Selten kann es auch zu schweren Verläufen mit fulminantem Rechtsherzversagen bis hin zum Kreislaufstillstand kommen. Die Reaktion tritt typischerweise unmittelbar nach der Zementierung oder Implantation einer Prothese auf.
Epidemiologie
Die Inzidenz hängt vom operativen Verfahren und der Patientengruppe ab. Bei zementierten Hemiendoprothesen der Hüfte wurde eine Gesamtinzidenz von rund 28 % beschrieben. Die 30-Tages-Mortalität steigt mit dem Schweregrad der Reaktion deutlich an. Besonders gefährdet sind ältere und multimorbide Patienten.
Klassifikation
Die Zementreaktion wird in drei klinische Schweregrade eingeteilt:
- Grad 1: moderate Hypoxie (SpO₂ < 94 %) oder moderate Hypotonie (Abfall des systolischen Blutdrucks um > 20 %)
- Grad 2: schwere Hypoxie (SpO₂ < 88 %) oder schwere Hypotonie (Abfall des systolischen Blutdrucks um > 40 %) oder unerwarteter Bewusstseinsverlust
- Grad 3: Kreislaufversagen mit Notwendigkeit einer kardiopulmonalen Reanimation (CPR)
Ätiologie
Die Genese ist multifaktoriell und nicht vollständig geklärt. Als Schlüsselmechanismus gilt die Einschwemmung von Fett, Knochenmark, Zementpartikeln oder Luft in die venöse Zirkulation während der Zementierung. Zudem wird die Beteiligung freigesetzter vasoaktiver und inflammatorischer Mediatoren diskutiert.
Pathogenese
Die Pathophysiologie der Zementreaktion ist multifaktoriell und nicht vollständig geklärt. Bei der Zementierung steigt der intramedulläre Druck stark an. Dadurch gelangen Emboli aus Knochenmark, Fett, Blutkoageln, Luft oder Zement in den venösen Kreislauf. Diese Emboli verlegen die pulmonale Strombahn, erhöhen den pulmonalen Gefäßwiderstand und führen zu einer akuten Druckbelastung des rechten Ventrikels bis hin zum Rechtsherzversagen.
siehe auch: Zementembolie
Weitere Mechanismen können das Geschehen verstärken. Die sogenannte Mediatorentheorie geht von einer anaphylaktoiden Reaktion aus, da intraoperativ erhöhte Histaminspiegel beobachtet wurden. Die Freisetzung weiterer vasoaktiver Substanzen (z.B. Endothelin-1, Thromboxan A₂ und Serotonin) kann die Vasodilatation, Bronchokonstriktion und systemische Instabilität verstärken. Auch eine Aktivierung des Komplementsystems mit Anstieg von C3a und C5a wurde beschrieben, deren vasodilatorische und proinflammatorische Wirkung die pulmonale Hypotonie zusätzlich begünstigen kann. Allerdings ist die Studienlage bisher (2025) heterogen. Antihistaminika zeigen keinen protektiven Effekt.
Die früher diskutierte Rolle des Methylmethacrylat-(MMA)-Monomers (Hauptbestandteil des Knochenzements) gilt heute als untergeordnet. Zwar zeigt MMA in vitro einen vasodilatierenden Effekt, allerdings werden intraoperativ beim Menschen keine Konzentrationen erreicht, die eine klinisch relevante hämodynamische Reaktion auslösen können.
Symptome
Die Zementreaktion tritt meist unmittelbar nach Einbringen des Knochenzements, Einführen der Prothese oder Öffnen der Blutsperre auf. Die Symptomatik reicht von milden Veränderungen bis zum fulminanten hämodynamischen Kollaps.
Typische Symptome sind:
- akute Hypoxämie
- Abfall des systolischen Blutdrucks
- Herzrhythmusstörungen
- Anstieg des pulmonalarteriellen Drucks
- Vigilanzminderung oder Bewusstlosigkeit (z.B. bei Operation in Spinalanästhesie)
- Kreislaufstillstand bei schweren Verläufen
Risikofaktoren
Zu den wesentlichen Risikofaktoren zählen:
- hohes Alter
- ASA-Klassifikation III/IV
- männliches Geschlecht
- COPD und andere pulmonale Erkrankungen
- pulmonale Hypertonie
- Osteoporose, Knochenmetastasen
- pathologische oder intertrochantäre Frakturen
- Diuretikatherapie
- Erstimplantation einer zementierten Prothese
Diagnostik
Die Diagnose basiert auf dem zeitlichen Zusammenhang zur Zementierung und dem klinischen Bild. Wichtige diagnostische Elemente sind:
- kontinuierliches Monitoring (EKG, SpO₂, nicht-invasive oder invasive Blutdruckmessung)
- Kapnometrie: plötzlicher Abfall des endtidalen CO₂ als mögliches Zeichen einer massiven Embolie
- arterielle Blutgasanalyse (Hypoxämie, Hyperkapnie)
- transthorakale oder transösophageale Echokardiographie: Dilatation des rechten Ventrikels, ggf. Nachweis eingeschwemmter Emboli („bubbles“)
- Ausschluss anderer Ursachen wie Pneumothorax, Myokardinfarkt oder Blutung
Prävention
Präventive Maßnahmen erfolgen interdisziplinär.
