Zerebrale arteriovenöse Malformation
Synonyme: zerebrales arteriovenöses Angiom, zerebrales AV-Angiom, kraniale arteriovenöse Malformation
Englisch: cerebral arteriovenous malformation, brain arteriovenous malformation, BAVM
Definition
Zerebrale arteriovenöse Malformationen, kurz cAVM, sind kongenitale Gefäßfehlbildungen des Gehirns. Es handelt sich um einen Gefäßkonvolut aus geschlängelten, dünnwandigen Gefäßen mit pathologischem Shunt vom arteriellen in das venöse System ohne ein zwischengeschaltetes Kapillarbett.
Epidemiologie
AVMs treten fast immer sporadisch und solitär auf. Eine zerebrale AVM ist die häufigste zerebrale Gefäßmalformation mit AV-Shunt. Die Prävalenz liegt bei 10 bis 18 Fällen pro 100.000. Der Altersgipfel befindet sich im 3ten und 4ten Lebensjahrzehnt. 25 % der Patienten mit einer AVM werden bereits im Alter von 15 Jahren symptomatisch. Bei Kindern unter 15 Jahren stellen AVM die häufigste Ursache einer spontanen intrakraniellen Blutung (ICB) dar. Es gibt keine Geschlechterpräferenz.
Ätiologie
Bis auf sehr seltene Ausnahmen sind AVMs angeborene Läsionen. Sie entstehen zwischen der 4. und 8. Schwangerschaftswoche aus direkten Verbindungen zwischen arteriellen und venösen Gefäßen eines primitiven Gefäßplexus aufgrund einer gestörten Angiogenese.
Es wird angenommen, dass diese Entstehung durch genetische Prädisposition und extrinsische Faktoren begünstigt wird. Endothelzellen in zerebralen AVMs exprimieren GLUT1, Matrixmetalloproteinasen und proangiogene Wachstumsfaktoren wie VEGF. Die Folgen sind eine gestörte Funktion und Integrität der nachfolgenden Gefäßstrombahn. Der Notch4-Signalweg scheint eine wichtige Rolle zu spielen.
Multiple cAVMs entstehen fast immer im Rahmen eines Syndroms:
- hereditäre hämorrhagische Teleangiektasie (Osler-Weber-Rendu-Syndrom): Hereditäre Mutationen u.a. von ENG, ACVRL1 oder SMAD4. Epistaxis, mukokutane Teleangiektasien und AVMs
- Kapilläre Fehlbildung-arteriovenöse Fehlbildung (CM-AVM): Heterozygote Mutationen im RASA1-Gen. Multiple kapilläre Malformationen, arteriovenöse Malformationen und arteriovenöse Fisteln.
- zerebrofaziale arteriovenöse metamere Syndrome (CAMS): Somatische Mutationen der Neuralleiste führen zu spezifischen Kombinationen aus fazialen und intrakraniellen Gefäßfehlbildungen. Beipielsweise ist das Wyburn-Mason-Syndrom durch AVMs im Gehirn und in der Retina gekennzeichnet.
Pathologie
Lokalisation
Die meisten AVM befinden sich im Frontal-, Parietal- oder Temporallappen. Über 85 % der AVM liegen supratentoriell, davon 10 % im Bereich der Stammganglien. Die meisten cAVM sind intraparenchymatös lokalisiert und werden dann auch als piale AVM bezeichnet. Es existieren zudem gemischte piale-durale Malformationen.
Anzahl
Die meisten cAVM treten solitär auf. In unter 2 % der Fälle finden sich multiple AVMs. In diesem Fall sind sie meist mit vaskulären neurokutanen Syndromen assoziiert.
Makroskopie
AVMs sind kompakte ovaläre oder keilförmige Raumforderungen aus verschlungenen Gefäßen. Ihre größte Oberfläche liegt meist am bzw. in der Nähe des Kortex, während die Spitze in Richtung der Hirnventrikel zeigt. An der kortikalen Oberfläche finden sich oft erweiterte drainierende Venen. In den meisten Fällen ist der Nidus 2 bis 6 cm groß. Mikro-AVMs sind ≤ 1 cm groß und oft assoziiert mit einer HHT.
Das umgebende Gehirn ist häufig abnormal: Es finden sich posthämorrhagische Residuen wie Gliosen und sekundäre ischämische Veränderungen sowie eine Siderose der angrenzenden Pia.
