Posturales Tachykardiesyndrom
Synonym: posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom
Definition
Als posturales Tachykardiesyndrom, kurz POTS, wird das Auftreten eines inadäquaten Herzfrequenzanstiegs ohne pathologischen Blutdruckabfall in Orthostase über mind. 3 Monate bezeichnet. Er beträgt bei Erwachsenen ≥ 30 Schläge/min, bei Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren ≥ 40 Schläge/min und wird von lageabhängigen Symptomen wie z.B. Schwindel und Palpitationen begleitet.
Hintergrund
Derzeit (2024) gibt es noch keine standardisierten Diagnosekriterien für das POTS, die teils unklar formulierten Diagnosekriterien lassen oft keine ausreichende Abgrenzung von anderen Krankheitsbildern zu.[1]
Epidemiologie
Die Erkrankung betrifft vor allem Frauen, der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 15. und dem 50. Lebensjahr. Die Prävalenz liegt schätzungsweise bei etwa 0,2 %. Systematisch erhobene epidemiologische Daten fehlen bislang (Stand 2024).
Ätiologie
Die genaue Ätiologie des posturalen Tachykardiesyndroms ist komplex und derzeit (2024) nicht vollständig geklärt. Man unterscheidet ein primäres bzw. idiopathisches POTS, das eigenständig auftritt und ein sekundäres POTS, das durch andere Grunderkrankungen ausgelöst wird. Die Zuordnung zu einer der beiden Formen wird wesentlich durch die Genauigkeit bzw. den Umfang der Anamnese und Diagnostik bestimmt.
Primäres POTS
Beim primären POTS handelt es sich am ehesten um eine Fehlregulation des autonomen Nervensystems, insbesondere eine unzureichende periphere Vasokonstriktion beim Aufstehen, was zu einem kompensatorischen Anstieg der Herzfrequenz führt. Viele Patienten mit POTS weisen eine Hypovolämie auf, was zur Symptomatik beitragen kann. In etwa 50 % der Fälle soll eine Small-Fiber-Neuropathie vorliegen. Sie betrifft die Nervenfasern, die u.a. für die Regulation der peripheren Durchblutung und der Herzfrequenzkontrolle wichtig sind. Eine Reduktion der intraepidermalen Nervenfaserdichte (IENFD) wurde bei etwa 38-57 % der Patienten festgestellt.
Es gibt Hinweise darauf, dass Autoimmunprozesse eine Rolle spielen könnten. Bei einigen Patienten wurden Autoantikörper gegen Adrenozeptoren und Muskarinrezeptoren gefunden. Das gehäufte Auftreten eines POTS nach Infektionen als möglicher Trigger unterstützt diese Hypothese.
Genetische Faktoren können das Risiko für die Entwicklung eines POTS erhöhen.
Sekundäres POTS
Erkrankungen, bei denen ein sekundäres POTS auftreten kann, sind zum Beispiel:
- Autoimmunerkrankungen: Sjögren-Syndrom, Hashimoto-Thyreoiditis, Antiphospholipidsyndrom (APS), Lupus erythematodes, Autoimmuneuropathien, Autoimmune autonome Gangliopathie (AAG)
- Immundefekte
- Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS)
- Neurologische Erkankungen: ME/CFS, Multiple Sklerose, Migräne
- Stoffwechselerkrankungen: Diabetes mellitus, Morbus Fabry, Schilddrüsenerkrankungen
- Bindegewebserkrankungen: Ehlers-Danlos-Syndrom, Marfan-Syndrom
- Gastroenterologische Erkankungen: Gastroparese, Zöliakie, Nährstoffmangel
- Infektionen: Epstein-Barr-Virus (EBV), Borreliose, COVID-19
- Sonstige: Paraneoplastische Syndrome, Chiari-Malformation
Darüber hinaus können Medikamente ein sekundäres POTS auslösen.
Pathophysiologie
Die genauen pathophysiologischen Prozesse, die einem POTS zugrunde liegen, sind noch nicht vollständig geklärt. Es kommt zu einer Überaktivität des sympathischen Nervensystems, die zu einer erhöhten Herzfrequenz führt. Begleitend kann eine verminderte Aktivität des parasympathischen Nervensystems die Kontrolle über die Herzfrequenz weiter beeinträchtigen.
Zusätzliche kontribuierende Faktoren sind möglicherweise eine vaskuläre bzw. endotheliale Dysfunktion, ein vermindertes Blutvolumen und überaktive Mastzellen.
Symptome
Die Symptomatik ist variabel, wobei in lageabhängige und lageunabhängige Symptome unterschieden werden kann. Hinlegen bessert die Symptomatik.
Typisch ist eine orthostatische Intoleranz mit Schwindel, Benommenheit, Palpitationen, Tremor und Schwäche. Zusätzlich können Belastungsintoleranz, Dyspnoe, Hyperventilation, Schwitzen, Brustschmerzen, Sehstörungen, Erschöpfung, Übelkeit, Kopfschmerzen und Angstgefühle auftreten. Bei zerebraler Minderdurchblutung sind kognitive Beeinträchtigungen ("brain fog"), Präsynkopen und im Extremfall kurze Bewusstlosigkeit möglich.
Lageunabhängige Symptome wie Magen-Darm-Beschwerden, Muskelschmerzen, neuropathische Schmerzen, Sensibilitätsstörungen oder Schlafstörungen kommen in wechselnder Häufigkeit vor.
Diagnose
Da hauptsächlich junge, auf den ersten Blick fitte Patientinnen betroffen sind und die Symptomatik variiert, ist die Diagnostik anspruchsvoll. Im Durchschnitt vergehen 24 Monate bis zur Diagnosestellung. Wegweisend sind die anamnestischen Angaben.