Anästhesiologie
Anästhesiologisch steht die Optimierung der Hämodynamik im Vordergrund, um die hämodynamische Reserve des Patienten vor der Zementierung zu verbessern. Eine ausreichende Volumentherapie vor Einbringen des Zements stabilisiert die Vorlast und reduziert das Risiko eines akuten Rechtsherzversagens. Herzrhythmusstörungen (insbesondere Bradykardien) müssen verhindert werden. Unmittelbar vor der Zementeinbringung wird die FiO₂ auf 1,0 erhöht, um eine maximale Oxygenierung sicherzustellen. Bei Risikopatienten empfiehlt sich zudem eine invasive arterielle Blutdruckmessung, um rasche hämodynamische Veränderungen zuverlässig zu erkennen. Die Vorbereitung von Vasopressoren ermöglicht ein sofortiges Eingreifen bei hypotensiven Episoden. Entscheidend für ein gutes perioperatives Management ist darüber hinaus eine kontinuierliche Kommunikation zwischen Chirurgie und Anästhesie, insbesondere im Moment der Zementierung oder Prothesenimplantation.
Chirurgie
Chirurgisch zielt die Prävention vor allem darauf ab, die Menge an embolisierbarem Material zu reduzieren und den intramedullären Druck kontrolliert zu halten. Eine gründliche Jet-Lavage entfernt Fett- und Markanteile aus dem Markraum und senkt so die Embolielast. Die Nutzung eines Markraumsperrers hilft, den Druckanstieg während der Zementierung zu begrenzen. Der Knochenzement wird idealerweise retrograd eingebracht, wodurch ein gleichmäßigeres Auffüllen des Markraums bei geringerer Druckspitze erreicht wird. Die Mischung des Zements unter Vakuum reduziert nachweislich die Menge an eingeschlossenen Luft- und Fettbläschen und senkt die Rate embolischer Ereignisse deutlich. Schließlich trägt ein kontrollierter Druck bei der Protheseninsertion dazu bei, abrupte Druckspitzen zu vermeiden, die massive Embolisationen begünstigen können.
Therapie
Die Therapie ist rein supportiv und orientiert sich an der Behandlung eines akuten Rechtsherzversagens.
Wesentliche Maßnahmen sind:
- Sicherstellung der Oxygenierung (FiO₂ 1,0)
- Stabilisierung des Blutdrucks (z.B. mit Noradrenalin)
- vorsichtige Volumentherapie
- inotrope Unterstützung (z.B. Dobutamin oder Adrenalin)
- Optimierung von Elektrolyt-, Volumen- und Säure-Basen-Gleichgewicht
- inhalatives NO oder Prostaglandinderivate bei ausgeprägter pulmonaler Vasokonstriktion
- leitliniengerechte Reanimation bei Kreislaufstillstand
Abgrenzung
Die Zementreaktion ist von der Zementembolie abzugrenzen, obwohl beide Ereignisse im Zusammenhang mit Knochenzement auftreten können und die Begriffe in der klinischen Praxis teils synonym verwendet werden.
Die Zementembolie bezeichnet den mechanischen intravasalen Eintritt von ausgehärtetem oder halbfestem Knochenzement, der als fester Embolus in die venöse Zirkulation gelangt. Sie tritt vor allem bei Wirbelsäulenoperationen wie Kyphoplastie oder Vertebroplastie auf und führt häufig zu segmentalen oder zentralen Lungenembolien.
Im Gegensatz dazu ist die Zementreaktion ein akutes hämodynamisches Syndrom mit Hypoxie, Hypotonie und Rechtsherzbelastung.
Prognose
Die Prognose hängt stark vom Schweregrad und der kardiopulmonalen Reserve des Patienten ab. Grad-1-Reaktionen verlaufen häufig mild, während Grad-2- und Grad-3-Reaktionen mit einer deutlich erhöhten Mortalität einhergehen. Eine sorgfältige interdisziplinäre Vorbereitung und ein strukturiertes perioperatives Management verbessern das Outcome wesentlich.
Literatur
- Gaik et al.: Knochenzementreaktion - Pathophysiologie, Diagnostik und Behandlungsoptionen. Anästh Intensivmed 2019
- Striebel, H.-W.: Die Anästhesie. 5. Auflage, Thieme Verlag 2019. Kapitel 73.2.