Mikroskopie
In das Zentrum der AVM, auch als Nidus bezeichnet, münden ein oder mehrere zuführende erweiterte Arterien, die man Feeder nennt. Drainiert wird das Blut über abführende erweiterte Venen. Die Venen stehen unter hohem Druck und führen arterielles Blut. Oft sind deshalb Venenerweiterungen, venöse Aneurysmen oder Stenosen zu finden.
Der Nidus kann ein heterogenes Bild mit Wandunregelmäßigkeiten, Gefäßerweiterungen und Gefäßstenosen, thrombosierten Anteilen mit Kalkeinlagerung und Fibrosen aufweisen. Innerhalb eines AVM-Nidus gibt es keine Kapillaren und kein normales Hirnparenchym. Gliotische Hirnareale sind jedoch möglich. Mikro-AVMs zeigen oft normal große Feeder und drainierende Venen.
Bei starkem arteriellen Shuntvolumen kann es durch die AVM zu einer Minderperfusion von benachbartem Gewebe kommen (Steal-Effekt).
Klinik
Arteriovenöse Malformationen können zeitlebens asymptomatisch bleiben, insbesondere kleine AVMs bei vaskulären neurokutanen Syndromen. Häufig werden sie jedoch zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr klinisch manifest. Kopfschmerzen aufgrund einer intrakraniellen Blutung treten bei ca. 50 bis 60 % der Patienten auf. Epileptische Anfälle und fokal-neurologische Defizite sind bei je 25 % der Patienten das erste Symptom. Je nach Lokalisation und Ausmaß der Blutung treten weitere Symptome auf (z.B. Vigilanzminderung).
Seltene Symptome einer cAVM sind:
- rezidivierende Kopfschmerzen vom Migränetyp
- pulssynchrones Ohrgeräusch
- Symptome eines Pseudotumor cerebri (z.B. Stauungspapille) durch venöse Kongestion
Bei den Blutungen handelt es sich häufig um intrazerebrale Blutungen (ICB). Seltener finden sich Subarachnoidalblutungen (SAB) oder intraventrikuläre Blutungen. Die Lokalisation der ICB ist in der Regel atypisch, d.h. sie tritt nicht in den Basalganglien oder im Thalamus, sondern z.B. in der Nähe des Kortex auf.
Das jährliche Blutungsrisiko liegt bei ca. 3 %, variiert jedoch je nach klinischen und anatomischen Merkmalen zwischen 1 und 33 %. Risikofaktoren für eine Blutung sind:
- Hinweise auf frühere Blutungen: Das Wiederholungsrisiko liegt bei 25 % innerhalb von 5 Jahren und ist insbesondere im ersten Jahr stark erhöht (18 %).
- Lokalisation tiefliegend im Großhirn oder im Hirnstamm
- Drainage über tiefe Venen
- Aneurysmen der zuführenden Arterien oder intranidales Aneurysma
- Stenose oder Thrombose einer oder mehrerer ableitender Venen
Spontane Rückbildungen von cAVM kommen in ca. 1 % der Fälle vor. Obliterierte AVMs entstehen meist nach einer Blutung und weisen eine venöse Stase und Thrombose auf.
Diagnostik
Bei ungefähr der Hälfte der Patienten ist ein pulsierendes Gefäßgeräusch über der Kalotte auskultierbar. Eine transkranielle Doppler- bzw. Farbduplexsonografie kann eine erhöhte Flussgeschwindigkeit in den zuführenden Hirnarterien nachweisen.
Computertomographie
In der Computertomographie (CT), meist durchgeführt im Rahmen einer Notfalldiagnostik, kann die AVM durch zahlreiche, leicht hyperdense, geschlängelten Gefäße auffallen. Verkalkungen sind häufig. Nach Kontrastmittelgabe zeigen Feeder, Nidus und drainierende Venen ein intensives, uniformes Enhancement. Oft wird zusätzlich eine CT-Angiographie (CTA) durchgeführt.