Die klinische Untersuchung umfasst die Durchführung eines 10 Minuten dauernden, aktiven (Schellong-Test) oder passiven Stehtests (NASA-LEAN-Test). Bei Bedarf ist zusätzlich ein Kipptischversuch sinnvoll – vor allem bei rezidivierenden und unklaren Synkopen oder bei Verdacht auf eine zugrundeliegende autonome Neuropathie.
Um Differentialdiagnosen auszuschließen, sind meist weitere Untersuchungen notwendig. Dazu zählen z.B.
Diagnosekriterien
Für die Diagnose des POTS wurden folgende klinischen Kriterien vorgeschlagen:
- Pathologischer, anhaltender Herzfrequenzanstieg um ≥ 30 Schläge/min (bei Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren ≥ 40 Schläge/min) und/oder eine absolute Herzfrequenz ≥ 120 Schläge/min (unter Ausschluss einer inadäquaten Sinustachykardie) während einer 10-minütigen Stehzeit.
- Keine orthostatische Hypotonie (Blutdruckabfall mehr als 20 mmHg systolisch bzw 10 mmHg diastolisch innerhalb von 3 Minuten Stehzeit)
- Typische Symptome der orthostatischen Intoleranz (u.a. Schwindel, Herzstolpern, Schwäche), die seit mehr als 3 Monaten anhalten und sich im Liegen bessern
Differentialdiagnosen
Mögliche Diffferentialdiagnosen sind u.a.:
Therapie
Bei sekundärem POTS wird die Grunderkrankung therapiert. Die Patienten sollte darüber aufgeklärt werden, dass die Erkrankung im Alltag zwar stark beeinträchtigend sein kann, aber nicht lebensbedrohlich ist und dass die Befolgung allgemeiner Verhaltensmaßnahmen meist eine deutliche Verbesserung der Symptomatik mit sich bringt.
Basistherapie
Die Basistherapie umfasst zahlreiche nicht-medikamentöse Maßnahmen. Diese müssen konsequent und über eine längere Dauer durchgeführt werden, da beispielsweise die Wirkung von Muskel- und Kreislauftraining oft erst nach Wochen einsetzt.
- Erhöhte Flüssigkeitszufuhr: Tägliche Aufnahme von 2-3 Litern Wasser.
- Salzreiche Diät: Erhöhung der Salzzufuhr zur Unterstützung der Blutvolumenregulation (5 bis 12 g NaCl am Tag unter klinischer Kontrolle)
- Kompressionskleidung (Kompressionsstrümpfe bis zur Leiste Klasse II, Strumpfhosen Klasse II, Abdominalbinder) zur Verbesserung des venösen Rückflusses und Reduktion des abdominellen Poolings
- Schlafhygiene
- Vermeidung von Triggern, z.B. Hitze, übermäßige Bettruhe und körperliche Schonung, schnelles Aufstehen aus dem Sitzen und Liegen, große Mahlzeiten, langes ruhiges Stehen
- Erlernen von Gegenmanövern, um Stürze zu vermeiden, z.B. Beinkreuzen oder Muskelanspannung im Stehen
- Stehtraining
- Individuell angepasste Kardio- und Muskelübungen. Dabei sollte die individuelle physische Belastungsgrenze/aerobe Schwelle nicht überschritten werden. Das Training erfolgt idealerweise 4-5 mal pro Woche in Form von kurzen Belastungseinheiten, nicht als langes Training mit geringer Häufigkeit.
- Nutzen von Kühlkleidung und Kühlbandagen im Sommer
- Wechselduschen (Beine/Arme)
- Erlernen einer tiefen Bauchatmung mit etwa sechs Atemzügen pro Minute
- Entspannungstechniken zur Reduktion des Sympathikotonus, Einplanen bewusster Pausen und Entspannungszeiten
Medikamentöse Therapie
Reichen nicht-medikamentöse Maßnahmen nicht aus, können fallweise Medikamente eingesetzt werden. Dabei handelt es sich meist um einen Off-Label-Use. Derzeit (2024) sind keine evidenzbasierten Richtlinien für die medikamentöse Therapie des POTS verfügbar.
Es wird mit geringen Dosierungen begonnen, die man an die individuellen Symptome anpasst und nur langsam steigert. Treten Nebenwirkungen auf, wird auf die letzte Dosis reduziert, die gut vertragen wurde. Gegebenenfalls sind Kombinationen mit einer anderen Medikamentengruppe möglich.
- Betablocker: Zur Reduktion der Herzfrequenz (Propranolol, Nebivolol)
- Ivabradin: Zur spezifischen Reduktion der Herzfrequenz ohne Einfluss auf den Blutdruck
- Fludrocortison: Zur Erhöhung des Blutvolumens
- Midodrin: Zur Verbesserung der Vasokonstriktion
Weitere mögliche Arzneistoffe sind Clonidin oder Pyridostigmin. Assoziierte Schmerzen können mit Analgetika behandelt werden. Besteht ein Mastzellaktivierungssyndrom, sind Antihistaminika indiziert.
Prognose
Die Prognose des POTS variiert interindividuell stark. Einige Patienten erleben im Laufe der Zeit eine signifikante Verbesserung ihrer Symptome, während andere einen langfristige Krankheitsverlauf haben.
Literatur
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Quellen
- ↑ Olshansky B, Cannom D, Fedorowski A, Stewart J, Gibbons C, Sutton R, Shen WK, Muldowney J, Chung TH, Feigofsky S, Nayak H, Calkins H, Benditt DG. Postural Orthostatic Tachycardia Syndrome (POTS): A critical assessment. Prog Cardiovasc Dis. 2020 May-Jun;63(3):263-270. doi: 10.1016/j.pcad.2020.03.010. Epub 2020 Mar 25. PMID: 32222376; PMCID: PMC9012474.