Magnetresonanztomographie
In der Magnetresonanztomographie (MRT) sind die Befunde abhängig von der Hämodynamik sowie dem Vorhandensein und dem Alter einer Blutung. Meist handelt es sich um High-Flow-Läsionen. Entsprechend findet sich in T1w und T2w eine dicht gepackte Masse oder ein Honigwabenmuster aus Flow Voids. Falls Hirnparenchym in der AVM vorkommt, ist es gliotisch und hyperintens in T2w und FLAIR. Sofern kein akutes Hämatom vorliegt, zeigt sich meist kein signifikanter raumfordernder Effekt im angrenzenden Gehirn. Das Kontrastmittel-Enhancement ist variabel und abhängig von Flussrate und -richtung. Drainierende Venen zeigen eine starke, gleichmäßige Kontrastmittelanreicherung. Hämorrhagische Residuen fallen in der T2*-Sequenz in Form von Foci mit Blooming-Artefakten in und perifokal der AVM sowie als Siderose in der angrenzenden Pia auf. Häufig wird zusätzlich eine MR-Angiographie (MRA) durchgeführt.
Angiographie
Vor Behandlung ist die Durchführung einer digitalen Subtraktionsangiographie (DSA) indiziert. Sie dient der präzisen angiologischen, läsionsmorphologischen und hämodynamischen Einschätzung und ist u.a. wichtig zur Beurteilung der Prognose und zur Festlegung der Therapiemaßnahmen.
Die pialen Feeder sind oft vergrößert und geschlängelt. Je nach Hämodynamik finden sich Dilatationen, Endothelverdickungen, Stenosen, Thrombosen und Okklusionen. In 10 bis 15 % kommt ein Fluss-induziertes, gestieltes Aneurysma vor. 25 % der oberflächlichen, großen oder diffusen AVMs haben auch transdurale Zuflüsse. Der Nidus fällt durch dicht gepackte abnormale Arterien und Venen ohne Kapillarbett auf. Bis zu 50 % enthalten mindestens ein aneurysmatisch erweitertes Gefäß ("intranidales Aneurysma").
Das fehlende Kapillarbett führt zu einer Kontrastmittelfüllung der drainierenden Venen bereits in der mitttleren bis späten arteriellen Phase. Die Venen sind meist vergrößert und gewunden. Variköse Dilatationen können einen lokalen raumfordernden Effekt auf den angrenzenden Kortex ausüben. Stenosen der ableitenden Venen steigern den intranidalen Druck und erhöhen das Risiko einer Blutung. Die selektive Injektion aller zuführenden Arterien ermöglicht eine Abgrenzung des Nidus und die Detektion intranidaler Aneurysmen. Dreidimensionale Rekonstruktionen mit Shaded Surface Display oder 3D-Druckmodelle können für die chirurgische oder endovaskuläre Planung nützlich sein.
Differenzialdiagnosen
Stark vaskularisierte Neoplasien (z.B. Glioblastoma multiforme) zeigen gelegentlich eine ausgeprägte Neoangiogenese, die einer AVM ähneln kann. Jedoch vergrößern sich die meisten Glioblastome sehr schnell und enthalten zwischen den vergrößerten Gefäßen neoplastisches Gewebe.
Dicht verkalkte Neoplasien (z.B. Oligodendrogliome) können in der MRT mit Flow Voids einer AVM verwechselt werden.
Eine hämorrhagische AVM, die vollständig obliteriert ist, kann von anderen vaskulären Fehlbildungen (z.B. kavernösen Malformationen) oder einer hämorrhagischen Neoplasie nicht unterschieden werden.
Die zerebrale proliferative Angiopathie (CPA) ist eine große, diffuse Malformation mit vielen kleinen Feedern, ohne Nidus und mit normalem Hirngewebe zwischen den proliferierenden Gefäßen.
Klassifikation
...nach Spetzler und Martin
Das Klassifikationssystem nach Spetzler und Martin (1986) definiert drei Variablen, nach denen eine AVM in 5 Grade eingeteilt wird:[1]
- Größe der AVM
- venöses Drainagemuster
- neurologische Eloquenz des Areals, in dem die Gefäßfehlbildung liegt: Als eloquent werden Hypothalamus, Thalamus, Hirnstamm, Kleinhirnschenkel, sensomotorischer Kortex, Sprachareale und visueller Kortex definiert.
Dabei entspricht die Punktsumme dem Grad der AVM.
Variable | Punkte | |
---|---|---|
Größe | < 3 cm | 1 |
3 bis 6 cm | 2 | |
> 6 cm | 3 | |
Drainagemuster | nur oberflächlich | 0 |
tief | 1 | |
Eloquenz | nicht eloquent | 0 |
eloquent | 1 |
Lawton et al. erweiterten 2010 das System um die zusätzlichen Faktoren Alter, Blutung und Kompaktheit, sodass sich eine maximale Gesamtpunktzahl von 10 ergibt. Eine Operationsempfehlung geben die Autoren für einen Punktewert bis 6.[2]
...nach Pittsburgh-Skala
Während die Spetzler-Martin-Klassifikation insbesondere für die chirurgische Behandlung entwickelt wurde, ermöglicht die Pittsburgh-Skala eine Vorhersage des Erfolgs einer radiochirurgischen Behandlung.[3] Dabei wird anhand folgender Formel der sog. AVM-Score berechnet:
- AVM-Score = 0,1 x AVM-Volumen (cm3) + 0,02 x Patientenalter + 0,5 x Lokalisation
Das Volumen wird anhand von MRT-Aufnahmen unter Berücksichtigung der Formel π/6 × Breite × Länge × Höhe abgeschätzt. Bei tiefer Lokalisation (Basalganglien, Hirnstamm, Thalamus) wird der Wert 1, bei anderer Lokalisation der Wert 0 verwendet.
Anschließend lässt sich die Wahrscheinlichkeit für ein "exzellentes Outcome" nach radiochirurgischer Behandlung abschätzen, definiert durch den vollständigen Verschluss der AVM ohne neues Defizit.
AVM-Score | Wahrscheinlichkeit für exzellentes Outcome |
---|---|
≤ 1 | 89 % |
1,01 bis 1,50 | 70 % |
1,51 bis 2,00 | 64 % |
≥ 2,00 | 46 % |
Therapie
Die Behandlung einer AVM ist oft schwierig und risikoreich. Aus diesem Grund erfolgt die Therapieempfehlung immer in interdisziplinärer Absprache zwischen Neurochirurgen, Strahlentherapeuten, Neuroradiologen und Neurologen. Eine konservative Therapie ist zu erwägen, wenn die AVM einen Zufallsbefund ohne Nachweis eines erhöhten Blutungsrisikos darstellt oder wenn die Lokalisation und Ausdehnung keine Operation oder Bestrahlung ermöglicht. Zur symptomatischen Behandlung der epileptischen Anfälle kommen bei Bedarf ergänzend Antiepileptika zum Einsatz.
Zur operativen bzw. minimal-invasiven Behandlung stehen drei Verfahren jeweils alleine oder in Kombination zur Verfügung:
- katheterbasierte, endovaskuläre Embolisation zum kompletten oder partiellen Verschluss des Nidus sowie als präoperative Maßnahme bzw. als Kombinationstherapie zur Strahlentherapie.
- operative mikroneurochirurgische Resektion mit Unterbindung aller Feeder und Resektion der AVM.
- Radiochirurgie (stereotaktische Bestrahlung mittels Linearbeschleuniger oder Gamma-Knife) v.a. bei AVM der Stammganglien und des Hirnstamms.
Ziel dieser Verfahren ist der vollständige Verschluss des Nidus, um das Blutungs- und Rezidivrisiko zu senken.
Prognose
Entscheidend für die Prognose bei einer AVM ist das Blutungsrisiko. Die Mortalitätsrate pro Blutungsereignis liegt bei 10 %. Ungefähr ein Drittel der betroffenen Patienten weisen ein bleibendes neurologisches Defizit auf. Die 10-Jahres-Mortalitätsrate liegt ohne Therapie bei 23 %.
Literatur
- Neurologie, Hacke, Springer Verlag, 14. Auflage (2015), Kapitel 8.1.
Quellen
- ↑ Spetzler RF, Martin NA A proposed grading system for arteriovenous malformations, J Neurosurg. 1986 Oct;65(4):476-83, abgerufen am 28.10.2019
- ↑ Lawton MT et al. A supplementary grading scale for selecting patients with brain arteriovenous malformations for surgery, Neurosurgery. 2010 Apr;66(4):702-13; abgerufen am 28.10.2019
- ↑ Wegner RE et al. A modified radiosurgery-based arteriovenous malformation grading scale and its correlation with outcomes, Int J Radiat Oncol Biol Phys. 2011 Mar 15;79(4):1147-50, abgerufen am 28.10.2019
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